23. Jahrgang | Nummer 22 | 26. Oktober 2020

Der Wirtschafts-Nobelpreis und die Krise der Wirtschaftswissenschaften

von Jürgen Leibiger

Nicht, dass die beiden US-Amerikaner Paul Milgrom und Robert Wilson den Wirtschafts-Nobelpreis 2020 nicht verdient hätten. Ihre Theorien über das Design von Auktionen sind scharfsinnig und ihre Vorschläge praktisch bedeutsam. Die Anwendung ihrer Ideen hilft, komplexe Auktionsvorgänge, wie es zum Beispiel die Versteigerung territorial differenzierter 5G-Mobilfunk-Lizenzen durch die Bundesrepublik war, so zu gestalten, dass zwar einerseits zu hohe Gebote, die für den oder die Gewinner ruinös sein könnten, verhindert und alle Teile des zu versteigernden Konvoluts relativ gleichmäßig bedient werden, aber andererseits auch der Verkäufer seinen Erlös unter Berücksichtigung seiner Verkaufsbedingungen und Auflagen maximiert.

Aber sind die Prämissen der Modelle tatsächlich realistisch? Dass die Bieter einer Auktion ihre Nutzenfunktion wirklich kennen und berechnen und dann Angebote auf dieser Grundlage machen, ist mehr als zweifelhaft. Um neue Auktionsformate zu kreieren, bedarf es dieser Glasperlenspiele eigentlich nicht, auch wenn es dafür eines preiswürdigen Scharfsinns bedarf. Und wird nicht manchmal auch unter Berufung auf fragwürdige Theorien wirksam gehandelt? John M. Keynes schrieb, „die Gedanken der Ökonomen und Staatsphilosophen, sowohl wenn sie Recht, wie wenn sie Unrecht haben, sind einflussreicher, als das gemeinhin angenommen wird“.

Haben die Menschen nicht seit Tausenden von Jahren Feuer machen können, ohne die geringste Ahnung davon zu haben, was Feuer ist und warum es entsteht? Diese Frage aufzuwerfen, hat weder etwas mit Wissenschaftsfeindlichkeit zu tun, noch wird damit die Notwendigkeit ökonomischer Grundlagenforschung negiert. Aber kritisches Bewusstsein ist angebracht. Robert Merton und Myron Scholes erhielten 1997 den Wirtschafts-Preis für ein Modell zur Berechnung des Werts von Finanzderivaten, ein Modell, das in der Praxis krachend versagte und fast eine Finanzkrise heraufbeschwor.

Andere Anleger waren sehr erfolgreich, obwohl sie „aus dem Bauch heraus“ handelten. Eugen Fama wurde 2013 – wenige Jahre nach dem nun wirklich eingetretenen epochalen Finanzcrash – für sein Finanzmarktmodell geehrt, in dem er von der Stabilität dieser Märkte und der Unmöglichkeit von Finanzblasen ausging. Kurios oder auch bezeichnend: Er musste sich den Preis mit Robert Shiller teilen, der das Gegenteil propagiert und die Blase von 2007 vorausgesagt hatte. Die Theoretiker und Wirtschaftspolitiker waren allerdings mehrheitlich der Auffassung von Fama und anderer Marktoptimisten gewesen. Ihre Theorie von der Rationalität und Stabilität der Finanzmärkte erlebte 2007/2009 ihr folgerichtiges Waterloo, freilich ohne dass daraus ernsthaft Lehren gezogen wurden.

Die spieltheoretischen Arbeiten von Milgrom und Wilson gehören in das Gebiet der Theorien vom Marktdesign. Es wird untersucht, wie der Staat die Marktordnung gestalten oder Märkte neu schaffen kann. Bei Auktionen von Gütern, die sich wie bei den 5G-Frequenzen auf Grund ihres Charakters an und für sich im Besitz der öffentlichen Hand befinden, geht es um deren Privatisierung. Auktionen seien, so die Begründung des Nobelpreis-Komitees, „in wachsendem Maße bei der Zuteilung solch komplexer öffentlicher Güter wie Frequenzbänder, Elektrizität und natürlicher Ressourcen genutzt worden. […] Die bahnbrechenden theoretischen Arbeiten der Laureaten über Auktionen waren deshalb von großem Nutzen für die Käufer, die Verkäufer und die Gesellschaft als Ganzes.“ Wieder einmal also wurden Theorien für preiswürdig befunden, mit denen begründet werden kann, dass Privateigentum und Regulation durch den Markt nützlicher für die Gesellschaft seien als öffentliches Eigentum.

Die ganze Geschichte des Wirtschafts-Nobelpreises, der nicht von Alfred Nobel selbst, sondern erst 1968 von der schwedischen Reichsbank gestiftet wurde, ist von dieser Prämisse durchdrungen. Abgesehen von wenigen Ausnahmen und Arbeiten über empirische, statistische Methoden der Wirtschaftsforschung gingen die Preise mehrheitlich an Ökonomen, die auf dem Boden des marktoptimistischen und auf Deregulierung der Wirtschaft orientierenden Mainstreams stehen. Ökonomen, die diese Sicht kritisieren, haben weit geringere Chancen. Allein acht Mitglieder der 1947 von Friedrich A. Hayek gegründeten Mont Pèlerin Gesellschaft, dem Flaggschiff neoliberaler Denkfabriken, erhielten den Preis. Selbst Ökonomen, die heute oft der keynesianischen, gar der links-keynesianischen, also eher marktpessimistischen Strömung zugeordnet werden, wurden in der Regel für Arbeiten gewürdigt, die von einem neoklassischen Herangehen geprägt sind. Paul Samuelson zum Beispiel (Preisträger von 1970), heute oft als Neokeynesianer bezeichnet, begründete die sogenannte „neoklassische Synthese“, die von der prominenten linken Wirtschaftswissenschaftlerin Joan Robinson auch als „Bastard-Keynesianismus“ bezeichnet wurde. Die frühen Arbeiten, für welche die heute oft als linkslastig eingeordneten Preisträger Joseph Stiglitz (2001) und Paul Krugman (2008) gewürdigt wurden, operierten ebenfalls mit den Prämissen der neoklassischen Theorie. Ausnahmen, wie zum Beispiel der Preis 1998 für Amartya Sen und seine Theorien über Gerechtigkeit, Freiheit und Fortschritt oder Elinor Ostrom (2009), ausgezeichnet für ihre Theorie über das Management von Gemeingütern, bestätigen die Regel.

Der bekannte DDR-Wirtschaftshistoriker und Weltbühnen-Autor Jürgen Kuczynski, der in den 1980er Jahren selbst für den Nobelpreis vorgeschlagen worden war, notierte dazu in seinem Tagebuch, diesen Nobelpreis erhielten ein Drittel der Laureaten „mit vollem Recht, ein Drittel mit vollem Unrecht aus politischen Gründen und ein Drittel nicht völlig unverdient. Zu letzteren würde ich mich rechnen.“ Er hatte sich schon ausgemalt, was er mit dem Preisgeld machen würde, wurde aber bekanntlich enttäuscht.

Aber wie naiv war das eigentlich? Die mehrstufige Auswahlprozedur bedingt, dass, ähnlich wie im universitären Berufungsgeschehen auch, fast immer Vertreter des Mainstreams in die engere Wahl kommen. Nicht nur marxistische Wirtschaftswissenschaftler, mögen sie noch so bemerkenswerte Erkenntnisse vorgelegt und noch so gute Verbindungen haben, sind aufgrund ihrer kritischen Haltung zu Kapitalismus und orthodoxer Lehre ohne Chance. Es fallen einem aber zum Beispiel auch Namen wie Piero Sraffa, John K. Galbraith, Joan Robinson oder Immanuel Wallerstein ein. Selbst solch ein außerordentlich bedeutender Ökonom wie Joseph Schumpeter, der den Niedergang des Kapitalismus und den Übergang zum Sozialismus als unvermeidlich ansah, wäre, hätte er noch gelebt, wohl kaum in Betracht gezogen worden.

Joan Robinson hatte 1972 vor der American Economic Association ihren weithin beachteten Vortrag „Die zweite Krise der ökonomischen Theorie“ gehalten. Als erste Krise bezeichnete sie jene Situation Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre, als die damals herrschende Neoklassik keine Erklärung für die ökonomischen Turbulenzen jener Zeit zu geben vermochte, ihre wirtschaftspolitischen Vorschläge sogar gänzlich kontraproduktiv waren. Die zweite Krise der Ökonomie, nicht nur der Neoklassik, sondern auch der dominierenden Variante des Keynesianismus verortete Robinson in der damaligen Gegenwart: „Ich rede über den offensichtlichen Bankrott der ökonomischen Theorie, die zum zweiten Mal nichts zu sagen hat auf die Fragen, die für alle außer für Ökonomen dringendst der Antwort bedürfen.“ Folgt man Robinsons Nummerierung, dann stecken die herrschenden Strömungen der Wirtschaftswissenschaft mindestens seit der Weltwirtschaftskrise 2007/2009 in einer dritten Krise. Paul Romer, für kurze Zeit Chefökonom der Weltbank, stellte fest: „Die Ökonomie funktioniert nicht mehr, wie es bei einer wissenschaftlichen Disziplin üblich sein sollte.“ Wie auf einem „interreligiösen Treffen“ würde man nur noch „Dogmen rezitieren“ und dafür „andächtige Stille“ erwarten.

So urteilt ein Insider! Zwei Jahre nach diesem vernichtenden Statement erhielt Romer 2018 selbst den Nobelpreis. Und wofür? Für sein in den 1990ern entwickeltes Wachstumsmodell mit endogenem technischem Fortschritt, in dem das Wachstum zu einem Gleichgewicht der Märkte tendiert.