Es ist eine aparte historische Pointe: je weiter die DDR im Nebel der Geschichte verschwindet, desto mehr wird sie zu jenem Phänomen, als das sie einst von Kurt Georg Kiesinger – trotz NS-Vergangenheit zum CDU-Bundeskanzler gekürt und dann wegen dieser Vergangenheit von der Antifaschistin Beate Klarsfeld 1968 geohrfeigt öffentlich – bezeichnet wurde. Bei Kiesinger war das ein verbaler Taschenspielertrick, mit dem er sich zwischen den von Axel Springer eingeführten Anführungszeichen rechts und links des Kürzels DDR und der politischen Realität platzierte. Jene DDR vermochte erst Kiesingers Nachfolger Willy Brandt soweit anzuerkennen, dass jener „Wandel durch Annäherung“ in Gang gesetzt werden konnte, der letztlich sein Ziel erreicht hat.
Dreißig Jahre nach der Selbstauflösung der DDR sind deren Spuren an der Alltagsoberfläche kaum noch zu erkennen. Zumindest das äußere Bild vieler Städte im Osten übertrifft an Attraktivität oft das vergleichbarer Kommunen im Westen der Republik. Sie ähneln oft mehr einer bayerischen oder südwestdeutschen Idylle, als ihrer eigenen Nachkriegsvergangenheit. Nur ohne die wirtschaftswunderlichen westdeutschen Bausünden.
Bei den Menschen im Osten Deutschlands aber brechen nach 30 Jahren immer noch Verwundungen auf und machen übertünchte Verwerfungen sichtbar. Das führt auf der einen Seite zu einer nachholenden Identifikation mit dem gescheiterten Versuch einer Alternative zum Kapitalismus. Auf der anderen Seite treibt das den rechten Rattenfängern Wähler zu, die jetzt eine Alternative zu dem Deutschland herbei brüllen, das in seinem liberalen, weltoffenen Selbstverständnis nicht nur von seiner ökonomischen Macht profitiert, sondern auch bei europäischen und globalen Problemlösungen als Partner oder gar Protagonist gefordert ist.
Das Bild der DDR und die Erinnerung der dort Sozialisierten, ja selbst die Reflexion ihrer Erosion und ihres Endes, reduziert sich im Diskurs der westdeutsch geprägten Mehrheitsgesellschaft immer mehr auf den Fall der Mauer und einen quasi naturnotwendigen und folgerichtigen Beitritt der neu gegründeten Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, was mit dem gängigen Begriff der Wiedervereinigung ja nicht wirklich treffend erfasst ist. Damit wird jedoch – das ist das Anliegen von Thomas Oberenders kleinem Bändchen „Empowerment Ost. Wie wir zusammenwachsen“ – das Außerordentliche und Nachwirkende der historisch kurzen Phase zwischen September 1989 und März 1990 ausgeblendet, in der der Zeitgeist gleichsam noch nicht auf die Reset-, sondern erst einmal auf die Stopptaste der Geschichte gedrückt hatte.
In der Rückbesinnung auf das emotionale und politische Potential dieser Periode und dessen Ummünzen in eine alternative demokratische Kreativität sieht Oberender eine Quelle, um der im Osten allenthalben spürbaren Frustration mit dem Verlauf der Transformation mit Selbstbewusstsein zu begegnen. „Die [negativen Aspekte – J.L.] waren eben nicht alles. Es gab daneben eine Parallelwelt der Familie, der Ideen, der Jugendkultur, auch einer Redlichkeit im Alltag, die dazugehört zu diesem Land und diesem Leben. Das müssen wir stärken.“
Das 112-seitige Bändchen, das der aus Jena stammende Intendant der Berliner Festspiele aus einem Vortrag in Griechenland über seine Sicht der gegenwärtigen deutsch-deutschen Befindlichkeiten gemacht hat, eignet sich gut als eine subjektive Einstimmung auf das umfassende Werk des emeritierten Geschichtsprofessors Gerd Dietrich: „Kulturgeschichte der DDR“. Oder anders: Die Kulturgeschichte der DDR ist ein geeignetes Fundament, um sich auf den spezifisch ostdeutschen Beitrag zur deutschen Nachkriegsgeschichte zu besinnen, wie es Oberender anregt.
Der in Rudolstadt geborene Historiker Dietrich war bis 2010 einer der wenigen ostdeutschen Hochschullehrer an der Berliner Humboldt-Universität. Dass er sein Standardwerk in den Jahren nach seiner Emeritierung, gleichsam auf eigene Rechnung, verfasst hat, zeugt vom persönlichen Engagement für ein Lebenswerk.
Die drei Bände mit ihren insgesamt 2430 Seiten sind chronologisch gegliedert, zielen auf einen umfassenden Kulturbegriff und folgen einer Methodik, die im Vorwort ausführlich erörtert wird. Dietrich nimmt dabei nicht die Perspektive eines Betrachters ein, der vom Ergebnis eines historischen Prozesses aus alles darauf zutreiben sieht. Seine Perspektive ist die des Zeitgenossen, für den das Ende noch offen ist. So lassen sich die offensichtlichen oder im Verborgenen verfolgten Motive der Akteure von Entscheidungsprozessen ebenso nachvollziehen, wie die Reaktionen all jener, die von den Entscheidungen betroffenen waren. Dass sich der heutige Leser in der Position eines Zuschauers befindet, der diesen „Tatort“ zwar schon mal gesehen hat, sich auch an das Ende erinnert, aber nicht alle Details der Geschichte parat hat, spricht eher für, als gegen das Verfahren Dietrichs.
Am Ende seines Vorwortes, das man als Einstieg aufmerksam lesen sollte, stimmt der Autor seine Leser – mit dem von Günter Kunert geborgten Bonmot – auf „Nachrichten aus Ambivalencia“ ein!
Was dann folgt ist weit mehr als ein Abriss der Kulturpolitik mit all ihren Restriktionen und jähen Wendungen. Dietrich versucht detailliert, auch die Alltagskultur der Menschen zu erfassen. Man bekommt ein Gefühl dafür, was dieser diktatorisch pädagogische Versuch von Moderne (oder ihrer Imitation) für den Einzelnen bedeuten konnte. Aber nicht minder, dass „diese moderne Diktatur neben ihren repressiven Funktionen zugleich wesentliche Transformations-, Bildungs- und Wohlstandseffekte entwickelte“.
In der für einen Historiker unvermeidlichen Periodisierung nennt er die Zeit von 1945 bis 1957 „Übergangsgesellschaft“, die von 1958 bis 1976 „Bildungsgesellschaft“ und die Zeit ab 1977 bis zum Ende der DDR 1990 „Konsumgesellschaft“. Dabei wird jeweils neben der politischen die Hoch- und die Populärkultur abgehandelt.
Mit der Solidität des Wissenschaftlers, der verstanden werden und sein Werk dem Leser handhabbar nahebringen will, ist jeder Band mit einer Einleitung und einer kulturpolitischen Bilanz versehen. Damit eröffnen sich mehrere Zugänge. Man kann sich schnell einen Überblick verschaffen. Oder man greift zunächst die Kapitel heraus, die sich besonders in die Erinnerung eingebrannt haben, und begibt sich auf eine Exkursion in die eigene Vergangenheit. Das ist trotz einer imponierenden Opulenz an Material immer auch gut lesbar.
Unter der Überschrift „Ein kulturpolitisches Autodafé“ etwa wird das berüchtigte 11. Plenum geschildert, mit dem die Führung der SED im Dezember 1965 jede Liberalisierungstendenz in der Kulturpolitik abwürgte. Geprügelt wurde die Kultur, gemeint waren damit aber die eigenständige Ansätze in der Ökonomie und Gesellschaftspolitik und damit jener „kurze Sommer der DDR“ (so der Titel von Gunnar Deckers spannender Monographie zum gleichen Thema, Carl Hanser Verlag 1995), dem ein ziemlich rauer Herbst folgte. Bei Dietrich ist das der dramatische Schlusspunkt unter dem 90-seitgen Kapitel „Die Künste unterwegs zum Widerspruch“.
Der zweite Band endet mit der Biermann-Affäre von 1976. Inklusive des Wortlauts der Protesterklärung der Künstler gegen die Ausbürgerung und eines Überblicks über die gegebenen und zurückgezogenen Unterschriften und der von Manfred Krug initiierten (und mitgeschnittenen) Diskussionen mit dem damaligen Kronprinzen von Parteichef Honecker, Werner Lamberz. Was die Beteiligten für den Anfang von etwas Neuem hielten, war aus heutiger Sicht der Anfang vom Ende. Der Weg dorthin füllt freilich noch einmal einen ganzen Band. Mit all seinen Anpassungsversuchen von oben und Lernprozessen demokratischen Aufbegehrens von unten. Solange, bis die Herrschenden nicht mehr konnten und die Beherrschten nicht mehr wollten.
Ein Hauptverdienst von Dietrich ist es, nicht nur diesem Widerspruch nachzuspüren, sondern auch all das im Gedächtnis zu bewahren, was sozusagen als Bewegungsform dieses Widerspruchs an Leistungen und individuellem Freiraum zu erstreiten möglich war.
Es war überfällig, dass endlich ein inmitten seines Gegenstandes sozialisierter Historiker wie Gerd Dietrich mit dieser „Kulturgeschichte der DDR“ eine Lücke geschlossen hat. Gerade noch rechtzeitig für die Generationen, die diese Geschichtsschreibung mit der eigenen Lebenserfahrung vergleichen kann. Für die später Geborenen liefert Dietrich jede Menge Einblicke, die mit vielen Vorurteilen aufräumen dürfte. Mit dem schlichten Nicht-Wissen sowieso.
Thomas Oberender: Empowerment Ost: Wie wir zusammenwachsen, Tropen-Verlag, Stuttgart 2020, 112 Seiten, 12,00 Euro.
Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR, Band I: Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945–1957, Band II: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1958–1976, Band III: Kultur in der Konsumgesellschaft 1977–1990, Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2018, 2494 Seiten, 120,00 Euro.
Schlagwörter: DDR, Gerd Dietrich, Joachim Lange, Kulturgeschichte, Thomas Oberender