Der Begriff Inflation leitet sich ab vom lateinischen „inflare“ und bedeutet sich aufblasen, schwellen. In der Volkswirtschaftslehre versteht man darunter, dass sich die Geldmenge aufbläht und sich das Preisniveau – der Durchschnitt der Preise – erhöht. Sie ist gleichbedeutend damit, dass die Kaufkraft des Geldes sinkt. Steigt die Geldmenge, nicht aber die Preise, spricht man von einer „zurückgestauten“ Inflation. Landläufig wird oft die Inflation als Anstieg einzelner Preise verstanden. Die Statistik ermittelt ihre Höhe, indem sie misst, wie sich Preise für repräsentative Güter und Leistungen der Lebenshaltung geändert haben. Die Konsumenten nehmen die Höhe der Inflation wahr auf der Grundlage ihres individuellen Warenkorbs.
Ein Grund für die Abweichungen der „gefühlten Inflation“ zur gemessenen Inflation ist der Unterschied zwischen individuellem und dem durchschnittlichen Warenkorb. Der Letztere dient der Statistik dazu, die Inflationsrate zu berechnen. Die Produkte des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel sowie langlebige Konsumgüter wie Autos, Fernseher, Computer, Waschmaschinen sind in den individuellen Warenkörben der Konsumenten in anderer Zusammensetzung enthalten als im durchschnittlichen. Ärmere Haushalte geben einen höheren Anteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus als die Reichen. Preisänderungen für Waren, die sie täglich kaufen, nehmen die Kunden intensiver wahr als diejenigen für langlebige Konsumgüter, die sie nur in größeren Abständen erwerben. Die „gefühlte“ Inflation ist höher als die gemessene, wenn die Preise für Waren des täglichen Bedarfs stärker steigen als die der langlebigen Konsumgüter.
Der Unterschied zwischen „gefühlter“ und gemessener Inflation verwirrt viele Menschen. Sie fragen sich, ob die offiziellen Preissteigerungsraten richtig sind. Momentan beträgt der Grad der statistisch ausgewiesenen Preissteigerung 1, 4 Prozent (2019). Konsumenten merken, dass im Gegensatz dazu Preise für zahlreiche Güter teilweise drastisch steigen. Viele bezweifeln, dass das bekannt gegebene Ausmaß der Inflation korrekt sein kann. Unmittelbar nach der Einführung des Euro mussten sie feststellen, dass bei etlichen Gütern und Leistungen, wie Eintrittskarten für kulturelle Veranstaltungen, Obst und Gemüse, Kraftfahrzeugen, Schuhen, Wohnhäusern und vielen anderen, nur der Name der Währung gewechselt wurde, die Zahl aber stehenblieb. Längst hat man sich daran gewöhnt, dass ein Auto der Mittelklasse, das einst 30.000 DM kostete, heute unter 35.000 Euro nicht zu haben ist. Trotzdem behaupten Politiker und „Geldexperten“, dass die Inflation geringer sei als die „wahrgenommenen“ oder die „gefühlten“ Preissteigerungen. Beide Betrachtungsweisen schließen sich scheinbar aus. Und doch sind beide richtig.
Die deutsche Statistik ermittelt die durchschnittliche Preisentwicklung für einen Warenkorb aus 750 Gütern. Den Käufern dagegen werden Einzelpreise bewusst. Das Problem kann schon an einem „Warenkorb“ mit zwei Gütern erklärt werden:
Kostete 1 kg Beeren vorher 2,00 Euro, nachher 4,00 Euro, so beträgt die Preissteigerung +100 Prozent.
Kostete ein Moped zunächst 1500,00 Euro, dann 1425,00 Euro, so sinkt der Preis um 5 Prozent.
Der Warenkorb dieser zwei Produkte würde zunächst 1502,00 Euro betragen, dann auf 1429,00 Euro sinken. Das machte dann eine Preissteigerung von -4,9 Prozent.
Die Inflationsrate als die volkswirtschaftliche Durchschnittsrate eines Warenkorbs sinkt, obgleich in ihre Bestimmung Waren eingehen, deren Preise sich mehr als verdoppeln können. Die Crux der Makrowerte ist das Durchschnittsproblem: Die Kuh ist ersoffen, obwohl das Wasser durchschnittlich nur 60 cm tief ist. Wo das Unglück geschah, betrug die Flusstiefe drei Meter. Den Kunden werden über hohe Preise Einkommen entzogen, obgleich die durchschnittliche Preissteigerungsrate nur gering ist. Normal: Die Inflationsrate kann sinken, obgleich in ihre Bestimmung Waren eingehen, die teurer geworden sind. Das hat jeder Durchschnitt so an sich. Je nach individuellem Warenkorb trifft die Verbraucher die Inflation unterschiedlich stark. Das ist ein Grund für die Kluft zwischen Erfahrung und offizieller Zahl.
Doch, so muss man fragen, ist die Inflation tatsächlich so niedrig, wie die offizielle Statistik verkündet? Zweifel sind begründet. Wenn, wie im Kapitalismus, gelogen, betrogen, geheuchelt und manipuliert wird, sollte man misstrauisch sein. Die Politik und Unternehmen haben ein elementares Interesse daran, die Verbraucherpreise niedrig auszuweisen. Ihr Anstieg ist für die Gewerkschaften ein Grund, höhere Löhne zu fordern. Könnten sie überzeugt werden, dass die Inflation nahe Null liegt, entfiele ein Argument für höhere Löhne und höhere Sozialleistungen.
Es scheint, als bediene die Statistik dieses Interesse. Preise steigen unaufhörlich. Autos, Schuhe, Blumen, Benzin, Heizöl, viele Nahrungsmittel und Karten für das Fest der Volksmusik kosten in Euro heute mehr als einst in DM. Von wegen ein bis zwei Prozent! „Wirtschaftsfachleute“ nennen das herablassend die „gefühlte“ Inflation – ein irreführender Begriff. Mit ihm sollte der Eindruck erweckt werden, dass die „Fühlenden“ sich täuschten. Aber schließlich fühlt man nicht, dass im Portemonnaie oder auf dem Konto 100 Euro fehlen, sondern stellt es fest.
Wie wird die Inflationsrate ermittelt? Die Statistik lässt sich die Preise von Unternehmen mitteilen. In welchen Läden die Preise für welche Käsesorten erfragt und ob die Preise für Brot im Supermarkt oder beim Biobäcker erkundet werden, ist nicht bekannt. Der Durchschnittspreis steigt schwach, wenn technische Güter einbezogen werden, deren Preise geringer steigen als die der Güter, die man häufiger kauft. Noch schwächer, wenn Sonderposten und Lockvogelangebote berücksichtigt würden, die nur kurze Zeit gelten. Es ist anzunehmen, dass Unternehmer den Statistikern hohe Preissteigerungen verschweigen. Wer will schon als Preistreiber gelten? Statistiker üben sich darüber hinaus in „stabilisierender Kreativität“, halten den Anteil der Waren und Dienstleistungen mit großen Preissprüngen klein, den mit stabil niedrigen Preisen hoch. Folker Hellmeyer von der Bremer Landesbank zeigt, wie die Amerikaner die Inflationsraten verkleinern. Wenn sich Rindfleisch um 30 Prozent verteuere, Pute aber nur um 2 Prozent, werde im Warenkorb Rindfleisch durch Pute ersetzt, obwohl die Leute weiter Rind kaufen (Hellmeyer, Endlich Klartext, München 2012). Der Clou ist die sogenannte hedonische Preisbereinigung: Ein angenommener Zuwachs an Qualität fließt in die Berechnung des Preises ein. Ein Computer, der heute wie einst 1000 Euro kostet, aber doppelt so leistungsfähig wie das Vorgängermodell sein soll, wird nur mit 500 Euro berücksichtigt. Schließlich bekomme die Käuferin für denselben Preis etwas doppelt so Gutes.
Seit der Einführung des Euro im Jahr 2002 ist diese Methode der Inflationsmessung auch in Deutschland üblich. Sie bewirkt, dass die Inflation zu niedrig ausgewiesen wird. Der Zweck der geschönten Zahlen: Je niedriger angeblich die Inflation, umso leichter ist es, angemessene Lohnforderungen als überzogen zu bezeichnen und die Anpassungen der Renten im Zaum zu halten. Auch heute ist üblich, worüber Simone Boehringer in der Süddeutschen Zeitung bereits vor Jahren berichtete: Die USA wiesen 2010 die Inflation offiziell mit 4 Prozent aus. Der US-Ökonom John Williams rechnete nach und kam auf 12 Prozent.
Monopole und Oligopole, die weltweit die Märkte beherrschen, werden auch weiterhin Preise absprechen und erhöhen, allen Verboten und Strafen für eine derartige Komplizenschaft zum Trotz. Sie vernichten eher Überschüsse, als dass sie die Preise nachhaltig senken. Mit einer Deflation ist selbst in einer Krise, wie wir sie gegenwärtig erleben, nicht zu rechnen. Politik und Medien verharmlosen oder übertreiben Gefahren, verhindern Aufklärung und schönen Wirtschaftsdaten, denn das stabilisiert das System. Tipp: Statt der Statistik blind zu vertrauen, sollte man sich vielleicht doch lieber auf sein „Gefühl“ verlassen. Wer es genauer wissen will, kann ja Haushaltsbuch führen und sich seine „persönliche Inflationsrate“ berechnen.
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