23. Jahrgang | Nummer 22 | 26. Oktober 2020

Ratschläge aus München

von Hubert Thielicke

Mit schöner Regelmäßigkeit legt die Münchner Sicherheitskonferenz (Munich Security Conference – MSC) zu ihren jährlichen Tagungen einen Munich Security Report vor.

In diesem Jahr ein Novum: Anfang Oktober erschien unter dem Titel „Zeitenwende – Wendezeiten“ eine Sonderausgabe dieses Berichts. Und zwar zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.

„Zeitenwende“ bedeutet für die Autoren, dass sich bisherige außenpolitische Gewissheiten der Bundesrepublik auflösen. Das neue Umfeld sei gekennzeichnet durch eine Schwächung der bisherigen internationalen Ordnung, den Aufstieg Chinas, eine Reorientierung der USA angesichts schwindender Machtpositionen, aber auch durch Klimawandel und raschen technologischen Umbruch. Diese Zeitenwende erfordere nun ihrerseits „Wendezeiten“ in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Wir erinnern uns: Bereits 2014 hatten Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen auf der MSC gefordert, Deutschland müsse international „mehr Verantwortung“ übernehmen und sich „früher, entschiedener und substanzieller“ engagieren – nachmals als „Münchner Konsens“ apostrophiert, der allerdings kein deutschlandweiter war noch ist. Diese Linie soll nun offensichtlich noch stärker umgesetzt werden. Das zeigte nicht nur das 2016 veröffentlichte „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr“. Das neue MSC-Papier betont zudem, dass Deutschland inzwischen weithin aktiv sei – von einer Führungsrolle im Fall des russisch-ukrainischen Konflikts über eine Steigerung der Verteidigungsausgaben um 40 Prozent seit 2014 bis zur Präsenz militärischer Kräfte an der NATO-Ostflanke.

Doch zugleich verweisen die Autoren auf die Kritik seitens Verbündeter, dass sich Deutschland die Hände nicht schmutzig machen wolle, in Syrien nicht an Luftschlägen teilgenommen habe, in Mali nur Trainingsmissionen durchführe und dergleichen mehr. Berlin bleibe jedenfalls hinter seinen Möglichkeiten zurück. Die Welt habe sich seit 2014 verändert, man müsse mehr tun.

Natürlich dürfe außenpolitische Führungsverantwortung „nicht nur auf militärische Beiträge beschränkt“ werden, sondern müsse auch eine aktive Diplomatie einschließen – in Gestalt internationaler Initiativen, von Beiträgen zu Friedensmissionen, der Unterstützung internationaler Organisationen und so weiter. Immerhin habe sich der Etat des Auswärtigen Amtes im zurückliegenden Jahrzehnt fast verdoppelt. Ein Blick in den Bundeshaushalt 2021 zeigt allerdings, dass es hier einen Stillstand zu geben scheint. Im Vergleich zum Vorjahr sollen sich die Ausgaben des AA für 2021 verringern.

Demgegenüber steigen die Verteidigungsausgaben weiterhin. Das ist auch ganz im Sinne der Verfasser des MSC-Berichts. Denn die Verteidigungspolitik gelte gemeinhin als der Bereich deutscher Außenpolitik, bei dem es den „größten Nachholbedarf“ gebe, raunt es aus den Zeilen des Reports. Auch bei der kollektiven Verteidigung der NATO sehe es „düster“ aus. Wären die NATO-Europäer auf sich allein gestellt, sähen sie sich „massiven Fähigkeitslücken“ gegenüber. Würden die USA die NATO verlassen, müssten die europäischen Bündnisstaaten gewaltige Ausgaben tätigen, um über Streitkräfte zu verfügen, „die in der Lage wären, in einem begrenzten regionalen Krieg gegen einen ebenbürtigen Gegner zu bestehen“.

Versteht sich, dass mit einem „ebenbürtigen Gegner“ Russland gemeint ist, bis zu dessen westlichen Grenzen sich die NATO in den letzten Jahrzehnten vorgeschoben hat.

Aber das MSC-Papier geht noch weiter: Die „deutsche Nonchalance“ im Umgang mit der transatlantischen Lastenteilung müsse stutzig machen, der Ernst der Lage sei vielen Entscheidungsträgern immer noch nicht bewusst. Eine Weigerung, zusätzliche Lasten zu übernehmen, gefährde Deutschlands Sicherheit. Die Steigerung der deutschen Verteidigungsausgaben sei doch kein Gefallen, den man Präsident Trump tue, sondern „eine Investition in die eigene Sicherheit und die seiner Verbündeten“.

Und schon ist man beim Ziel, die Militärausgaben ganz rasch auf zwei Prozent des BIP zu erhöhen. Seitenweise sind die Autoren um die zugkräftige Begründung einer solchen Steigerung bemüht: Man müsse den Forderungen der USA Genüge tun, um sie in der NATO zu halten, aber auch die Handlungsfähigkeit der EU im Interesse „strategischer Autonomie“ stärken.

Allerdings wird zugestanden, dass das Zwei-Prozent-Ziel „keine adäquate Messlatte für den Verteidigungsbeitrag eines Landes“ darstelle. Angesichts eigener Bedrohungsanalysen, die den NATO-Beschlüssen zugrunde lägen, sei eine deutliche Steigerung der Militärausgaben aber unverzichtbar. Letztlich gelte: „So unbefriedigend das Zwei-Prozent-Ziel auch ist: Es ist mittlerweile zu einem zentralen Symbol der Bündnissolidarität geworden …“ Und damit auch „Teil deutscher Staatsräson“, wie bereits im Weißbuch 2016 betont.

Bei aller Spitzfindigkeit dreht sich die Argumentation der Münchner Autoren im Kreise, ignoriert nicht zuletzt internationale Gegebenheiten: Während Russland laut SIPRI 2018 61,4 Mrd. US-Dollar Militärausgaben verzeichnete, waren es allein bei den sieben führenden NATO-Staaten zusammen 880,7 Milliarden, und selbst ohne die USA immerhin noch 231,7 Milliarden. Zudem ist das russische Militärbudget seit 2018 zurückgegangen.

Angesichts der Schwächen ihrer Argumentation lancieren die Autoren die Idee, „einen Aufwuchs für die Bundeswehr mit einem Aufwuchs der Mittel in den anderen Bereichen“, also vor allem Entwicklungshilfe und Diplomatie, zu kombinieren. Ein solches Drei-Prozent-Ziel schlug der MSC-Vorsitzende Wolfgang Ischinger bereits vor einigen Jahren vor.

Nicht zu übersehen ist: Man möchte den nach Ansicht der Autoren und konservativer Kräfte in Deutschland weit verbreiteten Pazifismus und Antimilitarismus zurückdrängen. Dabei geht es um solche Fragen wie: Was verhindert eigentlich, dass Deutschland zu einem „Münchner Konsens des Handelns“ gelangt? Kann der Bevölkerung tatsächlich keine aktivere Außen- und Sicherheitspolitik zugemutet werden? Die MSC-Autoren bedauern, dass „eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben oder auch die Beteiligung der Bundeswehr an robusteren Einsätzen schwer zu vermitteln sei“. Die meisten Deutschen verstünden unter „mehr Verantwortung“ leider nur den Einsatz ziviler Instrumente, es käme aber darauf an, sie „mit guten Argumenten“ von Entscheidungen zu überzeugen, die über das traditionelle Handlungsspektrum Deutschlands hinausgingen.

Meinungsumfragen zeigten, dass gerade auf Seiten der politischen Linken – SPD, Grüne, Die Linke – die Meinung überwiege, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine größere Verantwortung als andere Länder trage, sich für den Frieden in der Welt einzusetzen. Und besonders schlimm nach Meinung der Autoren: Zwei Drittel der Deutschen seien der Auffassung, Deutschland solle ganz auf die Abschreckung mit Atomwaffen verzichten. Zudem sei es der Bundesregierung auch nicht gelungen, der Bevölkerung genügend zu veranschaulichen, dass sie „Bündnisverteidigung durch Abschreckung“ praktiziere wie beispielsweise mittels der „verstärkten Vornepräsenz“ im Baltikum. Demzufolge fehle es an Rückhalt in der Bevölkerung. Um innenpolitische Zustimmung müsse daher stärker geworben werden.

Insgesamt widerspiegelt das MSC-Papier die derzeitigen Auseinandersetzungen um die künftige Ausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Autoren plädieren dafür, dass Deutschland als viertstärkste Wirtschaft der Welt und stärkstes EU-Mitgliedsland eine größere Rolle spielen müsse. Gern macht man sich in diesem Kontext die im Ausland mitunter gebräuchliche Formulierung von Deutschland als „zurückhaltendem Hegemon“ der EU zu eigen – während die USA für manche Politologen inzwischen vom „wohlwollenden“ zum „müden Hegemon“ mutierten.

Die Möglichkeit der Europäischen Union, in der Weltpolitik zu agieren, hänge nun mal stark von Deutschland ab. Es sei heute eine „Möglich-Macher-Macht“ (enabling power) und müsse die EU in die Lage versetzen, zu einem handlungsfähigen Akteur in allen Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik zu werden. Eine deutsche Führungsrolle in der EU sei zwar kein hinreichendes, aber eben ein notwendiges Kriterium für ein starkes Europa. Kein Wort verlieren hier die Autoren über die Zusammenarbeit mit Frankreich. Auch Ideen zu den Grundfragen der gesamteuropäischen Sicherheit, zu Rüstungskontrolle und Abrüstung sucht man vergebens. Und zu Russland? Die Modernisierungspartnerschaft sei ein „blauäugiger Versuch“ gewesen, NordStream 2 gar – ein Fehler. Auch hier geht es den Verfassern um eine Wende, allerdings um eine, die grundlegenden deutschen Sicherheitsinteressen widerspricht.