23. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2020

In memoriam Otfried Nassauer (1956–2020)

Otfried Nassauer – sein Metier waren Militär, Rüstung, Strategien und immer wieder Waffenexporte. Er wurde dabei nicht müde, ein ums andere Mal das, was an entsprechenden staatlichen und privatwirtschaftlichen Aktivitäten offiziell als Beitrag zur Sicherheitspolitik verkauft, nicht selten aber geheim gehalten wurde, durch Aufdeckung von Hintergründen, Zusammenhängen und Konsequenzen zu delegitimieren.

Das von Otfried Nassauer im Jahre 1991 mitbegründete und geleitete „Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit“ (BITS) wurde rasch zu einem schier unerschöpflichen Fundus an Quellen, Materialien und vor allem Analysen zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen.

Als investigativer Rechercheur und Sicherheitsexperte war Otfried Nassauer ein Ausnahmekönner, und sein enzyklopädisches Wissen über die von ihm beackerte Materie war legendär.

Bereits seit 2010, als die Online-Ausgabe des Blättchens aus der Taufe gehoben wurde, zählte er zum Kreis der regelmäßigen Autoren. Häufig wurden seine Untersuchungsergebnisse und Expertisen darüber hinaus von anderen Autoren im Blättchen zitiert.

Sein plötzlicher, viel zu früher Tod reißt eine Lücke, die – so überhaupt – nur sehr schwer zu schließen sein wird. Als weggegangener Freund ist er unersetzbar.

Wolfgang Schwarz

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Meine Frau und ich lernten Otfried noch im Untergangsjahr der DDR kennen. Sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im letzten DDR-Parlament, ich noch in Marineuniform der DDR. Schauplatz waren die ersten deutsch-deutschen Treffen von Friedensforschern und Militärs. Sein Bart hob ihn aus der Menge heraus, mehr aber noch seine wachen und gütigen Augen und seine für mich erfrischend ungewohnte Art, sich in Diskussionen mit Gleich- und Andersgesinnten einzubringen. Für ihn war es auch ungewohnt, einen friedensforschenden Noch-Militär aus dem Osten nicht eben nur mal anzuhören, sondern Schritt für Schritt in sein Wirken einbeziehen zu können. Irgendwie mochten wir uns.

Da ich in der neuen deutschen Realität weiter zum Thema Frieden, Sicherheit und Abrüstung arbeiten wollte, führte mich Otfried in das unstete und harte Leben und Wirken eines bundesdeutschen freischaffenden Friedensforschers und Journalisten sowie in ein ungeahntes Netzwerk friedens- und sicherheitspolitischer Spezialisten und Interessenten ein.

Ich staunte immer wieder darüber, wie tief Otfried in friedenspolitisch relevante militärische und militärtechnische Details eingedrungen war und sie abrufbereit im Kopf und in seinem Privatarchiv abgespeichert hatte. Noch mehr aber bewunderte ich seine Fähigkeit, fair und offen zu debattieren, indem er immer wieder die Fakten in den Mittelpunkt stellte und nicht politische Standpunkte oder ideologische Prämissen. Otfried pflegte gewissermaßen die Sokratessche Hebammenkunst, um mit Fragen und sachkundigen Antworten die Geburt von Einsichten und neuen Erkenntnissen zu befördern.

Er erfasste sehr schnell, dass ich kein militärenzyklopädisches Wissen einbringen konnte, wohl aber ein erlebtes und analytisch angereichertes Wissen um militär- und sicherheitspolitische Denk- und Verhaltensweisen im Warschauer Vertrag, was Vergangenes und Gegenwärtiges aufhellen half und Zukünftiges besser prognostizierbar machte. Wir einigten uns darauf, Otfrieds Expertennetzwerk, das von Washington bis zum Eisernen Vorhang reichte, mit meiner Hilfe bis nach Wladiwostok auszuweiten, um unser gemeinsames Anliegen – Sicherheit, Frieden und Abrüstung – weiter voran zu bringen. Wir verstanden uns und wir mochten uns immer mehr.

Wir nutzten natürlich auch diese Verbindung eines „West-“ und eines „Ostexoten“ für Auftritte bis hin zu Vorträgen im NATO-Hauptquartier und der Führungsakademie der Bundeswehr oder der Teilnahme an einer Konferenz des neuen russischen Generalstabes. Und wir kamen zu dem Schluss, dass wir gemeinsam in Berlin präsent sein müssten, um besser erreichbar zu sein und selber näher am neuen deutschen Puls zu bleiben. Es war Otfrieds Idee, unserem Kooperationsprojekt den nahezu ideologiefreien Namen „Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS)“ zu geben. Obwohl wir uns beide, den Präsentationsregeln gehorchend, Co-Direktoren nannten, war BITS durch und durch Otfrieds Kind, um das sich – nach seiner Etablierung in der Rykestraße im Prenzlauer Berg – Studenten, Praktikanten, Projektmitarbeiter und Fördervereinsmitglieder scharten. Insbesondere Otfrieds Fähigkeit zur gelebten Demokratie hat dieses BITS bis zu seinem Tode zusammengehalten. 

Ein Höhepunkt in den Umbruchsjahren war eine von uns organisierte Speaking Tour zweier sowjetischer Generäle und Wissenschaftler durch das neue Deutschland. Otfried vollbrachte das Wunder, 48 Interessenten und Unterstützer aus allen Parteien und deren Stiftungen, aus Parlamentsvertretungen, kirchlichen und nichtkirchlichen Stiftungen und Vereinen sowie militärischen Gesprächskreisen in dieses Vorhaben einzubinden. Ich hätte das mit meiner damaligen Erfahrung nie für möglich gehalten.

Ein weiterer Höhepunkt resultierte aus unseren zahlreichen Publikationen in der deutschen Medienlandschaft. Der Berliner Aufbau Verlag ermöglichte uns die Herausgabe eines Sachbuches über das nukleare Erbe der Sowjetunion. In nur acht Monaten mobilisierten wir Spezialisten aus Ost und West sowie Beteiligte und Betroffene. Mit deren Hilfe entstand 1992 mit „Satansfaust. Das nukleare Erbe der Sowjetunion“ ein Kompendium von Sachinformationen und Lebensdarstellungen für Spezialisten und Interessierte Zeitgenossen. Noch im gleichen Jahr nutzten wir die ungeheure Materialfülle und erarbeiteten das Sachbuch „Zerfall einer Militärmacht. Das Ende der Sowjetarmee“, das in der Edition Temmen erschien.

1993 schied ich aus dem BITS aus, weil ich mit Familie Deutschland verließ. In den folgenden 17 Jahren Spanien und weiteren fünf Jahren Russland wurden unsere Treffen naturgemäß sporadischer und erneuerten ihre Frequenz erst nach unserer Rückkehr nach Deutschland im Jahre 2016. 

Ich bewunderte Otfried in über die Jahre noch zunehmendem Maße für sein Engagement und seinen ebenso vielfältigen wie permanenten Input in die sicherheitspolitisch und friedenspolitisch interessierte Community, sah aber auch die gesundheitlichen Verschleißerscheinungen. Die hingen nicht nur mit der von Otfried gewählten Lebensweise zusammen, sondern meines Erachtens auch mit der zunehmenden medialen und politischen Ignoranz gegenüber seinen und unser aller Bemühungen zur dauerhaften Überwindung des Kalten Krieges und zur Etablierung einer neuen europäischen Sicherheits- und Friedensordnung. Die Chance für beides ist auf absehbare Zeit vertan, und das hat auch an Otfrieds Kräften über Gebühr gezehrt.

Und nun, wo er nicht mehr ist, frage ich mich, ob ich nicht mehr für unser gemeinsames Anliegen hätte tun können.

Siegfried Fischer

*

Die Nachricht von Otfried Nassauers Tod war ein Schock für mich. Wir sind fast gleichaltrig. Er war immer eine starke Energiequelle, an der ich mich von Zeit zu Zeit während unserer Treffen – hauptsächlich in Berlin – gerne auflud. Wir wurden 1992 miteinander bekannt, als ich den Militärdienst verließ und er einen Neuanfang mit der Gründung von BITS wagte. Er schlug mir vor, an einem Buchprojekt mitzuarbeiten – über das nukleare Erbe der Sowjetunion. Ich hatte keinen direkten Bezug zum Nuklearthema, beschäftigte mich aber schon länger mit der Außenpolitik, den Beziehungen zum Westen und insbesondere der militärpolitischen Strategie und ihrer nuklearen Komponente. Das entsprechende Kapitel im Buch „Satansfaust. Das nukleare Erbe der Sowjetunion“ war meine erste Erfahrung der Teilnahme an einer kollektiven Monografie. Und Otfried wurde mein erster „Buchredakteur“.

Im gleichen Jahr erhielt ich als russischer Offizier auf Initiative Otfrieds eine Einladung zu einem Seminar an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Obwohl ich während meiner fünfjährigen Potsdamer Dienstzeit im Stab der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland öfter in Westberlin war, wurde das meine erste Reise in den Westteil des wiedervereinigten Deutschlands und mein erstes Treffen mit deutschen Militärs von der anderen Seite. Otfried kümmerte sich außerordentlich um mich und meine Vorbereitung und tat alles, damit das Seminar zum Erfolg wurde. Heutzutage bin ich aus verschiedenen Gründen öfter in Hamburg, der Stadt, die für mich immer mit Otfrieds Namen und nun mit dem Gedenken an ihn verbunden ist.

1993 verließ ich das Militär und kam bei meinen Reisen als Analytiker der internationalen Beziehungen auch nach Berlin. Mich überraschte, dass Otfried als „Wessie“ nicht nur zum Arbeiten und zum engeren Kontakt mit den politischen Kreisen nach Berlin, in die alte und neue Hauptstadt, fuhr, sondern das frühere Ostberlin als Standort für BITS, zuerst in der Behren- und dann in der Rykestraße, wählte. Dieser Ansatz meines Freundes und Kollegen symbolisierte für mich die Vereinigung Deutschlands auf menschlichem Niveau.

Die Gründung von BITS war tatsächlich der Versuch, ein unabhängige Expertenquelle für die deutsche Außenpolitik und die zukünftige Sicherheitspolitik eines friedlichen und zusammenwachsenden Europas zu schaffen. Otfried versprühte die notwendige Energie, generierte Ideen und untermauerte diese mit seinem detaillierten Wissen über Waffensysteme bis hin zu ihren kleinsten Schräubchen einerseits und über politische und militärische Sachverhalte und Zusammenhänge andererseits.

Otfried war faktisch BITS. Ihn umgaben jedoch stetig gute und kenntnisreiche Mitstreiter. Er versammelte Gleichgesinnte und war als Gleicher unter Gleichen doch immer auch ihr Leader. Dabei drängte er sich nie in den Vordergrund und strebte meines Erachtens auch nicht nach Ruhm und Ehre. Für ihn war die Sache wichtiger als er selbst. Er arbeitete nicht für sich, sondern ging in seiner Hilfe für andere auf: Für Politiker, die eine Politik des Friedens und der Zusammenarbeit verteidigten, für Journalisten, die den Rüstungsexport in Konfliktgebiete untersuchten, und für junge Leute, die bei ihm lernten.

Meine Bekanntschaft mit Otfried hatte auch familiäre Züge. Meine Frau Vera und ich haben uns mehrfach mit Otfried in Berlin und Moskau getroffen. Unser ältester Sohn Peter absolvierte Mitte der neunziger Jahre ein mehrwöchiges Praktikum im BITS und schrieb unter Anleitung von Otfried auch eine kleine Arbeit. Vielleicht war der Umgang mit Otfried wichtiger als die erste Erfahrung einer selbständigen Untersuchung. Otfried hat Peter nicht nur analytisches Vorgehen gelehrt, sondern ihn auch im Prenzlauer Berg mit dem Berliner Leben vertraut gemacht. Das Andenken an die große und gute Seele Otfrieds wird unser Sohn für immer behalten.

In diesen dreißig Jahren unserer Bekanntschaft hat sich in Deutschland und Europa sowie in Russland und der Welt viel verändert. Viele Erwartungen erfüllten sich nicht und Hoffnungen verflogen. Der Umgangston zwischen den Staaten wurde härter und verwandelte sich manchmal in echte Feindschaft. Menschen operieren mehr mit Meinungen als mit Fakten, weil sie deren Bedeutung geringschätzen. Die Berliner Mauer gibt es schon lange nicht mehr, aber die Polarisierung der Gesellschaft hat neue Mauern in einzelnen Staaten errichtet. Es gibt immer weniger Menschen, die bereit und fähig sind, sich dieser Polarisierung, Ignoranz und Dummheit entgegen zu stellen. In dieser Welt wird Otfried Nassauer uns allen fehlen.

Dmitri Trenin

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Wir begegneten uns das erste Mal im Februar 1990 auf einem wissenschaftlichen Kolloquium des Internationalen KSZE-Komitees in Brüssel. Die Konferenz war der konzeptionellen Idee eines gemeinsamen Hauses Europa und der weiteren Ausgestaltung der Schlussakte von Helsinki gewidmet. Als Mitglied des DDR-Komitees und zugleich Hochschullehrer an einer militärischen Lehreinrichtung hatte ich einen Einführungsvortrag zum Thema „Offensive Strategien und defensive Strategien“ gehalten. Otfried stellte sich als Journalist aus Hamburg vor und äußerte – wie in den nachfolgenden 30 Jahren noch öfter – einige Bedenken.

Die alte DDR-Regierung und das Zentralkomitee der SED waren zwar gestürzt, aber ein schnelles Ende der DDR und ihrer NVA waren noch nicht abzusehen. Doch dass es zu großen Veränderungen in internationalen Dimensionen kommen würde, war offensichtlich. Mir und gleichgesinnten Kollegen aus der DDR und der BRD, Otfried eingeschlossen, ging es damals insbesondere um Konsequenzen für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur. Das blieb auch unser gemeinsames Thema bis in die jüngste Vergangenheit.

Die großen Erwartungen für ein gemeinsames Haus Europa auf der damaligen Konferenz haben sich bis heute nicht erfüllt.

So blieb uns in den vergangenen 30 Jahren also viel Raum und Zeit, quasi alle Fragen zu Krieg und Frieden gründlich zu erörtern – sowohl in schriftlicher Form als auch auf dem Podium zahlreicher öffentlicher Veranstaltungen.

Otfried war auf allen Gebieten dieses Problemkreises kompetent und argumentationssicher. Als Mitbegründer und langjähriger Direktor des BITS hat er der friedens- und sicherheitspolitischen Debatte in diesem Lande seinen ganz persönlichen Stempel aufgedrückt. Als studierter Theologe war er zwar nie Soldat; aber er hatte ein feines Gespür dafür, wie Militärs denken und was die Schwachstellen der militärischen Logik sind. Zugleich verstand er es stets, eine Verbindung zur praktischen Friedensbewegung herzustellen. Davon zeugen insbesondere seine brillanten Analysen für die Initiativen zum Verbot von Landminen und Streubomben, gegen die staatliche Rüstungsexportpolitik der Bundesrepublik oder zur internationalen Rüstungskontrolle.

In den letzten Jahren hat er sich besonders auf die Untersuchung der transatlantischen Nuklearpolitik und der nuklearen Abschreckung konzentriert. Es ging ihm dabei immer wieder darum, wie eine Eskalation der nuklearen Hochrüstung verhindert und wie letztlich das ganze System der nuklearen Abschreckung überwunden werden kann

Exakte Analyse und konkrete Schlussfolgerungen für die Friedensbewegung bildeten für ihn prinzipiell eine Einheit.

Sein kleines BITS-Büro im Prenzlauer Berg war ein permanenter Ort von Kreativität und sein Archiv eine unerschöpfliche Quelle für alles, was in den vergangenen 30 Jahren sicherheitspolitisch in Deutschland und dieserart Beziehungen zu den USA passiert ist. Dort dokumentierte Otfried sowohl das Ende der NVA als auch den Wandel der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee zu einer Interventionsstreitmacht. Dort lagern all die wissenschaftlichen Grundlagen und Voraussetzungen seiner Analysen für die Friedensbewegung.

Als er die Räume für sein Archiv nicht mehr bezahlen konnte, fand er eine provisorische Unterbringung für die Akten, Dokumente und Bücher im Luftfahrtmuseum Finowfurt – einem ehemaligen Fliegerstandort der Sowjetarmee.

Otfried hat viele seiner Projekte nicht abschließen können. Wir alle leiden unter dem Verlust seines plötzlichen Todes. Bewahren wir die Erinnerung an ihn, indem wir seine Arbeit fortsetzen. Und auch sein Archiv weiterleben lassen.

Wilfried Schreiber