23. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2020

Eine kleine Geschichte der Straßennamen

von Frank-Rainer Schurich

Oft begnügen wir uns damit, das Wesen einer Sache mit einem ungefähren Wort zu definieren“, schreibt der Schriftsteller Fasil Iskander in seiner Erzählung „Das Sternbild des Ziegentur“. Bei Straßennamen ist das anders. Wir können fast immer ermitteln, wie sie entstanden sind und worauf sie sich beziehen. Das gelingt sogar bei ziemlich kuriosen Bezeichnungen wie Unnütze Straße und Henning-Mörder-Straße, die man in der Hansestadt Stralsund bestaunen kann.

Doch der Reihe nach. Zunächst waren die Erklärungen einfach. Wenn man im mittelalterlichen Berlin, natürlich von einer Stadtmauer geschützt, über die Oderberger Straße durch das Oderberger Tor ging, kam man nach einer ziemlich langen Strecke wirklich nach Oderberg. Die Stralauer Straße führte zum Stralauer Tor – und dann freilich nach Stralau.

Mit dem Aufstieg der Stadt als neuen Siedlungstyp, in der es Straßen, Gassen und Wege gab, entstanden vielfältige Gruppen der städtischen Straßenbezeichnungen. Sie trugen nicht nur die Namen ihrer Zielorte, denn es waren durch die Bebauung jetzt solche entstanden, die an der Stadtmauer endeten oder in eine andere Straße mündeten. Und die mussten schließlich bezeichnet werden.

Eindrucksvolle Beispiele liefert die Berliner Stadtgeschichte. Das kleinere Cölln, südwestlich der Spree auf der Fischerinsel gelegen, wird deshalb als Wiege der Stadt bezeichnet, weil es 1237 sieben Jahren früher als Berlin urkundlich genannt worden ist. Auf der Fischerinsel gab es, wie alten Chroniken zu entnehmen ist, zum Beispiel Straßennamen wie Fischerstraße, Schornsteinfegergasse, Kakernacks Geßlein, Petersiliengasse, Köllnischer Wursthof und Friedrichsgracht – oft eine ganz neue Welt volkstümlicher Namensschöpfungen, die heute sämtlich, bis auf die Friedrichsgracht, aus dem Stadtbild verschwunden sind. Und wie kamen sie zu ihren Namen?

Fischerstraße und Schornsteinfegergasse: Es waren Handwerker, die dort arbeiteten. Im Mittelalter wurde für „Weg durch Siedlungen“ ausschließlich das Wort Gasse gebraucht, weswegen es Weber, Tuchmacher, Töpfer, Bader, Schornsteinfeger, Fischer, Fleischer und Schmiede waren, die den Gassen ihren Namen gaben. Oft wurden später daraus Straßen.

Kakernacks Geßlein (17. Jahrhundert bis 1712): Die Herkunft des Namens konnte bisher nicht ermittelt werden. Die Gasse wurde auch „Kakernakel“ genannt. Sie verlief von der Fischerstraße zur Roßstraße. Die Bezeichnung könnte vermuten lassen, dass es in den Häusern unzählige Kakerlaken, also Küchenschaben gab. Das Wort Kakerlak wird hier seit dem 16. Jahrhundert verwendet, und eben in dieser Zeit sind Küchenschaben-Wettrennen bezeugt. Sie waren wohl eine willkommene Freizeitbeschäftigung. Die unterschiedlichen Schreibweisen (Kakerlak und Kakernack) könnten durch mittelalterliche Schreibgewohnheiten und durch Stadtdiener, die oft nur nach dem Hörensagen aufschrieben, erklärt werden. Oder wohnte gar ein Herr Kakernack in dieser Gasse und wurde so zum Namenspatron?

Andere Tiere tauchten aber mit sicherem Bezug in Straßennamen auf. Am Hausvogteiplatz (heute Nr. 3–4) in Berlin gab es eine kleine Stichstraße, die Bullenwinkel hieß. Hier wurden Rinder zum Verkauf hineingetrieben. Noch heute erinnert das Haus „Am Bullenwinkel“ an dieses rege Markttreiben. Sperlingsgasse und Roßstraße wären weitere Beispiele für die Verwendung von Namen aus der Fauna.

Petersiliengasse: Der Flora erging es ähnlich. Hier bauten die Städter reichlich Petersilie an. Unter den Linden, Kastanienallee und Pappelallee lassen sofort erahnen, warum die Alleen so benannt worden sind.

Köllnischer Wursthof: Auch diese Bezeichnung erklärt sich von selbst. Später ließen sich schließlich Fabrikbesitzer dadurch „ehren“, dass die Straße, an der das Werk lag und die dahin führte, ihren Namen erhielt. Das ist heute noch so, wie wir beim Tesla-Werk in Grünheide gesehen haben. Die Politiker beeilten sich zu erklären, dass es natürlich eine Teslastraße geben wird.

Friedrichsgracht: Besonders schöne, breite und bedeutende Straßen bekamen Namen von Kurfürsten, Königen und Kaisern. Die Friedrichsgracht ist ein Beispiel dafür. Sie entstand 1681 und war bis zum Abriss der Stadtmauer nur ein unbedeutender schmaler Gang. Danach wurde die holländische Bezeichnung für Graben, die viel ästhetischer klingt, benutzt. Es war dann plötzlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine wunderschöne Gracht wie in Amsterdam, benannt nach Friedrich Wilhelm, dem Kurfürsten von Brandenburg.

Das heute noch übliche Verfahren, Straßen nach Persönlichkeiten lokaler, nationaler oder internationaler Bedeutung zu benennen, ist erst mit dem raschen Wachstum der Städte aus ihren Mauern heraus aufgekommen, wobei dabei die jeweils herrschende Ideologie eine wesentliche Rolle spielte. Noch heute gibt es in Berlin einen Nettelbeckplatz, benannt nach Joachim Nettelbeck (1738–1824), Kapitän niederländischer Sklavenschiffe, der jahrzehntelang als Kolonialpropagandist gewirkt hatte. In der Zeit des Faschismus wurde er hoch geehrt. Dagegen waren nach 1990 die Egon-Schultz-Straße und die Reinhold-Huhn-Straße verschwunden, die an zwei getötete Grenzsoldaten der DDR erinnern sollten.

Aber auch die DDR hatte einige Komplikationen mit Straßenbenennungen nach Persönlichkeiten. In Neustrelitz im Mecklenburgischen, um noch eine andere Landschaft zu wählen, gab es als Hauptstraße die Strelitzer Straße, die später Stalinstraße hieß und nun wieder als Strelitzer Straße zu uns zurückkehrte.

Als in den Städten immer mehr Straßen entstanden, kamen die Kommunalpolitiker auf die gute Idee, die Straßen ganzer Wohngebiete mit weiblichen Vornamen, mit Märchenfiguren und mit Städtenamen einer Region zu benennen. Nicht nur in Leipzig existiert ein Märchen- und Sagenviertel mit Märchenwiese, Aschenbrödel- und Rotkäppchenweg. Auch echte Flurnamen wandelten sich früher zu Straßennamen wie Brühl, Anger und Aue. Und es gibt noch viele andere Möglichkeiten, nach denen Straßen benannt worden sind (Straße der Befreiung, Klosterstraße, Alte und Neue Jakobstraße).

Für die Schreibweise von Straßennamen gibt es feste Regeln, die heutzutage in manchen Ämtern leider nicht mehr bekannt sind. Die neue Rechtschreibung stellte weitere Fallen auf, so dass es große und kleine Firmen interessant fanden, falsch Strasse statt Straße zu schreiben. Unrichtig geschriebene Namen findet man in ganz Deutschland auf Straßen- und Hinweisschildern. Dabei sind die Regeln einfach und überschaubar. Es genügt nur ein Blick in den Duden: „Setzt sich der Straßenname aus einem Substantiv oder Personennamen als Bestimmungswort und einer Straßenbezeichnung als Grundwort zusammen“, kann jedermann dort lesen, „so schreibt man beides in einem Wort: Ludwigstraße, Schlossgasse, Lindenallee, Kurfürstendamm.“

Der Nettelbeckweg in Putlitz (Brandenburg) wäre folglich ein Weg, der nach einer Person namens Nettelbeck benannt wurde – ein Familienname der Kategorie Herkunftsname zu dem gleich lautenden Ortsnamen Nettelbeck nördlich von Putlitz: „Der Mann, der aus Nettelbeck kam.“ Wie wohl die Vorfahren von jenem Joachim Nettelbeck.

Nun gibt es jedoch in Putlitz einen Nettelbecker Weg, und hier sagt uns der Duden, dass ein abgeleiteter Ortsname getrennt geschrieben wird. Es ist der Weg, der nach Nettelbeck führt. Und das Dorf hieß schon vor 250 Jahren so.

Warum diese kleine Aufregung? In der vom Peng!-Kollektiv in verdienstvoller Weise erarbeiteten Liste über Denkmäler für wichtige Figuren der deutschen Kolonialisierung und Straßen mit kolonialem Bezug, unter anderem die Mohrenstraße in Berlin, taucht der Nettelbecker Weg auf, der da gar nicht hingehört.

Die Henning-Mörder-Straße in Stralsund hat eine ganz andere Etymologie. Sie wurde 1311 erstmals urkundlich als Mörderstraße erwähnt – nach einem Adelsgeschlecht. Nachdem es ausgestorben war, geriet die Namensherkunft ganz in Vergessenheit, und der Straßenname wurde wegen des naheliegenden, falschen Bezugs auf die kriminellen Mörder als anstößig empfunden. Im Jahr 1934 erweiterte die Stadtverwaltung den Straßennamen auf Henning Mörder, um 1500 Bürgermeister von Stralsund.

Die Unnütze Straße erhielt dagegen ihren Namen durch eine bewusste Falschschreibung. Im Mittelalter waren dort die Huren zu Hause, weshalb die Straße ursprünglich Nüttze Strate hieß. Nach der Vertreibung dieses Gewerbes sollten die dort lebenden Bürger nicht einem schlechten Ruf ausgesetzt werden …