Geben Sie Gedankenfreiheit“, fordert der Marquis von Posa den spanischen König Philipp II. auf, in Friedrich Schillers Stück „Don Karlos“. Das erschien 1787 in Leipzig, zwei Jahre vor der französischen Revolution. Es war die Forderung der Aufklärung nach einem Staat, der sich an die Gesetze der Freiheit und der Menschenrechte bindet. Einhundertfünfzig Jahre kämpften die Freigeister, in Deutschland und anderen Ländern, um die Gedankenfreiheit und die Abschaffung der Zensur. Hierzulande ist die Gedankenfreiheit im Grundgesetz, Artikel 5, verfassungsrechtlich verankert: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […]. Eine Zensur findet nicht statt. […] Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Zu den erstaunlichen Phänomenen dieses 21. Jahrhunderts gehört, dass nicht mehr der Staat der Träger einer immer engeren Einschränkung der Gedankenfreiheit und der Wiedereinführung von Zensur ist, sondern ein lauthals pöbelnder Flügel der sogenannten Zivilgesellschaft. Und der heutige Staat steht eher hilflos dabei.
Zwei Beispiele in jüngerer Vergangenheit haben das deutlich gezeigt. Die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhardt, die allen politisch korrekten Satire-Konsumenten in Deutschland bereits negativ aufgefallen war, weil sie sich nicht mit seichten, staatstragenden Witzchen über Trump, die AfD und die Corona-Leugner begnügt, sondern auch über die MeToo-Bewegung und die deutsche Flüchtlingspolitik herzog. Sie war zu einer Lesung in Hamburg eingeladen worden. Dann wurde sie wieder ausgeladen. Anlass war ein Auftritt im September 2018, der zwar schon ewig lange im Internet geschlummert hatte, von dem jetzt aber befunden wurde, der sei „antisemitisch“. Die Hamburger Veranstalter verlautbarten, es sei „zu Drohungen aus der autonomen Szene“ gekommen, weshalb man für die Sicherheit der Lesenden und des Publikums nicht garantieren könne. Offenbar geht man dort davon aus, dass der randalierende und brandfackelnde Mob in Hamburg, dessen handlungsorientiertes Wirken man beim G20-Gipfel besichtigen konnte, dort gewissermaßen zur örtlichen Folklore gehört, der man unbedingt Rechnung tragen muss.
Verteidigung für Eckhardt gab es aus der Zivilgesellschaft, hier von den Verteidigern der Freiheit des Wortes in der Presse. Götz Aly schrieb in der Berliner Zeitung: „Unser weltanschaulicher Wachschutz wurde der angeblich antisemitischen Sätze erst 18 Monate später gewahr.“ Offenbar geht es auch um Neid: „der Erfolg einer ausländischen, irgendwie rätselhaften Frau scheucht die heimischen Neider aus ihren Schnarchkojen – gerade so, als gelte es, einen Führerbefehl zu exekutieren“. André Mielke (ebenfalls Berliner Zeitung), der auf seiner Sozialisation in der DDR besteht, vergleicht diese Hamburger „linken“ Autonomen mit der DDR-Praxis, wo jeder Unterhaltungskünstler eine amtliche Zulassung brauchte. Es läuft darauf hinaus, dass man „künftig eine örtliche Sturmhaubenexekutive – oder noch erbärmlicher, die vorauseilende Furcht davor – regeln ließe, wer wann wo auftreten darf“. Als Alternative schlägt er vor, im Sinne von „Keine Gewalt“ „Stadtviertelkulturduldungskommissionen“ zu bilden.
Kurz zuvor hatte es einen Eklat um den Kabarettisten Dieter Nuhr gegeben. Die „Deutsche Forschungsgemeinschaft“ (DFG) hatte aus Anlass ihres 100-jährigen Bestehens eine Werbekampagne für sich machen wollen und Nuhr um ein kurzes Statement gebeten, das auch ins Netz gestellt wurde. Kurz darauf meldete sich ein „Shitstorm“, der nichts gegen die Aussagen von Nuhr, sehr wohl aber etwas gegen seine Person vorzubringen wusste. Die DFG knickte ein und nahm Nuhr vom Netz. (Nachfolgende halbherzige Entschuldigungen sind hier irrelevant.) Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte: „Der Vorfall zeigt exemplarisch, warum es falsch ist, den Forderungen eines Online-Mobs Folge zu leisten. Es geht dabei fast nie um Argumente und fast immer darum, dass einer vermeintlich falschen Person eine ‚Bühne‘ geboten wird.“ Wir haben es mit einer „Cancel-Culture“ zu tun. „Ein Online-Mob will keinen Meinungsaustausch. Er will die Person, über die er sich empört, entlassen oder gelöscht sehen. Diesen Gefallen darf man ihm nicht tun, weil er sonst bei nächster Gelegenheit wiederkommt und weitere Köpfe fordert.“
Bei all dem hat längst eine „Beweisumkehr“ stattgefunden. Im bürgerlichen Rechtsstaat, wie er in Deutschland seit Immanuel Kant eingeführt wurde, muss die Klagebehörde dem Angeklagten seine Schuld nachweisen, damit er verurteilt werden kann. Bei der Heiligen Inquisition musste der Beschuldigte seine Unschuld beweisen, und die Denunziation war auch inkognito möglich. In Deutschland wurde nach der deutschen Vereinigung in den Stasi-Angelegenheiten erstmals nach 1945 das Inquisitionsprinzip eingeführt. In den USA wurde es mit der MeToo-Bewegung getan. Der Online-Mob will es verallgemeinern.
Hier gilt, was Gustave Le Bon in seinem Klassiker „Psychologie der Massen“ bereits 1895 schrieb, nämlich, „dass der einzelne in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher Macht erlangt, welches ihm gestattet, Trieben zu frönen, die er für sich allein notwendig gezügelt hätte. Er wird ihnen um so eher nachgeben, als durch die Namenlosigkeit und demnach auch Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefühl, das die einzelnen stets zurückhält, völlig verschwindet.“ Die Anonymität des Internets vollendet die Zügellosigkeit durch Unverantwortlichkeit. Elias Canetti betonte in diesem Sinne die „Urteilskrankheit“. „Das Urteilen über ‚Gut‘ und ‚Schlecht‘ ist das uralte Mittel einer dualistischen Klassifikation, die aber nie ganz begrifflich und nie ganz friedlich ist.“ Nie ganz begrifflich meint, es ist nie nur eine Frage von Worten, sondern es läuft auf Taten hinaus, die in der Regel unfriedlich sind. Canetti nennt dies „die Neigung zur feindlichen Meutenbildung“.
Die „feindliche Meutenbildung“, die aus der „Zivilgesellschaft“ herauswächst, ist heute die größte Gefahr für die Gedankenfreiheit, die Freiheit des Wortes, der Kunst und der Wissenschaft. Nicht nur wenn sie „rechts“ ist, da erwartet man es ohnehin, sondern auch dann, wenn sie vorgibt, „links“ zu sein.
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