23. Jahrgang | Nummer 20 | 28. September 2020

Bayreuth Baroque Opera Festival

von Joachim Lange

Die Pandemie hat die Bayreuther Festspiele hart getroffen. Auf dem Grünen Hügel blieb das Festspielhaus geschlossen. Nur am traditionellen Eröffnungstag, dem 25. Juli, gab es einen „Als Ob“-Mini-Wagner in der Villa Wahnfried. Der Rest lief im Internet. Kurz nach dem eigentlichen Ende von Deutschlands Festspiel-Weltmarke passierte vom 3. bis 13. September dann doch noch das Wunder: Die Bayreuther Festspiele gingen über die Bühne. Aber nicht die, die alle Welt kennt, auch nicht auf dem Grünen Hügel und mit Wagner-Fünfstündern. Nein – es gab den ersten Jahrgang eines neuen Festivals mit Barock-Musik im dafür maßgeschneiderten Markgräflichen Opernhaus, unten in der Stadt. Zwar unter Anticoronabedingungen mit nur 200 Zuschauern im Saal, aber mit einer „richtig“ inszenierten und einer konzertanten Oper sowie einem exquisiten Programm drum herum. Die neue Marke ist das Bayreuth Baroque Opera Festival …

Als die Schwester von Preußenkönig Friedrich II., Wilhelmine, von ihrem Bruder als Markgräfin nach Bayreuth beordert (sprich verheiratet) wurde, baute sie sich ein Opernhaus. Vielleicht als Trost oder aus Trotz. Jedenfalls in einem Format, das es in den 40er Jahren des 18.Jahrhunderts mit dem Glanz von Dresden oder Wien aufnehmen sollte und konnte. Da man in Bayern heutzutage weiß, was man nicht nur an den Hinterlassenschaften seines wagnerverrückten Königs Ludwig II., sondern auch an denen der Markgräfin Wilhelmine hat, erstrahlt dieses nie abgebrannte oder sonst verunstaltete Schmuckstück nach aufwändiger Renovierung seit 2018 wieder in barocker Herrlichkeit. Wirklich lebendig und überwältigend wird dieses längst zertifizierte Weltkulturerbe aber erst, wenn dort die Musik erklingt, für die es errichtet wurde. Haargenau so wie jetzt beim neuen Bayreuth Baroque Festival.

Neben kultur- und marketingaffinen Entscheidungsträgern braucht es für ein solches Projekt vor allem Enthusiasten wie Max Emanuel Cenčić. Wie sonst wohl nur noch seine berühmte Kollegin Cecilia Bartoli mit ihren Pfingstfestspielen in Salzburg legt sich der 43-jährige Countertenor für die Barockmusik ins Zeug. Als Sänger schon seit frühester Jugend in der Spitzenriege seiner Zunft, aber auch als Regisseur und seit zehn Jahren obendrein mit seiner gut platzierten Produktionsfirma Parnassus Arts Production. Cenčić hat sich mit vielen seiner unabhängig produzierten Barockopern zu einer Art unternehmerisch-künstlerischem Gesamtkunstwerk gemausert. Dem fehlte eigentlich nur noch das eigene Festival am maßgeschneiderten Ort. Jetzt hat er es. Man stelle sich nur vor, was für eine Prachtentfaltung zelebriert worden wäre, wenn es ohne Corona kurz nach dem Finale der Wagner-Festspiele oben auf dem Grünen Hügel Ende August unten in der Stadt gleich mit dem Bayreuth Baroque weitergegangen wäre!

Eine Ahnung davon bot die Premiere von „Carlo il Calvo“ des neapolitanischen Händel-Zeitgenossen Nicola Antonio Porpora (1686–1768). Auch wenn nur 200 Zuschauer zugelassen waren, gab es ganze fünf Brutto-Opernstunden mit zwei Pausen und ohne personelle Ausdünnung auf der Bühne oder im Graben. Und es hat sich gelohnt!

Cenčić lässt den musikalischen Glanz der neapolitanischen Barock-Musik mit einer opera seria aus dem Jahre 1738 aufscheinen, die völlig in Vergessenheit geraten war. Für den wohltemperiert drängenden Sound sorgte (über weite Strecken vom Cembalo aus) der designierte künstlerische Leiter der Göttinger Händelfestspiele George Petrou mit seinem Orchester Armonia Atenea. Er kostet dabei auch die instrumentalen Zwischenspiele sichtlich aus.

Cenčić hat die barocke Opernausgrabung selbst inszeniert und mit seinem Team in Athen einstudiert. Salons und Wintergärten für die zwischen karibischer und mediterraner Verfall-Grandezza changierende Bühne hat Giorgina Germanou gebaut, Maria Zorba sorgte mit dem Chic der Kostüme für Zwanzigerjahre-Eleganz. Das ariengespickte, barocktypisch verworrene Jeder-gegen-Jeden beginnt und endet mit einer üppigen Familientafel (wenn es dicke kommt, sind zwei Dutzend Leute auf der Bühne!). Mit diabolisch krächzendem Gelächter einer Alten im Rollstuhl zu Beginn und einem vom Stuhl fallenden Familienoberhaupt kurz nach dem unvermeidlichen, mit einer herrlich komischen Tanznummer hingeswingten Happy End.

Dazwischen lässt Cenčić in 35 Szenen eine Art Telenovela mit einem Mix aus Erbschaftsstreit, Machtkampf und Liebeshändel aller möglichen Varianten ablaufen. Das macht Spaß und lässt auch dann, wenn in den Arien die Wiederholungsrunden angesagt sind, keine Langeweile aufkommen. Auf dieser sich mehrmals wandelnden Bühne ist immer was los – im Zweifel ein Tick mehr als nötig.

In der eigentlich im Mittelalter angesiedelten Story wird bis aufs Messer um das Erbe, also die Macht gestritten, das dem (stummen) kindlichen Titelhelden zusteht. Diese Übersetzung ins mafiöse Klischeemilieu funktioniert fabelhaft. Man wahrt den Schein, aber kennt keinerlei Skrupel. Als Counter gibt Cenčić selbst stilsicher den sichtbar gealterten Clanchef Lottario. Suzanne Jerosme ist seine verwitwete Stiefmutter Giuditta und Nian Wang deren Tochter Eduige. Bruno de Sá fällt (als Anwalt der Familie) mit seinen atemberaubenden Sopran-Spitzentönen auf. Tenor Petr Nekoranec sucht als Bodyguard Asprando mit allen Mittel (von Mord bis zum Versuch, den verklemmten Clanchef persönlich mit seinem Luxuskörper zu verführen) seine eigenen Ambitionen durchzusetzen. Dass er sich als leiblicher Vater des Knaben Carlo entpuppt und bei einer zünftigen Schießerei auf der Strecke bleibt, versteht sich fast von selbst. So was wie einen roten Faden spinnen Franco Fagioli und Julia Lezhneva als Liebespaar mit Hindernissen. Er als relativ ehrlicher Sohn des Hauses Adalgiso, sie als seine Verlobte Gildippe. Fagioli demonstriert seine Extraklasse mit Kunststücken auf dem vokalen Koloraturhochseil in der Barockzirkusarena. Für das einzige Endlosduett mit der so quicklebendig wie federleicht mit ihm davon schwebenden Russin gibt es ganz zu Recht den längsten Szenenapplaus. Für die beiden grandiosen Protagonisten, aber auch für Nicola Antonio Porpora.

Mit den zwei Aufführungen gab es wenigstens in diesem Spätsommer endlich wieder „richtige“ Oper. Mit wirklich allem Drum und Dran! Einschließlich einer Liveübertragung von „Carlo il Calvo“ in den Cineplexkinos von Bayreuth und Mannheim! Und wie man hört, wird diese Inszenierung auch im zweiten, für den kommenden September geplanten Jahrgang von Bayreuth Baroque wieder aufgenommen.

Neben der Porpora-Ausgrabung präsentierte Cenčić mit der konzertanten deutschen Erstaufführung von Leonardo Vincis „Gismondo, Re di Polonia“ ein zweites, exquisit besetztes Ausgrabungsschmankerl. Als CD eingespielt hat er sie mit seiner Firma schon. Händel schätzte seinen fünf Jahre jüngeren italienischen Kollegen Leonardo Vinci (1690–1730) sehr. Aus dem Dunkel des Vergessens wurde Vinci 2012 gerissen – dank seiner, einst mit Kastraten, heute natürlich mit Countern besetzten Oper „Artaserse“. Nach einer mit barocker Opulenz zelebrierten szenischen Aufführung 2012 in Nancy hängte die Truppe der weltbesten Countertenöre, die darin glänzte, noch eine gefeierte Tournee dran und machte unter anderem in Köln Station. Mit Cenčić selbst und dem in Odessa geborenen Yuriy Myneko sind zwei von dieser legendären Vinci-Aufführung auch bei „Gismondo“ dabei. Dazu kommt in Bayreuth noch ihr englischer Stimmfachkollege Jake Arditti. Mit ihrem Live-Auftritt dürften sich die Polin Martyna Pastuszka und ihr Orchester mit dem putzigen Namen (oh!) Orkiestra Historyczna in der Barockszene etabliert haben und als feste Größe wohl im Visier der diversen Barockfestivals bleiben. Für das Niveau der übrigen Angebote stehen Namen wie Joyce DiDonato und Jordi Savall. Weltweit verbuchte das Festival 360.000 digital vorbeischauende Zuschauer. Dass die reduzieren Plätze im Opernhaus ausverkauft waren, versteht sich. Man darf getrost darauf wetten, dass sie es auch ohne die Reduzierung gewesen wären, und kann nur hoffen, dass im nächsten Jahr die praktische Überprüfung möglich wird.