Die Nachricht erschien weder als Eil-Meldung noch sonst wie sensationell am 16. Dezember 2019, mit leicht variierter Überschrift: „Vier von sechs LKA-Chefs in NRW waren NS-Kriegsverbrecher“ (Welt, Süddeutsche und andere). Bis in die zentralen Fernsehformate kam’s gar nicht erst; also keine Überraschung, aber immerhin Betroffenheit zumindest bei zwei Personen, als ein Wissenschaftler das Ergebnis einer 2016 in Auftrag gegebenen Recherche vorstellte. „ ‚Das Gutachten zeigt ein sehr bedrückendes Ergebnis‘“, sagte der amtierende LKA-Chef Frank Hoever. „Das hat mich sehr erschüttert.“ – „‚Das Ergebnis ist umso erschreckender, als die Genannten in ihrem Amt teilweise eine Seilschaft aus der NS-Zeit pflegten. Aus heutiger Sicht hätten sie niemals mehr als Polizisten arbeiten dürfen‘, sagte der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU)“ (Welt Online). Nicht ganz korrekt; sie waren nicht nur – sie hatten auch Polizisten befehligt. Die Betroffenheit wenig mildernd, dass der Historiker Martin Hölzl sein Gutachten so einordnete: „Kein untypischer Befund.“
Unser Beispielfall wird von Welt Online so vorgestellt: „Oskar Wenzky galt im nordrhein-westfälischen Innenministerium als unbelastet, obwohl er in internationalen Fahndungslisten als Kriegsverbrecher gesucht und in den Niederlanden deswegen interniert worden war. Das NSDAP- und SS-Mitglied habe die Verlegung der Sinti und Roma in den Niederlanden an Sammelplätze angeordnet, von denen sie später in das KZ Auschwitz deportiert wurden. Unter Wenzkys Verantwortung fanden in den Niederlanden Razzien gegen Homosexuelle statt. Als Sachverständiger habe er sich später in der Bundesrepublik gegen die Abschaffung des Paragrafen 175 ausgesprochen, der Homosexualität unter Strafe stellte. An der Uni Köln sei er 1971 Honorarprofessor geworden. Erst acht Jahre nach seinem Tod seien Ermittlungen gegen ihn eingeleitet worden.“
Dies Ergebnis der Nachforschungen hätte man erheblich früher haben können, mehr als 50 Jahre zuvor: „Wensky, Oskar. Dr.; vor 1945: Kriminalkommissar beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Den Haag, erhielt persönliches Anerkennungsschreiben von Himmler; nach 1945: Landeskriminaldirektor in Düsseldorf, Beauftragter für Kriminalistik an der Universität in Köln; Mitherausgeber der Zeitschrift ‚Die Polizei‘, die sich besonders für die Einführung der Notstandsgesetze einsetzt.“ So nachzulesen im „Braunbuch Kriegs- und Naziverbrecher“ auf Seite 103 (3. Auflage 1968); eine erste Auflage erschien bereits 1965. Ein Reprint erfolgte 2002 – seit 2010 als Volltext im Internet – von einem der Herausgeber, unserem Kollegen Norbert Podewin verantwortet, auf dessen Aufsatz im Blättchen: „Manches war doch anders: Ein ‚Braunbuch‘ mit Spätfolgen“ hier als Zusatzinformation verwiesen wird.
„In einer Rezension von 2002 bezeichnete der Historiker Götz Aly das Buch zwar als ‚Propaganda‘, betonte aber, daß die Irrtumsquote bei den Angaben deutlich unter einem Prozent gelegen habe.“ (Wikipedia zu „Braunbuch“) Warum so verspätet Textprüfung und Ergebnis? Offenbar stand dem das frühzeitig verfügte Staatskonzept inklusive Bewertung früherer Berufstätigkeit seiner Diener immer noch entgegen: „In der Debatte des Bundestages im Oktober 1952 […] gab Adenauer zu, daß die leitenden Stellen des Auswärtigen Amtes zu zwei Dritteln mit ‚Ehemaligen‘ und Parteigenossen besetzt waren. Doch er meinte nur, man habe eben erfahrene Fachleute gebraucht. Er bekam großen Beifall seitens der Regierungsparteien, als er sagte: ‚Ich meine, wir sollten jetzt mit der Naziriecherei mal Schluß machen. Denn verlassen Sie sich darauf: Wenn wir damit anfangen, weiß man nicht, wo es aufhört‘“, so der Deutschlandfunk am 15.03.2011.
Insbesondere die bundesdeutsche Justiz war erheblich aufgeschreckt durch die Materialzuführung aus der DDR. Und ihre Interessenvertretung, der Deutsche Richterbund, ersuchte die Politik, etwas dagegen zu unternehmen, auch mit Empfehlungen, die wiederum das dortige Rechtsstaatlichkeitsprinzip charakterisieren: „‚Die Staatsführung hat bei dem sorgfältigen Neuaufbau des Gerichtswesens die Richter und Staatsanwälte in ihre Ämter berufen und den Richtern die Vollmacht erteilt, im Namen des Volkes Recht zu sprechen. Der Deutsche Richterbund hat das Vertrauen zur Staatsführung, daß sie sich schützend vor die Organe der Rechtpflege stellt, soweit ihnen Unrecht geschieht und die öffentliche Meinung irregeführt wird. Wir bitten daher die Regierung […] die nötigen Schritte zur Erhaltung des öffentlichen Vertrauens zu tun, dessen die Strafrechtspflege zum Wohle des Staatsganzen bedarf …‘. Richtig war, daß die sog. Braunbücher propagandistisch aufgemacht waren, jedoch war der Inhalt, wie die Forschung nunmehr ergeben hat, abgesehen von einigen inhaltlichen Fehlern im Kern richtig.“ (Klaus-Detlev Godau-Schüttke) Konsequenz: Vertriebsverbot in der BRD, auch bei der Frankfurter Buchmesse.
Diese Richter und Staatsanwälte entschieden wieder, zunächst bei Entnazifizierungsprozessen, über Freisprüche, Verurteilungen und Strafmaß im „Namen des Volkes“, auch über Kollegen mit ähnlicher Vergangenheit. Und ethisch noch verwerflicher: Sie saßen schon damals als „Staatsmacht“ auch über Antifaschisten zu Gericht. „‚Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein‘ hatte einer von ihnen, der ehemalige Marinerichter Hans Filbinger befunden, dem nachgewiesen war, daß er an vier Todesurteilen mitgewirkt hatte und den Rolf Hochhuth einen ‚furchtbaren Juristen‘ öffentlich so nennen durfte.“ (Deutschlandfunk, 3. August 2018) In der Bundesrepublik dennoch geeignet, CDU- Ministerpräsident von Baden-Württemberg zu werden. So begann und funktionierte seinerzeit Entnazifizierung als Teil der „Rechtspflege“ in der Bundesrepublik.
Und dann, rund 60 Jahre später, völlig andere Töne: War Albert Norden wieder auferstanden? Wurden die negativ evaluierten Faschismusforscher der ehemaligen DDR rehabilitiert? „Kritiker der Regierungspraxis verweisen nicht nur auf den moralischen Mangel, mit dem die großzügigen Integrationspraktiken die junge Bundesrepublik belasteten. Sie erinnern auch daran, daß die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums durch das sogenannte 131er-Gesetz und die dadurch ermöglichte Wiedereingliederung Zehntausender ehemaliger Nationalsozialisten in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik alle späteren Versuche, nationalsozialistisches Unrecht aufzuarbeiten und zu sühnen, erheblich behinderten. Denn in den zuständigen Ministerien, bei der Polizei an den Gerichten und in den Staatsanwaltschaften saßen im Zweifelsfall Männer – und kaum Frauen – die selbst keine weiße Weste hatten, sondern eine mit mehr oder weniger großen braunen Flecken.“ So Stefan Creuzberger und Dominik Geppert 2018 in der Einleitung eines Endprodukts wissenschaftlicher Veranstaltungen des „Konrad Adenauer Hauses“ und gefördert von der „Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien“ („Die Ämter und ihre Vergangenheit“).
Was war geschehen? Mit der DDR waren nicht nur deren wissenschaftliche Ergebnisse liquidiert, sondern es erfolgte teilweise deren unautorisierte Einebnung und aktuelle politische Nutzung gemäß bundesdeutscher Traditionserlasse. Folgerichtig heißt denn auch der einleitende Beitrag „Das Erbe des NS-Staats als deutsch-deutsches Problem“ – dennoch also freundliche Zusammenführung mit Ausgleich gegenseitiger Mängel?
Wenn schon Delegitimierung, dann lückenlos, hier so begründet: „Und die Tatsache, daß die SED aus allen Rohren gegen die Präsens von alten Nazis in allen Bereichen der Gesellschaft und des Staates geschossen hat, die hat aber dazu beigetragen, daß dieses Thema also weniger gründlich diskutiert wurde beziehungsweise verspätet diskutiert wurde. Das ist es dann aber auch.“ So von Christoph Kleßmann, einem „der besten Kenner der Beziehungsgeschichte der beiden deutschen Staaten“ (Wikipedia), am 18.Oktober 2015 im Deutschlandfunk. In der Sache wohl zutreffend. Aber was bedeutet diese Offenbarung für das Wissenschaftsverständnis der bundesdeutschen Historiker, für die es nach Selbstverständnis und ständiger Verkündung weder politische Auflagen noch „die Schere im Kopf gab“? Warum sprang die Mehrzahl, sich als vorurteilslose Wissenschaftler verstehend, denn nicht über „den eigenen Schatten“, zumal es den doch gar nicht gab?
Vielleicht wäre eine gesamtdeutsche Erforschung der gegenwärtigen Periode hinsichtlich der Vergangenheit möglich, die nicht mehr von dem Widerspruch der materiellen und geistigen Verfaßtheit in zwei deutschen Staaten dominiert wird? Also eines Ansatzes in Bezug auf die „wahren“ oder eben auch die „vermeintlichen Gründe“ (Werner Konitzer u.a.) für Absicht, Ziel und bisheriges Zwischenergebnis von inneren und äußeren Faktoren zum besseren Verständnis unserer Gegenwart? Die aktuelle Verkündung „Es ist erreicht“ erwies sich schon mehrfach als folgenschwerer Irrtum statt angestrebter Auflösungen von Dilemmata.
Stefan Creuzberger / Dominik Geppert (Hrsg.): Die Ämter und ihre Vergangenheit, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2018, 214 Seiten, 49,91 Euro.
Werner Konitzer u. a.: Vermeintliche Gründe, Campus-Verlag, Frankfurt 2020, 488 Seiten, 39,95 Euro.
Schlagwörter: Braunbuch, BRD, Entnazifizierung, Herbert Bertsch, Norbert Podewin