Wie kann die Menschheit den gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen gerecht werden? Wie wird die Welt künftig geführt? Weiter monopolar aus dem Westen oder multipolar?
Um diese Fragen wird erbittert gestritten. Und es scheint, ein Krieg, freilich ein neuer, globaler, hybrider, ist längst im Gange. Auch ein kleines Land, überdies im geografischen Zentrum Europas, kann sich dem nicht entziehen. Das Bündel der Ursachen des gegenwärtigen Konfliktes in Belarus ist freilich weitaus größer und die inneren und äußeren Zusammenhänge sind sehr vielschichtig. Ebenso vielfältig sind die handelnden Akteure und deren Interessen im Lande und außerhalb seiner Grenzen. Belarus ist seit den Präsidentenwahlen vom 9. August nicht aus den Schlagzeilen gekommen, und dass die hiesigen meinungsprägenden Medien ein sehr einseitiges Bild zeichnen, war zu erwarten.
Ohne Wenn und Aber: Den Anlass zum gegenwärtigen Konflikt haben einzig und allein Präsident Lukaschenko und sein unmittelbares Umfeld geliefert. Die Fälschung der Wahlergebnisse hat ein Fass zum Überlaufen gebracht, das der Präsident vor allem seit Mitte 2019 kräftig gefüllt hat. Sein Hang zur Skurrilität und zu unbedachten emotionalen Äußerungen und Reaktionen wurde ihm von den Bürgern lange nicht nur vergeben, sondern war Teil jener Popularität oder Akzeptanz, die ihm in der Vergangenheit bei Wahlen die Mehrzahl der Stimmen sicherte.
„Väterchen“ hatte aber den Bezug zur Realität zunehmend verloren. Im paternalistischen Wolkenkuckucksheim bemerkte er nicht, dass die Kinder erwachsen geworden waren. Sie nahmen nicht hin, dass Alexander Lukaschenko gerade jene Werte, die er stets propagierte und lange Zeit auch vorlebte, nun selbst mit Füßen trat: Ordnung, Disziplin, Berechenbarkeit. Stattdessen: „Korrektur“ der selbstverschuldeten Wahlverluste, die offensichtlich nicht einmal zum Verlust der Präsidentschaft geführt hätten.
Der Wirrwarr betraf aber nicht nur das eigene Haus. Dem eng befreundeten Nachbarn Russland, mit dem man sogar in einer Union verbunden ist, warf man Schmutz vor die Tür. Russland hätte einen bewaffneten Umsturz geplant, lautete der ungeheuerliche Vorwurf. Als der sich als Hirngespinst erwies, hatte der Präsident keinen Mut zur Entschuldigung. Lediglich der belarussische Geheimdienstchef wurde geschasst. Gegenüber dem Westen lauschte Alexander Grigorewitsch dagegen den Sirenen mit offenen Ohren, ohne sich in seiner Überschätzung dabei an einen festen Halt binden zu lassen. Der schwelende Familienkrach eskalierte nach der Wahl endgültig. Es ist aber durchaus nicht so, dass auf der einen Seite die Staatsmacht und auf der anderen Seite die Bürger stehen, die das gesamte System in Frage stellen und möglichst schnell in den reichen und freien Westen möchten.
Der eigentliche und wesentliche Riss verläuft zwischen Alexander Lukaschenko und denen, die sich von ihm emanzipieren wollen, ohne das zu zertrümmern, was in den Jahren seiner Präsidentschaft an Gutem und Erhaltenswertem geschaffen wurde. Auch viele der Polizisten, Soldaten, Beamten und ein großer Teil der Millionen nicht in die Proteste involvierten Bürger sind für die gleichen Erneuerungen wie die Mehrzahl der friedlichen Demonstranten. Und jener Teil der Umgebung des Präsidenten, die mit seinem persönlichen Abgang persönliche Verluste befürchten, steht genauso gegen die Mehrheit, wie jener Teil der Protestbewegung, der auf eigene und fremde Rechnung das Kind mit dem Bade ausschütten will.
Der Konflikt wäre wohl einfacher lösbar, wären da nicht jene Kräfte und Staaten, die von außen die Situation ausnutzten, die man im Inneren selbst verschuldet hat.
Zunächst verlief alles nach ukrainischem Rezept. Ein kleiner Teil der Demonstranten suchte die gewaltsame Konfrontation und Eskalation mit der Polizei, darauf hoffend, dass der Staat schnell kollabiert. Der aber wich nicht zurück. Dabei kam es zu jenen Übergriffen, für die sich der Innenminister schließlich auch entschuldigte. Wenn er allerdings mit Blick auf Polizeieinsätze in Berlin, Paris oder Washington meinte, die belarussischen Beamten seien vergleichsweise human vorgegangen, so muss man Herrn Juri Karajew entgegenhalten: Quod licet Iovi, non licet bovi! Die benötigten Propagandabilder hatte der Westen nun auch im Kasten.
Es ist den besonnenen Kräften auf beiden Seiten zu verdanken, dass sich das Gemetzel von Kiew 2014 nicht wiederholte. Für jene, die einen grundlegenden Macht- und Systemwechsel anstrebten, lief es ab dato aber schlecht. Auch Taktikveränderungen, etwa die „Frauenproteste“, erbrachten nicht die dafür notwendige kritische Masse. Und der Versuch, die Beschäftigten der staatlichen Unternehmen zu politischen Massenstreiks zu bewegen, scheiterte ebenso. In nur 27 Prozent der Betriebe fand der Aufruf ein Echo, ohne deren Arbeit aber ernstlich zu stören.
Die Proteste sind nun zum Alltag in Belarus geworden. Ohne klare politische Führung und ohne Programm laufen sie aber Gefahr, sich genauso abzunutzen wie die Rebellion der „gelben Westen“ oder die „Anti-Corona-Demos“ in Deutschland.
Aber auch dem Noch-Präsidenten läuft die Zeit davon. Inzwischen erneut ins Amt eingeführt, hat Lukaschenko hat zwar angedeutet, dass er bereit sei, nach einer Verfassungsänderung seinen Posten zu räumen und Neuwahlen zuzustimmen, aber offenbar hegt er immer noch die Illusion, an der Macht bleiben zu können. Sollte ihn sein jüngster Besuch in Moskau darin bestärkt haben, so irrt Alexander Grigorewitsch wohl. Der Unionspartner Russland hat sich auffallend zurückhaltend und deeskalierend verhalten und derart grobe Einmischungen in die inneren Angelegenheit Belarus‘, wie sie einige EU- und NATO-Staaten zeigten, strikt unterlassen. Die zugesagten Kredite sind geeignet, die wirtschaftlichen Folgen der Krise zu mildern. Außenmister Sergej Lawrow hat am 18. September in einem Fernsehinterview die Position Moskaus dazu umfassend dargelegt.
Offenbar betrachtet Moskau aber den unsicheren Kantonisten Lukaschenko zunächst als Teil der Lösung. Wird man ihm den Verrat und die Lügen der letzten Monate verzeihen? Wladimir Putin ist dafür bekannt, dass er pragmatisch und ohne großes Palaver in wichtigen Fragen schnell und effizient handelt. Ist Väterchens Abgang, möglichst ohne Gesichtsverlust, schon in Arbeit? Er sollte sich nicht allzu sehr dagegen sperren.
Wenn der Präsident geht, dann ist die einzige bislang ausgesprochen Forderung der Proteste obsolet geworden. Diejenigen, deren Ziele weiter reichen, streifen nun bereits die Tarnung ab. Die angeblich nicht ambitiöse Swetlana Tichanowskaja wird als Revolutionsikone aufgebaut. In Warschau wird sie schon mal mit den Ehren eines Staatspräsidenten unter weiß-roten Flaggen empfangen und auch das EU-Parlament rollt ihr den roten Teppich aus. Aus dem politischen Off wendet sich Lech Walesa mit einem wichtigen Rat an sie: „Organisiere und warte! Belarus beginnt sich in Richtung des demokratischen Europas zu bewegen, kann aber nicht sofort alle Kontakte zu Russland abbrechen.“
Frau Tichanowskaja hat sicher verstanden, was von ihr erwartet wird. Und so ist die nächste Eskalationsstufe in Sicht, selbst wenn Lukaschenko verschwinden sollte. In Belarus wurden von „unbekannten Hackern“ die persönlichen Daten von Staatsangestellten veröffentlicht. Diesen verdeckten Pogromaufruf feierte am 19. September eine deutsche Tageszeitung gar als rühmliche Partisanenaktion. Wie die Belarussen über die deutlicher werdende Fremdbestimmung und die zu erwartende Radikalisierung eines Teils der Protestbewegung denken, wird sich zeigen. Folgt man dem Marsch in den Westen? Lässt man zu, dass das Land als weiterer Frontstaat gegen Russland ausgebaut wird?
Bis dahin werden vor allem die Transatlantiker aller Couleur gegen beide Staaten neue mächtige Geschütze auffahren. Welches „Nowitschok“ wird in Minsk zum Einsatz kommen?
Der Informationskrieg an der Ostfront geht also weiter, ganz nach Tertullian: „Credo, quia absurdum“ – Ich glaube, weil es absurd ist.
Abgeschlossen am 23. September 2020 – Anm. d. V.
Schlagwörter: Alexander Lukaschenko, Belarus, EU, Frank Preiß, NATO. Wahlen, Russland, Swetlana Tichanowskaja