Und wieder steht ein Opfer mit dem Rücken an der Wand: In sechs Monaten wollen die USA aus dem internationalen Vertrag über den Offenen Himmel (Open-Skies-Vertrag) aussteigen. Gerade noch rechtzeitig vor der Präsidentschaftswahl. Das ließen vor drei Wochen Präsident Donald Trump, sein Außenminister Mike Pompeo und sein neuer Sicherheitsberater Robert O‘Brien verlauten. Nach dem INF-Vertrag und den Nuklearabkommen mit Iran soll nun bereits das dritte Abkommen mit Relevanz für die europäische Sicherheit aufgegeben werden, wenn Moskau nicht „zur vollständigen Einhaltung des Vertrages zurückkehrt“, wie Pompeo forderte.
Der Vertrag über den Offenen Himmel erlaubt es allen 35 Vertragsparteien, seit 2002 in jedem Jahr eine individuell festgelegte Anzahl angemeldeter Überwachungsflüge über dem Territorium anderer Vertragsparteien vorzunehmen. Seit Inkrafttreten des Vertrages wurden insgesamt auf diese Weise mehr als 1500 solcher Flüge durchgeführt. Das Territorium, das überflogen werden darf, reicht von Vancouver bis Wladiwostok. Insofern ergänzt Open Skies die Vorortinspektionen, die der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) vom Atlantik bis zu Ural ermöglicht.
An Bord der Überwachungsflugzeuge waren gemischte Teams des oder der Staaten, die den Flug beantragt hatten, und des Landes, über dessen Gebiet er durchgeführt wurde. Alle beteiligten Staaten hatten anschließend das Recht, die Aufklärungsergebnisse vollumfänglich zu nutzen. Benutzt werden durfte jedoch nur Aufklärungstechnik, deren technische Leistungsfähigkeit von den Vertragsparteien gemeinsam festgelegt wurde, denn das wesentliche Ziel ist nicht Spionage, sondern Vertrauensbildung. Geflogen wird, um festzustellen, ob das überflogene Land seine rüstungskontrollpolitischen Verpflichtungen erfüllt und seine militärischen Fähigkeiten hinreichend transparent macht. Im Kern ist der Vertrag über den Offenen Himmel also eine multilaterale, vertrauensbildende Maßnahme, die dazu beitragen soll, dass kein Staat sich unnötigerweise bedroht fühlt. Der multilaterale Charakter unterscheidet den Vertrag grundlegend von dem gleichnamigen Vorschlag Eisenhowers für eine bilaterale Vereinbarung dieser Art zwischen Washington und Moskau. Auch Staaten, die nicht über teure, hochleistungsfähige Aufklärungssatelliten verfügen, können sich so einen gewissen Überblick über das militärische Potential ihrer Nachbarn und möglichen Gegner verschaffen.
Das Muster der Begründung Washingtons für seinen Ausstieg ist ein altbekanntes. Die USA werfen Moskau vor, den Vertrag zu verletzen oder ihn anders zu interpretieren als er gemeint sei. Moskau begrenze zum Beispiel die Dauer der Flüge über der Exklave Kaliningrad und beschränke auch Flüge in der Grenzregion zu Georgiens abtrünnigen Republiken. Manch anderes Problem resultiert aus ungelösten Territorialkonflikten. Moskaus Einladung zum Überfliegen der Krim nimmt der Westen nicht an, weil damit indirekt eine Anerkennung der Krim als Teil Russlands verbunden wäre. Georgien verweigert Russland Überflüge. Früher bestehende Zweifel der USA an der Zulässigkeit eines neuen russischen Kamerasystems gelten inzwischen als ausgeräumt, da Washington der Nutzung 2014 nach längerem Zögern zugestimmt hat.
Selbst Christopher Ford, Assistant Secretary for International Security and Nonproliferation, oft ein Kritiker der Rüstungskontrolle, räumte im Kontext der Ankündigung des Vertragsaustritts ein, dass manche der Vorwürfe gegen die Verhaltensweisen Moskaus „keine faktischen Vertragsverletzungen“ seien. Daraus resultiert aber ein neues Problem. Was würde dann eine vollständige Rückkehr Russlands zur Vertragstreue, wie sie Pompeo forderte, darstellen? Ford gab zu, dies hänge von vielen Variablen ab.
Der Umgang der USA-Regierung mit dem Vertrag über den Offenen Himmel legt zum wiederholten Mal grundsätzliche Probleme offen: Wenn Donald Trump ein Internationales Abkommen kündigen will, kann er sich offenbar einen Konstruktionsfehler der Gewaltenteilung der USA zunutze machen. Er kann Abkommen mit anderen Staaten im Alleingang kündigen. Will ein Präsident dagegen ein neues Abkommen schließen und ratifizieren, braucht er eine Zweidrittelmehrheit im Senat. Der Präsident kann also jederzeit Jahre diplomatischer Verhandlungen und Monate politischen Ringens im Kongress annullieren. Bilaterale und multilaterale Verträge zu ratifizieren ist in den USA also viel komplizierter und zeitaufwändiger als sie wieder zu kündigen. Daraus resultiert ein grundlegender Schwachpunkt der Rüstungskontrolle.
Es folgt aber auch eine ganz andere Frage: Welche Konsequenzen zieht die restliche Staatenwelt aus dem Verhalten Trumps? Wer wird mit künftigen USA-Präsidenten noch internationale Verträge abschließen, wenn klar ist, dass sie vielleicht nur bis kurz nach der nächsten Präsidentschaftswahl gelten? Die USA verlieren dann strukturell an Vertrauens- und Glaubwürdigkeit als Vertragspartner im internationalen System.
Zudem müssen sich Washingtons Vertragspartner inzwischen fragen, wie hoch die in einem Vertrag festgehaltene Hürde gegen einen potentiellen Vertragsaustritt künftig sein muss, damit ein neuer Präsident diesen nicht problemlos wieder kündigen kann. Der ABM-Vertrag enthielt eine vorgeblich hohe Hürde für den Ausstieg jeder Vertragspartei. Wer ihn kündigen wollte, musste argumentieren, dass durch außergewöhnliche Ereignisse mit Bezug zum Gegenstand des Vertrages eine Gefährdung seiner höchsten Interessen eingetreten ist. Ähnlich hoch lag die Latte auch beim INF-Vertrag. Dort verlangte der Kündigungsparagraph von der kündigungswilligen Seite eine „Darlegung der außergewöhnlichen Ereignisse (…), durch die nach Ansicht der die Mitteilung machenden Vertragspartei eine Gefährdung ihrer höchsten Interessen eingetreten ist“. Was aber sind „höchste nationale Interessen“? Das Vorgehen der Trump-Regierung zielt darauf, die Schwelle dafür gezielt möglichst niedrig anzusetzen und somit Präzedenzfälle für die Zukunft zu schaffen.
Etwas niedriger ist die Hürde dagegen beim Open-Skies-Vertrag: „Ein Vertragsstaat hat das Recht, von diesem Vertrag zurückzutreten.“ Er muss es nur sechs Monate zuvor kundtun, damit die anderen Vertragsmitglieder bei einer Konferenz 30 oder spätestens 60 Tage nach der Bekundung der Austrittsabsicht entscheiden können, wie sie weiter mit diesem Vertrag umgehen wollen. Es gibt keine Notwendigkeit zur Begründung und auch keine Bindung an die Gefährdung der „höchsten Interessen“ des kündigenden Staates.
Zur Begründung des Ausstiegs aus dem Vertrag über den offenen Himmel wurden in Washington zudem noch zwei interessante und aufschlussreiche Argumente genannt. Das eine lautet: Die Aufklärungssatelliten der USA liefern viel bessere Aufklärungsergebnisse als die Open-Skies-Flugzeuge. Das andere: Die Kosten für neue Überwachungsflugzeuge können wir uns deshalb sparen.
Beide lassen tief blicken: Das erste impliziert: Wenn die USA austreten, ist es das Problem der Europäer, sich mit Russland herumzuschlagen. Sollte Moskau den Vertrag dagegen auch fallen lassen, sind vor allem die kleineren, der russischen Grenze näheren Europäer viel stärker auf die Aufklärungsergebnisse Washingtons angewiesen als bisher und damit politisch besser lenkbar. Auch für die größeren Staaten in Europa wird es dann schwieriger, eine ausreichende Informationsdichte zur Lageeinschätzung zu erhalten. Sie müssen entweder viel Geld in die Hand nehmen, um selber mehr Satellitenaufklärung zu betreiben, oder sie geraten auch wieder in eine größere Abhängigkeit von Washington. In den USA ist die Administration deshalb sicher gespannt, wie sich die anderen Vertragspartner bei der bevorstehenden Konferenz über die Zukunft des Vertrages positionieren. Für die von Donald Trump ausgerufene erneute Konkurrenz und Rivalität großer Mächte (gemeint sind die USA, Russland und China) ist die (nicht) geschlossene Haltung Europas sicher ein interessantes Beobachtungsobjekt.
Beim zweiten, dem Kostenargument, ließ der republikanische Senator Tom Cotton eine weitere Motivation durchblicken: Das Geld, das der Kongress bereits im Haushaltsjahr 2019 für die Beschaffung von zwei neuen Open-Skies-Flugzeugen in den Haushalt eingestellt hat, wäre doch viel sinnvoller verwendet, wenn man es für die Modernisierung der Nuklearwaffen ausgäbe.
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