23. Jahrgang | Nummer 15 | 20. Juli 2020

Was richtig ist

von Arno Widmann

Wenn es keine Zweistaatenlösung geben kann, was wird dann aus Israel? Dieser Frage geht der Philosophie-Professor Omri Boehm in seinem neuen Buch nach – und findet die Anwort in Haifa.

Der 1979 in Haifa geborene, an der New School for Social Research in New York lehrende Professor für Philosophie, Omri Boehm, schreibt für Haaretz, die New York Times und Die Zeit über israelische Politik. Gerade ist – übersetzt aus dem Englischen von Michael Adrian – im Propyläen-Verlag sein Buch „Israel – Eine Utopie“ (256 Seiten, 20 Euro) erschienen.

Boehm, der beim israelischen Geheimdienst Shin Beth diente, liebt Klarheit. Er will sich nichts vormachen lassen. Also stellt er fest: Es wird keinen palästinensischen Staat geben. Die Zweistaatenlösung ist aus dem Rennen. Seit Jahren wird sie von niemandem mehr ernsthaft verfolgt. Stattdessen hat der Staat Israel alles getan, um sie zu hintertreiben. Boehm schreibt: „Bei der Unterzeichnung des ersten Oslo-Abkommens 1993 lebten im Westjordanland etwa einhunderttausend Siedler sowie 146.000 weitere in besetzten Gebieten rund um Jerusalem. Unter dem Deckmantel eines angeblich immer noch ernst gemeinten Friedensprozesses sind diese Zahlen auf unumkehrbare vierhunderttausend Siedler im Westjordanland und dreihunderttausend im besetzten Jerusalemer Umland gestiegen.“

Israels zentrales Statistikamt meldet, Israel habe 8,84 Millionen Einwohner, von denen 74,5 Prozent jüdisch und 20,9 Prozent arabisch seien. Die rund 700.000 jüdischen Siedler sind in der Zahl enthalten. Nicht enthalten sind „rund drei Millionen Palästinenser, die auf demselben Territorium leben … während die israelischen Siedlungen auf den Karten verzeichnet sind, fehlen die palästinensischen Städte und Dörfer komplett.“ Insgesamt leben also in Israel „nicht 8,84, sondern rund 11,84 Millionen Menschen, von denen etwa 55 Prozent Juden und 45 Prozent Araber sind.“

Omri hält auch die Rede vom jüdischen demokratischen Staat für eine Lüge. In einer Demokratie, erklärt er, haben alle Staatsbürger gleiche Rechte. Ein jüdischer Staat kann keine Demokratie sein. In einer Demokratie werden die Staatsbürger nicht nach ihrer Glaubenszugehörigkeit oder Ethnie unterschieden.

Wer die Lage sieht, wie sie ist, macht sich Sorgen. Also sorgt Omri Boehm sich um Israel. Aber er ist kein Griesgram, also hat er Hoffnung, ja sogar eine Utopie. Er hat Witz und stellt darum seinem Buch das Motto von Theodor Herzl voran: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“ Es war das Motto für den „Judenstaat“.

Omri Boehm funktioniert es radikal um. Er plädiert für die Abschaffung des Judenstaates. An seine Stelle soll die von ihm sogenannte „Republik Haifa“ treten. Nicht in Jerusalem oder in Tel Aviv, sondern in Haifa „bekommt man einen Vorgeschmack, wie eine palästinensisch-jüdische Zusammenarbeit eines Tages aussehen könnte“. Hier arbeiten in den besten Krankenhäusern des Landes jüdische und palästinensische Ärzte zusammen, „arabische und jüdische Patienten liegen hier Seite an Seite“.

Boehm fährt fort: „Am wichtigsten aber sind wohl die arabischen Cafés auf der Masada-Straße (in einem jüdischen Teil der Stadt), in denen das wahre Potenzial einer kosmopolitischen anstatt jüdischen Stadt zu spüren ist, wo Nachbarn, Araber und Juden, wie selbstverständlich die Liebe, das Leben und das Gespräch miteinander teilen.“

Boehm skizziert seine Utopie von der Republik Haifa in zwölf Punkten. Die ersten Sätze lauten: „Die militärische Besatzung des Westjordanlandes und die Belagerung des Gazastreifens werden beendet. Zwei Staaten, Israel und Palästina, werden in der geografischen Einheit, die sich zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer erstreckt, zu einer Föderation vereint. Die Grenze zwischen beiden Staaten wird sich an der „grünen Linie“ von 1967 orientieren. In jedem dieser Staaten wird jedes dieser Völker, die Juden und die Palästinenser, seine eigene kulturelle und nationale Selbstbestimmung ausüben. Eine gemeinsame Verfassung, der die Legislative, Exekutive und Judikative jedes Staates unterliegen, definiert und gewährleistet die Einheit beider Staaten. Die Verfassung wird grundlegende Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Trennung von Kirche und Staat, demokratische Wahlen, unparteiische Rechtsstaatlichkeit und individuelle Gleichheit aller Staatsbürger unabhängig von Ethnie. Religion, Geschlecht oder Staatsangehörigkeit sowie die volle Anerkennung der nationalen Rechte von Juden und Palästinensern garantieren.“ Soviel Verfassungspatriotismus war nie. Es ist auch nicht ganz zu begreifen, warum die Abschaffung des jüdischen Staates leichter zu bewerkstelligen sein soll als eine Gebietsabtretung. Aber das ist nicht die Frage, die Omri Boehm sich stellt. Er fragt danach, was richtig sei. Die Zweistaatenlösung wäre keine, denn da stünden ein jüdischer und ein palästinensischer Staat einander gegenüber. Beide würden in dieser Gegenüberstellung einander immer mehr profilieren, wären einander womöglich immer feindlicher gesonnen.

Das widerspricht radikal dem zionistischen Programm?

Nein, sagt Omri Boehm. Theodor Herzl stellte sich nicht immer Palästina als einzig mögliche jüdische Heimstatt vor. Sein Traum war kein homogener Staat. Manchmal dachte er an so etwas wie eine jüdische Schweiz, und das „Altneuland“, das Herzl in seinem Roman von 1902 vorstellte, war laut Wikipedia „kein Staat, sondern ein genossenschaftlich organisierter Großkonzern, der mit dem Osmanischen Reich einen Besiedlungsvertrag geschlossen hat und außer der Zahlung einer jährlichen Abgabe mit dem Staat nichts zu tun hat“. Das zionistische Projekt unterschied sich lange nicht sehr von sozialistischen Siedlungen wie die Saint-Simonisten und Robert Owen sie versucht hatten.

Einer der Gründerväter des Staates Israel David Ben-Gurion (1886–1973) hatte noch während des Ersten Weltkrieges erklärt, es sei nicht „unsere Absicht, die Araber zu verjagen, zu enteignen und ihr Land zu übernehmen“. Er änderte 1937 seine Auffassung. Die Ursache war: Am 7. Juli 1937 schlug die Peel-Kommission erstmals die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat vor. Gedacht war dabei auch an ethnische Säuberungen. Der „Bevölkerungstransfer“ hätte ca. 225.000 Araber auf der einen und 1250 Juden auf der anderen Seite betroffen. Ben-Gurion erklärte begeistert: „Die Zwangsumsiedlung der Araber aus den Tälern des vorgeschlagenen jüdischen Staates“ – gemeint ist Galiläa – „könnte uns zu etwas verhelfen, was wir nie hatten. Uns wird eine Gelegenheit geboten, von der wir in unseren kühnsten Fantasien nicht zu träumen wagten… Jeder Zweifel unsererseits an der Notwendigkeit dieser Umsiedlung, jeder Zweifel, den wir an der Möglichkeit ihrer Durchführung aufwerfen, jede Unsicherheit unsererseits über ihre Gerechtigkeit könnte (uns) um eine historische Chance bringen, die vielleicht nicht wiederkehren wird. (…) Falls es uns nicht gelingt, die Araber aus unserer Mitte zu entfernen, wenn eine königliche Kommission diesen Vorschlag England unterbreitet, und sie in arabisches Gebiet umzusiedeln – das wird nicht leicht (und vielleicht überhaupt nicht) zu erreichen sein, wenn der [jüdische] Staat erst einmal errichtet ist … Das muss jetzt getan werden – und der erste Schritt – vielleicht der entscheidende – besteht darin, uns für (die) Durchführung zu rüsten.“

Die Durchführung fand während des sogenannten Israelischen Unabhängigkeitskrieges 1947/48 statt. Zu ihm gehörte das Niederbrennen von Dörfern, Erschießungen der Bewohner, Vergewaltigung der Frauen. Darum nennen die Palästinenser das Ereignis „Nakba“, Katastrophe.

Im April 1948 stürmten jüdische Truppen Haifa, wo mehr als dreißig Jahre später Omri Boehm geboren wurde. Innerhalb weniger Tage wurden 67.000 von den 70.000 palästinensischen Einwohnern der Stadt verjagt und getötet. Die spätere israelische Premierministerin Golda Meir (1898–1978) war kurz nach der Übernahme Haifas durch jüdische Truppen dort und erklärte im Mai 1948: „Die tote Stadt bietet einen entsetzlichen Anblick. In der Nähe des Hafens fand ich Kinder, die Alten, die auf eine Möglichkeit warteten, wegzukommen. Ich ging in die Häuser, es gab Häuser, in denen noch Kaffee und Pitabrot auf dem Tisch standen, und konnte mir (den Gedanken) nicht verkneifen, dass dies in der Tat das Bild in vielen jüdischen Städten (im Zweiten Weltkrieg in Europa) gewesen war.“ Ich schlage nach: Golda Meir hatte mit fünf Jahren Europa verlassen und war mit ihren Eltern in die USA gezogen. 1921 war sie nach Palästina gekommen. Sie konnte also nicht wirklich vergleichen. Aber sie tat es trotzdem. Das war damals selbstverständlich. Der Holocaust war noch nicht zu etwas Unvergleichlichem, zu einem Fetisch geworden, sondern erschreckend präsent. Noch trennte ihn kein Abgrund von den eigenen Untaten.

Der israelische Staat ist ein Produkt von Holocaust und Nakba. Die weitgehende Vernichtung der europäischen Juden durch Nazideutschland führte den überlebenden Juden vor Augen, dass sie ohne eigenen Staat, ohne Militär und Gewalt niemals aufhören würden, Opfer zu sein. Mit der weitgehenden Vertreibung der Palästinenser wurden sie zu Tätern und errichteten ihren Staat. Beides lässt sich nicht rückgängig machen. Beides muss erinnert und muss vergessen werden. Anders gibt es, so fürchtet, so schreibt Omri Boehm keine Zukunft für Israel. Wie schädlich, wie selbstzerstörerisch das Erinnern ist, das die andere Seite vergisst, zeigt Omri Boehm in seinem eindrücklichen Buch, das ganz sicher zu den wichtigsten dieses Jahres zählt.

Berliner Zeitung, 04./05.07.2020, Magazin. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages und des Autors.