Vor 160 Jahren veröffentlichte Thomas Joseph Dunning (1799–1873), Sekretär der Londoner Vereinigung der Buchbinder, ein Büchlein „Trades’ Unions and Strikes: Their Philosophy and Intentions“. Er hatte es im Auftrag seiner Gewerkschaft verfasst; mit dem Essay sollte den einseitigen, diffamierenden und gewerkschaftsfeindlichen Veröffentlichungen der damaligen Mainstream-Medien entgegengetreten werden. Kein Verlag wollte es herausbringen, und so erschien es im Selbstverlag. Dunning legt dar, wovon die Löhne bestimmt werden, er erklärt die Rolle der Gewerkschaften und ihre Kampfmittel. Der links-liberale John Stuart Mill (1806–1873), einer der damals führenden Ökonomen Englands, äußert sich in den späten Auflagen seiner „Grundsätze der politischen Ökonomie“ außerordentlich lobend über diese Schrift. Obwohl er nicht mit allen ihren Ansichten übereinstimme, hätten die Gewerkschaften „bedeutende Wahrheiten […] auf ihrer Seite.“ Sogar die Irrtümer seien „weniger augenfällig und verwerflich“, wenn sie aus dem Blickwinkel der Interessen der arbeitenden Klassen betrachtet würden.
Auch ein anderer Wirtschaftswissenschaftler schreibt anerkennend über die Schrift und die Darlegungen zum Lohn: Karl Marx. Dunning treffe „nicht nur die Sache“, sondern behandle sie auch „mit glücklicher Ironie.“ Aber nicht mit dieser Sache und seiner Abhandlung über Philosophie und Ziele der Trade Unions ging Dunning in die ökonomische Weltliteratur ein. Was mit seinem Namen in Verbindung gebracht wird, ist eine Textpassage, die Marx im „Kapital“ zitiert. Dunning kommentiert darin eine im Quarterly Review, einer konservativen Vierteljahresschrift, geäußerte Auffassung, wonach die Arbeiter sich besser ruhig verhalten sollten, denn Kapital sei „ängstlich“ und „fliehe vor Turbulenzen und Streit“. Dunning kontert, das sei zwar „sehr wahr, aber eine unvollständige Antwort auf diese Frage“. Und weiter, in der Übersetzung von Marx: „Das Kapital hat einen horror vor Abwesenheit von Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. 10 Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel.“
Bis auf diese Passage, die Dunning relativiert, als er hinzufügt, „Kapital ist an und für sich gut“ und „böse Instinkte“ finde man auch in seiner eigenen Klasse, geriet seine Broschüre völlig in Vergessenheit. Aber diese wenigen Sätze werden immer und immer wieder zitiert und, weil sie so gut zur Grundaussage seines Werkes passen, werden sie gar nicht selten Marx zugeschrieben. Abgesehen davon, dass sie in seiner Übersetzung eine stilistische Wucht entfalten, die sie im Original nicht haben („even to the chance of its owner being hanged“ übersetzt Marx mit einem emphatischen „selbst auf die Gefahr des Galgens“), besteht der Hauptgrund darin, dass diese zugespitzte Charakterisierung der Profitorientierung des Kapitals nach wie vor ihre Berechtigung hat.
Ich wurde an diesen Text erinnert, als der Wirecard-Betrug aufflog. Luftbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro offenbaren eine enorme kriminelle Energie der Firmenvorstände. Sie wurde begünstigt durch genauso profitgierige Wirtschaftsprüfer und eine mehr als lasche, wohl auch überforderte staatliche Finanzaufsicht. Die Hoffnung auf einen deutschen Global Player im Digitalgeschäft ließ selbst die Bundesregierung erblinden und so völlig abwegig ist der Verdacht nicht, dass angesichts des regierungsamtlichen Unterstützungskurses den Mitarbeitern der Aufsicht, die Wirecard-Aktien besaßen, steigende Kurse lieber waren als zunehmende Bedenken und gründlichere Kontrollen.
Ist Kapital an und für sich gut und entspringt kriminelle Energie wirklich einem „Trieb zum Bösen“, der allen menschlichen Wesen eigen ist, wie Dunning meint? Natürlich werden Verbrechen nicht allein aus Gewinnsucht begangen, aber es ist schon auffällig, das ab der Zeit, da Geld nicht nur als Tauschmittel, sondern auch für Geldgewinne, das heißt als Kapital angewendet wird, auch sein verbrecherisches Potenzial kritisiert wird. „Die schlimmste Frucht, die je gesetzlich eingeführt […] ist das Geld. […] Geld betört das Herz, so dass der brave Mann Abscheuliches begeht“, dichtete Sophokles vor zweieinhalbtausend Jahren. Und die Kette der Abscheulichkeiten, legalen wie illegalen, ist auch im heutigen „zivilisierten“, „gebändigten“ Kapitalismus lang. Gegen die 55 Milliarden Euro schwere Bilanzfälschung des US-amerikanischen ENRON-Konzerns oder den 44-Milliarden-Euro-Anlegerbetrug Bernard Madoffs erscheinen die Wirecard-Beträge fast harmlos. Seit der Krise von 2007/09 haben Banken weltweit über 300 Milliarden Dollar Strafe wegen der Verletzung von Vorschriften zahlen müssen. Die Rechtskosten infolge des Betrugs mit digitalen Abschaltvorrichtungen allein für den VW-Konzern belaufen sich auf 30 Milliarden Euro, trotzdem wurde 2019 ein Gewinn vor Steuern von rund 17 Milliarden Euro eingefahren. Was ist schon der Diebstahl eines Autos gegen den Betrug an tausenden Autofahrern! Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank!
Die Liste lässt sich fortsetzen: Steuerhinterziehung, illegale Spenden, Korruption, Bilanzfälschung, Anlagebetrug, Insider-Geschäfte, Kundenbetrug, Kinderarbeit, Umweltvergehen, Verletzung von Arbeitsschutzvorschriften, Zwangsprostitution, Sklaverei, Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen … Längst sind Verbrechersyndikate wie die Mafia in die „normale“ Wirtschaft eingesickert. Sich superseriös gebende Konzernmanager haben keinerlei Skrupel, Aktivitäten, die im Inland aus guten wirtschaftlichen, sozialen oder moralischen Gründen verpönt oder verboten sind, in Länder zu verlegen, wo das nicht der Fall ist. Ungeniert werden staatliche Subventionen eingestrichen, während Gewinne in Steueroasen verschoben werden. Ein George Soros rechtfertigte seine Spekulation gegen das Pfund, die auch den britischen Steuerzahler Anfang der 90er Jahre Milliarden gekostet hat: Hätte er das nicht gemacht, hätten es andere getan. Natürlich war alles legal. Die Betonung des Eigennutzes als wichtigster Triebkraft menschlichen Handelns, das Credo „Erlaubt ist, was nicht verboten ist“ und die Forderung „Mehr Markt, weniger Staat“ implizieren nicht nur ein Ungleichgewicht von Moral und Gewinn, sondern auch ein asymmetrisches Kräfteverhältnis zwischen Kapitalwirtschaft und Staat. Der befindet sich damit ewig im Nachtrab und ist nicht selten auf die Rolle eines Reparaturbetriebs reduziert. Bloß nicht zu viel Regulation, Kapital sei ein „scheues Reh“, oder, wie Quarterly Review es ausdrückte, es „flieht vor Turbulenzen und Streit“. Moralische Gesetze sind sekundär. Kapital ist nicht zuletzt auch deshalb so „kühn“ und risikobereit, weil – festgeschrieben in der Rechtsform – volle Haftung teilweise von vornherein beschränkt ist. Selbstverpflichtungen oder Good-Governance-Regeln sind zahnlose Tiger. Auch Wirecard hatte einen Corporate-Governance-Bericht vorgelegt, wie Rolf Nonnenmacher, Vorsitzender der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, informierte. Er erläuterte dazu: „Dass die Regeln [des Kodex] eingehalten werden, wird nicht von einer Behörde oder Institution überwacht, sondern vom Kapitalmarkt.“ Na toll. Der Mann war früher Sprecher von KPMG Deutschland, einem führenden Wirtschaftsprüfungsunternehmen.
Das Kapital habe, so Dunning mit Blick auf die USA, „das sogenannte freieste Land der Welt in ein riesiges Sklavengefängnis verwandelt, und, schlimmer noch, von allen Kanzeln im Süden dieses Landes lässt es verkünden, das Wort Gottes beweise, dass dieses Verbrechen vom Allmächtigen gebilligt wird.“ Sklaverei wird heute wohl kaum noch von der Kanzel herab verteidigt (bei manchen Evangelikalen im Süden der USA bin ich mir allerdings nicht ganz sicher), aber das Kriegsgerät, mit dem die US-Streitkräfte im Namen der „westlichen Wertegemeinschaft“ Ölfelder besetzten oder mörderische Luftangriffe unternahmen, wurde von Militärpfarrern gesegnet. Den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der auch von US-Amerikanern begangene Kriegsverbrechen ahnden soll, wurde von den USA deshalb selbst mit Sanktionen belegt. In den vergangenen 160 Jahren mag sich vieles verändert haben und der Fortschritt ist unübersehbar, der Aktualität von Dunnings Text hat das keinen Abbruch getan.
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