23. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2020

„Nowitschok“ – politisch folgenlos?

von Petra Erler

In der ZEIT war unter der Überschrift „Deutsch-russiche Beziehung: vergiftet“ zu lesen, dass das Speziallabor der Bundeswehr bei Alexei Nawalny sowie einer Wasserflasche eine „neuartige Weiterentwicklung der Chemiewaffe Nowitschok“ identifiziert habe, „eine Variante, die die Welt bis zu diesem Anschlag nicht kannte“, „bösartiger und tödlicher als alle bekannten Ableger der Nowitschok-Familie“. Weiter stand dort, dass diese „neue Nowitschok-Variante langsamer wirken (soll) als die bisher bekannten“.

Nehmen wir mal an, diese Meldung würde stimmen. Dann stellt sich die Frage, wie es dem deutschen Speziallabor, einem Referenzlabor innerhalb der Chemiewaffenkonvention (OPCW), gelang, ein bis dato unbekanntes Gift zu entdecken und innerhalb weniger Tage über alle Eigenschaften genau Bescheid zu wissen? Das wäre nur möglich, wenn es (oder seine Partnerlabore) längst im Besitz dieses weiterentwickelten „Nowitschok“-Giftes waren und hinreichend Zeit hatten, alle Eigenschaften gründlich zu erforschen. Denn man kann nur ein Gift identifizieren, dessen Parameter man bereits kennt. Nur dann lässt es sich auch erforschen. Sonst bleibt es die unsichtbare schwarze Katze in einem schwarzen Raum, wie der ehemalige sowjetische Chemiewaffenforscher und Mitentwickler der „Nowitschoks“, Wladimir Uglew, einst das Erkenntnisdilemma beschrieb.

Zur Erinnerung: Diese Frage spielte bereits im Skripal-Fall eine Rolle und damals musste das britische Chemiewaffenlabor Porton Down einräumen, dass es im Besitz von „Nowitschoks“, darunter A 234, der mutmaßlichen Anschlagswaffe war. Dieser Bruch der OPCW-Konvention hat damals niemanden empört, weil sich alle politische Energie auf Russland richtete. Heute ist das etwas anders, denn in der Folge des Skripal-Falls wurden Gifte der Familie „Nowitschok“ im November 2019 ausdrücklich in die OPCW-Liste der verbotenen Substanzen aufgenommen. Es ist deshalb notwendig, dass die Bundesregierung unverzüglich den Verdacht ausräumt, ein „Nowitschok“ verschwiegen zu haben.

Alle öffentlich zugänglichen Forschungen zu „Nowitschoks“ verweisen darauf, wie wenig bisher über diese Gifte bekannt ist. Dennoch gibt es zu den „Nowitschok-Giften“ einige öffentlich zugängliche, wissenschaftlich belegte Erkenntnisse. Das Herz aller „Nowitschok“-Gifte ist eine Phosphor-Stickstoff-Verbindung, während das Zentrum eines VX-Giftes aus einer Phosphor-Sauerstoffverbindung geformt ist. Beide Gifte attackieren das gleiche menschliche Enzym AcHE und hemmen es.

Durch den grundlegend anderen chemischen Aufbau ist ein „Nowitschok-Gift“ jedoch sehr viel bösartiger als VX. Es attackiert nicht nur ein Enzym des zentralen Nervensystems, sondern stört auch das periphere Nervensystem. Nach allen bekannten wissenschaftlichen Aussagen sind „Nowitschok“-Gifte therapieresistent, gibt es kein Gegenmittel gegen die Zerstörungswirkung eines „Nowitschok“. Atropin lindert nur Vergiftungssymptome, kann aber die Giftwirkung nicht unterbinden.

„Nowitschocks“ vereinen die Fähigkeit, bereits in geringen Dosen tödlich zu sein mit der Fähigkeit, sich blitzartig im menschlichen Körper in einer Weise einzunisten, die nicht mehr umgekehrt werden kann. Der amerikanische Chemiewaffenforscher James W. Poarch beschrieb A 234 als ebenso giftig wie VX und so therapieresistent wie Soman. In einer Studie, die vom Skripal-Fall inspiriert wurde, kam der schwedische Verfasser zum Schluss, dass die Giftigkeit von Nowitschok A 234 übertrieben wurde, in einer zweiten Studie wurden die Erkenntnisse von Poarch bestätigt. Beide Studien arbeiteten mit Computersimulationen.

Das Design eines „Nowitschok“-Giftes ist unter Chemiewaffenaspekten äußerst effizient: Es tötet preisgünstig und schädigt nachhaltig. Unter politischen und moralischen Gesichtspunkten ist es das Scheußlichste, was die Nervengiftforschung bisher bekanntermaßen hervorbrachte.

Nach den Aussagen in der ZEIT, wäre ein weiterentwickeltes „Nowitschok“ nunmehr eine noch effizientere Killermaschine, allerdings eine, die ihre eigenen Fähigkeiten nicht ausschöpfen will. Mögen die Chemiker entscheiden, ob ein solches Gift überhaupt ein „Nowitschok“ sein kann. Mögen die Chemiewaffenexperten sprechen und entscheiden, ob das Design eines solchen Giftes irgendeinen Sinn ergibt. Denn es ist hohe Zeit, dass diese Experten den Mund aufmachen und der Öffentlichkeit alles sagen, was sie über Nervengifte der neuen Generation, also die „Nowitschoks“, wissen, damit keine weitere Mythenbildung passiert.

Die Öffentlichkeit muss erfahren, dass alle Nervengifte, egal welchen Namen sie tragen, ein „Standardprogramm“ der Zerstörung im menschlichen Körper in Gang setzen. Sie sollten offenlegen, dass es für jedes Gift eine tödliche Dosis gibt, die sich auf ein bestimmtes Körpergewicht bezieht. Eine 100 Prozent tödliche Dosis ist immer tödlich, eine 50 Prozent tödliche Dosis überleben 50 Prozent einer beliebig zusammengesetzten Gruppe. Die jeweilige Giftmenge bestimmt, wann sich welche Symptome in welcher Schwere äußern. Bei einer 100 Prozent tödlichen Dosis ist das Opfer innerhalb weniger Minuten tot.

Sie sollten auch hinzufügen, wie das allermeiste Wissen über Nervengifte erworben wurde. Es gab Menschenversuche, mit Freiwilligen, aber auch heimliche. Jede Menge Tiere wurde ebenfalls zu Opfern. Anlässlich des Skripal-Falls veröffentlichte die Daily Mail am 7. März 2018 ein Video, in dem der jämmerliche Tod einer Ziege innerhalb von 2 Minuten durch ein Nervengift dokumentiert und kommentiert wurde. Es ist immer noch online.

So sollte und darf niemand vor die Hunde gehen. Deshalb ist das Verbot dieser Gifte und im weiteren Sinne aller Chemiewaffen auch so wichtig. Nicht zu vergessen: Auch Umweltkatastrophen gehören zur bisherigen Chemiewaffenforschungsbilanz.

Ein weiterentwickeltes „Nowitschok“, wie der ZEIT-Artikel unterstellt, würde auch bedeuten, dass es einen schwerwiegenden Bruch der Chemiewaffenkonvention gegeben hat, denn die Entwicklung von Nervengiften ist strengstens verboten. Die OPCW verfügt über Kontrollmöglichkeiten, um zu überprüfen, was in den wichtigsten Chemiewaffenlaboren der Welt los ist, aber niemand scheint daran Interesse zu haben. Das hat der Chemiewaffenexperte Jonathan Tucker schon 2007 gerügt. Auch der Skripal-Fall führte nicht zu mehr Transparenz. So kann und darf das nicht weitergehen.