23. Jahrgang | Nummer 12 | 8. Juni 2020

Der Fall Barschel – aktuelle Probleme
mit gesicherten Erkenntnissen

von Heinrich Wille

Zwei Artikel im Blättchen, von Birger Antholz (3/2020) und Heinrich Honestus (9/2020), zeigen, dass der Tod Uwe Barschels im Oktober 1987 immer noch die Gemüter bewegt. Leider hat im Verlauf der Jahrzehnte die Faktenkenntnis sich eher verflüchtigt.

Enttäuschend ist nach wie vor das fachliche Niveau derjenigen, die an einen Suizid glauben. Journalisten aus dem politischen Umfeld waren seinerzeit schon von der politischen Inszenierung Uwe Barschels so beeindruckt, dass sie sich nach seinem „tiefen Fall“ nichts anderes vorstellen konnten als Selbstmord. Zu nennen sind etwa der Buchautor Herbert Wessels, seinerzeit Hamburger Abendblatt und später Pressesprecher von Björn Engholm, und Peter Höfer, seinerzeit Kieler Nachrichten und heute Pressesprecher des Ministerpräsidenten Daniel Günther. Auch der Artikel von Antholz scheint eher aus dem Bauchgefühl zu stammen, als analytische Qualität aufzuweisen. Exemplarisch für die oberflächliche Faktenkenntnis ist bereits der Satz von den „todbringenden acht Medikamenten“. Direkt beteiligt an dem Tod waren allenfalls vier Medikamente und im Endeffekt todbringend eines davon.

Auch die Beschreibung des Buches, das sich auf Barschels Hotelbett befand, als „Abschiedsbuch von Sartre“ findet sich aus den medialen Irrtümern des Jahres 1987 wieder. Dies habe ich 2007 wie folgt beschrieben:

„Auf dem Bett liegt das Buch mit dem Titel ,Gesammelte Erzählungen‘ von Jean-Paul Sartre. Es ist aufgeschlagen und wurde daher vermutlich von Barschel in seinen letzten Stunden gelesen. Auch dieses Buch wird später Gegenstand von Spekulationen sein. Jean-Paul Sartre, als Vertreter des Existenzialismus, der ja doch depressive Grundstimmungen habe und damit sehr gut in das psychische Schema eines Selbstmörders passe. Kein Detail wird später ausgelassen, um den Mythos vom Selbstmörder zu stützen.

Aber zum Einen: Die These hat schon den falschen Ansatz. Existenzphilosophie verbindet negatives Denken mit positivem Handeln und war daher vor allem zu Zeiten des französischen Widerstandes gegen die deutsche Besetzung im zweiten Weltkrieg von besonderer Bedeutung. Wer es nachlesen will: Die aufgeschlagene Geschichte aus den ,Gesammelten Erzählungen‘ lautet ,Das Zimmer‘ und kann vom Inhalt her nicht als Beleg für depressive Tendenzen herangezogen werden. Ein Zweites gilt es zu bedenken: Dieses Buch hat Uwe Barschel gar nicht selbst als Reiselektüre ausgesucht, sondern es ist ihm von seiner Ehefrau ins Gepäck gesteckt worden. Es ist auch nicht etwa in diesen Tagen gekauft worden, sondern war Bestandteil seiner privaten Bibliothek.“

So zu lesen in meinem Buch „Ein Mord, der keiner sein durfte – Der Fall Uwe Barschel und die Grenzen des Rechtsstaats“, erschienen 2011 in Genf – zuvor knapp vier Jahre verboten.

Im Übrigen warte ich immer noch auf einen Diskurs mit den Suizidbefürwortern zu folgenden Themen: Der Verstorbene hatte eine ausgesprochen gute Verankerung in seiner Familie. Neben seiner Ehefrau, mit der er auf Gran Canaria gewesen war, sind namentlich seine Schwester und sein Bruder zu nennen. Der Verstorbene hatte, was öffentlich weithin unbekannt war und ist, gute Beziehungen zu persönlichen Freunden. Barschel hatte Pläne für eine Zukunft außerhalb der Politik; er plante nach Kanada zu gehen. Dort gab es einen Zweig der Familie Barschel, über die er bereits für sein Stammbuch Recherchen gemacht hatte. Sein Bruder war beruflich in Kanada gewesen. Durch seine akademischen Titel hätte er gute Chancen auch in Kanada gehabt.

Kurzfristige Pläne kennen wir aus seinen persönlichen Notizen auf einem Zettel im Hotel „Beau Rivage“ nach Telefonaten mit seinem Bruder, der nur eine halbe Autostunde „per Taxi“ entfernt von dort wohnte und mit dem ein gemeinsames Frühstück ins Auge gefasst wurde. Dort war zu diesem Zeitpunkt ein Familientreffen, an dem die Kinder Uwe Barschels und seine Mutter auch beteiligt waren.

Andere Faktoren, die eine Rolle in diesem Zusammenhang spielen, ist etwa der Absturz des Flugzeugs kurz zuvor, den Uwe Barschel als einziger überlebt hatte. Dieses Nahtoderlebnis hatte ihn nachhaltig und tief beeindruckt. Gerade vor dem Hintergrund seiner individuellen religiösen Prägung – „Der Herrgott hat noch was vor mit mir“. Im Übrigen hätte Barschel im Fall, dass er wirklich an Suizid gedacht hätte, sicherlich nicht auf eine Abrechnung mit seinen Gegnern verzichtet, die sicher sehr gut Platz in seinen letzten Notizen „Unterlagen für U. A.“ gefunden hätte.

Die Problematik war – und ist, so scheint es: Entweder war es ein Mord, bei dem ein Suizid vorgetäuscht wurde, oder ein Selbstmord, bei dem ein Mord inszeniert wurde. Bei einer Lesung meines Buches vor den Rotariern in der „Waldhalle“ von Mölln habe ich die Frage gestellt: Können Sie sich vorstellen, dass Barschel eine solch schwache Inszenierung hingelegt hätte? Die Frage stellen hieß, sie beantworten.

Ärgerlich und letztlich unverständlich ist im Übrigen die Ansicht des Hamburger Rechtsmediziners Prof. Klaus Püschel, der, wie sein Vorgänger Prof. Werner Janssen, den Suizid mit der hohen Anzahl angeblich geschluckter Tabletten begründet: Das könne man nicht unbemerkt. Bei einem professionellen Mord ist der Einsatz gut vorbereitet und wird sicherlich nicht an der Beschaffung von flüssigen Lösungen scheitern. Daher brauchte man sich auch nicht zu wundern, dass man keine Tablettenpackungen fand: Es gab keine. Für Hamburger Rechtsmediziner dürfte der Einsatz von „K.-o.-Tropfen“, die schon in früheren Jahren im St. Pauli-Milieu bekannt waren, nichts Unbekanntes sein.

Für eine flüssige Beibringung spricht weiterhin das Fehlen der Rotweinflasche, in der man entsprechende Nachweise hätte finden können. Darüber hinaus hat der Lübecker Rechtsmediziner Dr. Arthur Reiter noch zehn Jahre nach Barschels Tod in einem Minibar-Whiskyfläschchen Reste eines der Mittel nachweisen können, die am Tode Barschels beteiligt waren.

Leider ist auch der Autor Honestus nicht vor Irrtümern gefeit. Bedauerlicherweise ist er in einem entscheidenden Punkt Opfer eines groben Fehlers geworden, den Wolfram Baentsch in seinem Buch „Der Doppelmord an Uwe Barschel“ – jedenfalls in der ersten Auflage – wiedergegeben hat. Ausgehend von dem Farbfoto des getöteten Barschel gibt er ausführlich die Schilderung der Läsionen des Getöteten wieder, wie sie im Obduktionsprotokoll der Hamburger Rechtsmediziner nachzulesen ist. Dass diese Entstellungen der Leiche Hinweise auf massive körperliche Misshandlungen Barschels darstellen könnten, haben seinerzeit auch andere Autoren und selbst der Bruder des Getöteten gemeint. Auch der Rechtsanwalt der Familie, Dr. Justus Warburg, dürfte diesen Fehler nicht erkannt haben, da sich anders die Irrtümer der Genannten nicht erklären lassen.

Tatsache ist, dass nur das Hämatom Barschels an seiner Stirn vor dem Tode entstanden ist, sämtliche anderen Entstellungen sind nach dem Tode – also postmortal – entstanden. Sie sind durch den Transport und die Vorobduktion in der Schweiz oder den weiten Transport von der Schweiz nach Hamburg zuzüglich Zeitablauf zu erklären. Die Definition als postmortal ist im Übrigen gerade in diesem Fall eindeutig gewesen, da das Fehlen vitaler Reaktionen zweifelsfrei feststellbar war.

Neben dem genannten Analyseergebnis bezüglich des Inhalts des Whiskyfläschchens, dem Ausriss des zweiten Hemdknopfes von oben, der nicht von Barschel hätte vollzogen werden können, ist ein drittes Indiz jedenfalls so stark, dass Suizid nach Überzeugung der Ermittlungsgruppe und meiner Person ausgeschlossen werden kann: der Einsatz eines chemischen Mittels namens Dimethylsulfoxid (DMSO). Auch die Wirkung dieser Chemikalie bei der Übertragung der braunen Farbe aus Barschels Schuh auf den Vorleger der Badewanne war Gegenstand ausführlicher Analysen, die auf dieses Mittel eindeutig hindeuteten (oder ein anderes unbekanntes, ähnlich wirkendes Mittel). Es ist eine Chemikalie, die in der Tiermedizin vielfach benutzt wird, um Medikamente ohne Einsatz einer Spritze durch das Fell von Tieren – speziell Reitpferden – wirksam in den Blutkreislauf zu bringen. Der Einsatz dieses Mittels hat nur indirekt nachgewiesen werden können, da es flüchtig ist und – falls andere Stoffe mit ihm transportiert wurden – auch diese nicht mehr nachweisbar waren. Entweder ist dieses Mittel versehentlich verschüttet worden und hat diese Effekte auf dem Badvorleger (und dem Handtuch im Badezimmer) verursacht oder es wurde gezielt eingesetzt. Für das Zweite gibt es keinen Beweis. Diese letzte Schlussfolgerung haben wir ehrlicherweise als Ermittlungsergebnis nicht festhalten können. Ich selbst halte sie für durchaus wahrscheinlich. Die Tatsache, dass DMSO überhaupt zugegen war, spricht indessen eindeutig für Mord, da die Existenz eines solchen Mittels bei Suizid nicht vorstellbar erscheint.

Der Autor Heinrich Wille (75) war Chefermittler im Fall Uwe Barschel. Als Leiter der Lübecker Staatsanwaltschaft geriet er wiederholt mit seinen Vorgesetzten in Konflikt, da er zu anderen Schlüssen kam, als man von ihm erwartete. Heinrich Wille lebt heute in Lübeck, wo er als Rechtsanwalt praktiziert.