23. Jahrgang | Nummer 20 | 28. September 2020

Die Vielheit des Denkens – Walter Benjamin

von Mathias Iven

Niemand in dem kleinen Fischerdorf Port Bou wusste so genau, um wen es sich bei dem am 26. September 1940 Verstorbenen handelte. Das Kirchenbuch des Ortes an der spanisch-französischen Grenze verzeichnete irrtümlich einen „Dr. Benjamin Walter“, gestorben an einer Hirnblutung …

Es gibt schon einige dem Leben Walter Benjamins gewidmete Biografien. Doch nun endlich, sechs Jahre nach der Erstveröffentlichung bei Harvard University Press, liegt die derzeit umfassendste und ohne Zweifel beeindruckendste Arbeit zu seinem Leben und Werk auch in deutscher Sprache vor. Howard Eiland und Michael W. Jennings, die als Herausgeber und Übersetzer wesentlich zur Verbreitung von Benjamins Schriften im englischen Sprachraum beigetragen haben, liefern auf mehr als 1000 Seiten nicht nur eine bis ins kleinste Detail gehende, äußerst lesenswerte Lebensbeschreibung. „Diese Biographie“, so die Autoren, „hat sich eine weiter gespannte Behandlung zum Ziel gesetzt, indem sie streng chronologisch vorgeht und den Fokus auf die tagtägliche Realität legt, aus der Benjamins Schreiben erwächst; zudem will sie einen intellektuell-historischen Kontext für seine wichtigsten Werke liefern.“ Ist es doch gerade dieser Kontext, den wir Heutigen mehr und mehr aus den Augen verlieren.

Die schon oft gestellte Frage, warum Benjamins Texte auch Jahrzehnte nach seinem Tod nicht nur die Gelehrtenwelt faszinieren, lässt sich nicht allein durch die Kraft seiner Ideen oder seine gestochene Ausdrucksweise erklären. Da ist zum einen die ihm eigene Form des schreibenden Denkens, seine „aphoristische Prosa, die philosophische Analyse mit einer konkreten Bildersprache verbindet und so einen unverwechselbar persönlichen und kritischen Darstellungsstil hervorbringt“. Und da ist zum anderen seine von Strömungen unabhängige Herangehensweise, die er in einem Fragment gebliebenen, an seinen Freund Gershom Scholem gerichteten Brief im April 1934 so umschrieb: „Du weißt doch sehr gut, daß ich […] immer meiner Überzeugung gemäß, geschrieben habe, nie aber […] den Versuch gemacht habe, das widerspruchsvolle und bewegte Ganze, das meine Überzeugungen in ihrer Vielheit ausmachen, zum Ausdruck zu bringen.“

Woher rührte diese Überzeugung? Wie fand Benjamin zu seinen Themen? Nehmen wir nur die Begriffe der „Aura“ und des „Sammlers“ oder das ihn bis zuletzt beschäftigende Phänomen der Erinnerung.

Durch die Anstellung des Vaters in „Rudolph Lepke’s Kunst-Auctions-Haus“, das bis 1912 in der Berliner Kochstraße ansässig war, kam Walter Benjamin schon früh mit den Fragen nach Original, Kopie, Fälschung oder Reproduktion in Berührung. Möglicherweise führte gerade dies zu seinen späteren Überlegungen zum Begriff der „Aura“, der erstmals am 18. Dezember 1927 in den zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten „Protokollen zu Drogenversuchen“ auftauchte. Wenn auch nicht von ihm, sondern aus der mystischen Tradition stammend, gehört er bis heute zu den meistdiskutierten Begrifflichkeiten in Benjamins Werk. So charakterisierte er die „Aura“ als ein „sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“. So geschehen in dem 1931 publizierten, durch den Kontakt zu László Moholy-Nagy und das freundschaftliche Verhältnis zu den Fotografen Sasha Stone und Germaine Krull beeinflussten Artikel „Kleine Geschichte der Photographie“ sowie in seinem großen, 1936 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienenen Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Und in seiner Arbeit „Über einige Motive bei Baudelaire“ ergänzte er 1939: „Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.“ Anders ausgedrückt: Es geht um die Echtheit, Einmaligkeit und zugleich Unnahbarkeit von Objekten und ihrer Wahrnehmung.

Ein weiterer Benjamin prägender Umstand war sicherlich die von seinem Vater zusammengetragene Kunstsammlung, die einerseits zum Ausgangspunkt für die Sammelleidenschaft des Sohnes wurde und andererseits die Inspiration für dessen theoretische Beschäftigung mit der Figur des Sammlers lieferte, wie sie uns in mehreren Arbeiten, vor allem aber in Benjamins unabgeschlossenem Passagenwerk entgegentritt. Und schließlich ist noch ein drittes Moment zu nennen: das Phänomen der Erinnerung. Ab März 1926 hielt sich Benjamin erstmals für mehrere Monate in Paris auf. Gemeinsam mit seinem Freund Franz Hessel arbeitete er dort an der von ihm zuweilen als „unproduktive Beschäftigung“ empfundenen Übersetzung des zweiten und dritten Bandes von Prousts Mammutwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. „Ich fühlte“, hatte er bereits im Juli 1925 Gershom Scholem mitgeteilt, „sehr Verwandtes, sooft ich von seinen Sachen etwas las.“ Welchen Einfluss Prousts Romanzyklus auf Benjamin ausübte, hat Lorenz Jäger in seiner 2017 vorgelegten Biografie so zusammengefasst: „Ohne Prousts Suche nach der verlorenen Zeit wäre Benjamins ,Berliner Kindheit‘ so wenig denkbar wie sein letzter Essay über Baudelaire aus dem Sommer 1939 […]. Aber auch die ,Passagen‘ waren ein – ins Objektive gespiegelter – Prozess der Erinnerungen.“

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Erinnern wir uns gemeinsam mit Walter Benjamin und werfen einen Blick zurück in seine Kindheit, die zu einem gewissen Teil auch mit Potsdam und dem damaligen Neubabelsberg verbunden war. Denn über viele Jahre hinweg entfloh die Familie Benjamin der sommerlichen Hitze Berlins und suchte im Umland Ruhe und Entspannung. In seinen 1931/32 begonnenen, in mehreren Fassungen überlieferten Aufzeichnungen unter dem Titel „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ dachte Benjamin mehrfach an diese unbeschwerten Zeiten zurück. Dabei ging es ihm weniger um die Chronologie der Ereignisse: „Denn die Autobiographie hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den stetigen Fluß des Lebens ausmacht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede.“

In dem Kapitel „Pfaueninsel und Glienicke“, 1938 in der von Thomas Mann und Konrad Falke herausgegebenen Zeitschrift Maß und Wert veröffentlicht, schilderte er das Gefühl bei der Ankunft im sommerlichen Paradies: „Der Sommer rückte mich an die Hohenzollern heran. In Potsdam waren es das Neue Palais und Sanssouci, Wildpark und Charlottenhof, in Babelsberg das Schloß und seine Gärten, die unseren Sommerwohnungen benachbart waren. […] Als ich absprang, war es mit der Gewißheit, daß für diesen Sommer Kohlhasenbrück mit seiner Bahnstation, der Griebnitzsee mit den gewölbten Lauben, die zu den Landungsstegen niedergleiten, Schloß Babelsberg mit seinen ernsten Zinnen und die duftenden Bauerngärten von Glienicke durch die Vermählung mit der Hügelwelle so mühelos in meinen Schoß gefallen seien wie Herzogtümer oder Königreiche durch Heirat an die kaiserliche Hausmacht.“

Und noch ein Abschnitt aus der „Berliner Kindheit“ soll zitiert werden. Im Mittelpunkt der im Februar 1933 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichten Erinnerungen an die „Schmetterlingsjagd“ steht der Brauhausberg. Für Benjamin, als er daran zurückdachte, war dieser Name zunächst nur ein „Wort, das seit Jahrzehnten nie mehr mir zu Ohren noch über meine Lippen gekommen ist. Es hat das Unergründliche bewahrt, womit die Namen der Kindheit dem Erwachsenen entgegentreten. Langes Verschwiegenwordensein hat sie verklärt. […] Aber der Name hat alle Schwere verloren, enthält von einem Brauhaus überhaupt nichts mehr und ist allenfalls ein von Bläue umwitterter Berg, der im Sommer sich aufbaute, um mich und meine Eltern zu behausen. Und darum liegt das Potsdam meiner Kindheit in so blauer Luft, als wären seine Trauermäntel oder Admirale, Tagpfauenaugen und Aurorafalter über eine der schimmernden Emaillen von Limoges verstreut, auf denen die Zinnen und Mauern Jerusalems vom dunkelblauen Grunde sich abheben.“

Howard Eiland und Michael W. Jennings: Walter Benjamin – Eine Biographie. Aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 1021 Seiten mit 36 Abbildungen, 58,00 Euro.