23. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2020

Der Mord an Uwe Barschel – eine unendliche Geschichte

von Heinrich Honestus1

Seit der Abgeordnete im Landtag von Schleswig-Holstein, der kurz zuvor von seinem Amt als Ministerpräsident zurückgetretene Dr. Dr. Uwe Barschel, am 11. Oktober 1997 in der Badewanne seines Genfer Hotelzimmers, erst 43-jährig, tot aufgefunden wurde, geistern bizarre Geschichten über sein Leben und Sterben durch die Medien, die bei aller Unterschiedlichkeit einen gemeinsamen Tenor haben: Barschel habe als Wahlkämpfer ein politisches Schurkenstück inszeniert, dann sein Ehrenwort gebrochen und war nach Enttarnung (durch den Spiegel, wen sonst?) von eigener Hand aus dem Leben geschieden.“ So beginnt ein Artikel von Wolfram Baentsch aus dem Jahr 2012.2 Der Autor hatte sein journalistisches Handwerk bei eben diesem Spiegel gelernt und war unter anderem Chefredakteur der Wirtschaftswoche. Er hat auch in einem profunden Buch den unendlichen Fall Barschel unter die Lupe genommen.3

Jüngst hat das Das Blättchen mit einem Artikel von Birger Antholz4 den bizarren und verwirrenden Barschel-Faden wieder aufgenommen. Antholz stellt fest, dass Barschel mit absoluter Sicherheit durch einen Selbstmord ums Leben gekommen ist und dass gar nichts vertuscht werden konnte, „weil dieser unter den Augen der drei Stern-Redakteure geschah, die ihn seit der Landung in Genf ab 15.25 Uhr beobachteten und die sich von 22.00 bis 24.00 Uhr und morgens wieder ab 6.00 Uhr direkt vor seinem Hotelzimmer befanden. Beim Spiegel waren 21 Redakteure auf Barschels Freitod angesetzt (…) Bis ins kleinste Detail sind seine letzten Stunden recherchiert. Schon auf Gran Canaria versuchte er, von einem Apotheker eine Überdosis an Arzneimitteln zu kaufen. Statt eines Abschiedsbriefes befand sich auf Barschels Hotelbett ein Abschieds-Buch von Sartre, dessen drei Geschichten klar als Selbstmordlektüre zu deuten sind.“

Um mit Wolfram Baentsch zu schreiben: Klar, wenn alles unter den Augen von drei Stern-Redakteuren geschah und 21 Spiegel-Mitarbeiter recherchierten, dann kann es nur so gewesen sein. Aber ein Abschieds-Buch von Sartre beweist nichts (vielleicht hat es jemand extra hingelegt?), und der Kauf einer Überdosis von Medikamenten (von welchen?) auch nichts. Das sind nicht einmal Indizien, wie man volkstümlich weiß, sondern nur Mutmaßungen.

Wissenschaft und Dichtung, Geschichte und Gegenwart – das sind genau die Themen, mit denen der Fall aufgearbeitet worden ist. Dazu Baentsch: Zuerst hatte sich Barschel erschossen, wie schon am Todestag die Deutsche Presseagentur dpa vermeldete. Niemand bemühte sich festzustellen, von wem diese abenteuerliche Information kam. Aber die Basler Zeitung BAZ schrieb kurz darauf: „Nach sehr zuverlässigen Informationen, welche die BAZ bekam, haben die politischen und die Justizbehörden von gewichtiger deutschen Seite und über mehrere Kanäle den Wunsch übermittelt bekommen, dass es in aller Interesse wäre, wenn man diesen Fall als Selbstmord einstufen könnte.“ Keine bundesdeutsche Zeitung druckte die Meldung nach, was logisch war, und auch bei der BAZ traf kein Dementi ein. Und niemand fragte, wer und warum in der BRD ein solches Ermittlungsergebnis haben wollte. Auch die sog. „Vierte Gewalt“, die Presse, hakte nicht nach.5

„Auch musste sich weder der Innenminister, noch gar der Kanzler (der damals Helmut Kohl hieß und für dessen Nachfolge Uwe Barschel gerade eben noch als Kandidat gehandelt worden war) den leisesten Vorwurf anhören, zum Beispiel den, dass sie nicht schleunigst den Generalbundesanwalt auf Trab brachten. Der oberste aller Ermittler räusperte sich nicht einmal zu der Affäre; auch das Bundeskriminalamt BKA sah keinerlei Veranlassung, tätig zu werden. Ja, und der Bundesnachrichtendienst BND hat nach eigenen Angaben nicht einmal eine Akte zu dem weltbewegenden Vorgang angelegt.“6

Natürlich hatte der BND Akten, wie dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27. November 2013 zu entnehmen ist.7

Und nun zu den Fakten. Antholz schreibt: „Zuerst führte die neutrale Schweizer Kriminalpolizei die Ermittlungen. Es wurde in der Schweiz eine Obduktion vorgenommen. Die Untersuchungsrichterin Nardin stellte eindeutig einen Selbstmord fest: ‚Es gibt keine Spuren eines gewaltsamen Todes.‘“8

Dazu heißt es bei Baentsch: „In Wahrheit haben sich die Schweizer Behörden nämlich nie auf ein Urteil zur Ursache von Barschels Sterben festgelegt. Der Genfer Generalstaatsanwalt Bernard Bertossa gibt sogar immer wieder zu erkennen, dass er Mord für viel wahrscheinlicher hält.“9

Die Genfer Polizei spekulierte anfangs auf natürlichen Herztod infolge eines früheren Infarktes10, und das Kieler Innenministerium ließ schon am 13. Oktober 1987 (!!!) mitteilen, dass weder Alkohol noch Medikamente im Spiel seien.11 Dies nur einige Beispiele für die Gerüchteküche.

Antholz führt aus, dass Oberstaatsanwalt Wille, also die Staatsanwaltschaft von Schleswig-Holstein, mehrere Jahre nur mit dem Ziel ermittelte, „einen Mord an Barschel nachzuweisen. Er beschäftigte dabei drei Mitarbeiter. Es wurde also von der Staatsanwaltschaft nicht ergebnisoffen, sondern zielstrebig ermittelt. Allerdings wurden keine Indizien für einen Selbstmord gesammelt.“12

Richtig ist, dass sich Heinrich Wille, der 1992 Leiter der Lübecker Staatsanwaltschaft wurde und der Chefermittler im Fall Uwe Barschel war, in einem 2011 erschienenen Buch mit dem Fall befasste: „Ein Mord, der keiner sein durfte“.13 Präzise und detailreich schildert der Autor, wie Politik und Behörden gezielt versuchten, die Aufklärung des Falles zu behindern. Aber ermittelte er wirklich nur in Richtung vorsätzliche Tötung?

Das darf, bei aller Kritik an seiner Arbeit und seinem Buch, bezweifelt werden. Warum schreibt er dann an den Hamburger Anwalt Justus Warbung, der die Familie Barschel vertreten hat, dass es „nach wie vor keinen Anfangsverdacht eines Tötungsdeliktes“ gebe?14 Wille betont im Untertitel zwar die Grenzen des Rechtsstaates, verschweigt aber wesentliche Ermittlungsergebnisse. Allenfalls wurde leichte Gewalt gegen Barschel angewendet: „Der abgerissene Hemdknopf, der zweite von oben, senkrecht von oben nach unten abgerissen bei angelegter Krawatte. Ein Interview mit Klaus Wiendl von ‚Report München‘ legte die Aufforderung nahe: Versuchen Sie das doch mal selbst – es geht nicht. Es verbleibt: ‚diskrete Gewalt‘ eines anderen. (…) Das Hämatom am Kopf an der Stirn.“15 Baentsch spricht sogar von „Willes Erzählungen“ und führt genau dieses Beispiel der „diskreten“ Gewalt als eine von ihm unterschlagene Tatsache an.16

Uwe Barschel wurde mit Kopfverletzungen und vollständig bekleidet tot in der Badewanne des Genfer Hotels aufgefunden. Die Kopfverletzungen wischt Antholz17 einfach weg und meditiert stattdessen kriminologisch ausgiebig über Personen, die in bekleidetem oder teilbekleidetem Zustand tot in einer gefüllten Wanne gefunden werden. Natürlich mit der Aussage eines bekannten Gerichtsmediziners, dass es sich bei solchen aufgefundenen Toten zu 95 Prozent um ein suizidales Geschehen handele. Aber eben in fünf Prozent der Fälle, wenn die Statistik so stimmen sollte, ist es kein Selbstmord.

Die „diskreten“ Verletzungen, schon im Genfer Sektionsprotokoll verschwiegen, werden in einem Obduktionsprotokoll der Hamburger Rechtsmediziner Prof. Werner Janssen und Prof. Klaus Püschel, das die Familie Barschels in Auftrag gegeben hatte, ganz anders beschrieben: „Verletzungsspuren entdecken die Hamburger auch ‚in den tiefen Kopfschwartenschichten über der linken Stirnseite‘ – auch solche, von denen in Genf keine Rede war: eine etwa ‚markstückgroße unscharf begrenzte bläuliche Verfärbung‘. Dann aber folgt, was bei dem Chef-Obduzenten Janssen blankes Entsetzen auslöst. Unter Punkt 44 vermerkt sein Protokoll: ‚Über den rückwärtigen Teilen der oberen Schädelkrümmung – eindeutig oberhalb der sogenannten Hutkrempenlinie – quer angeordnet eine ausgedehnte in sich ungleichmäßig gestaltete 10 x 5 cm große bläulich-rote Durchtränkung der tiefen Kopfschwartenschichten. – Bei nochmaliger eingehender Inspektion der darüber liegenden äußeren Kopfhaut, insbesondere nach Entfernung der Haare in diesem Bereich, lässt sich eine rötliche Verfärbung der obersten Hautschicht feststellen.‘ (…) Für die Experten, in der tagtäglichen Arbeit immer wieder mit den Spuren von Gewaltverbrechen konfrontiert, musste sofort klar sein: Eine solche Verletzung konnte sich das Opfer nicht selbst beigebracht haben. Keine im Todeskampf unkontrollierte Bewegung des Kopfes, ein Anstoßen am Wannenrand etwa, kam als Ursache in Frage. Am Schädel des Menschen wird die sogenannte ‚Hutkrempenlinie‘ von dem am weitesten nach hinten ragenden Teil des Hinterhauptbeins markiert. Das ist die bei einem Aufschlagen mit dem Hinterkopf am stärksten gefährdete Schädelpartie.“18 Die Obduzenten stellten auch Spuren eines Schlauches fest, mit dem Barschel toxische Medikamente intubiert werden konnten. Das im Buch von Baentsch19 abgedruckte Farbfoto des toten Barschel, das sonst nicht veröffentlicht werden durfte und Gesichtsverletzungen beweist, sollte sich jeder Blättchen-Leser anschauen.

Bei Antholz20 kann man lesen: „Auf dem berühmten Stern-Bild mit Barschel in der Badewanne sind Barschels Gesicht und Kopf intakt. Das Stern-Photo liefert auch die Erklärung für das kleine Hämatom am Kopf auf der rechten Stirnseite. An dieser Stelle lehnte sein Kopf gegen den Badewannenrand.“ Und der Autor erwähnt auch, dass der Schweizer Gerichtsmediziner und Erstobduzent Oberarzt Oldrich Fric im Obduktionsprotokoll vom 11. Oktober 1987 aussagte, dass die Kopfhaut keinerlei Verletzungen aufweise. Antholz zitiert hier aus Baentschs Buch, obwohl er, wenn er es tatsächlich gelesen hätte, hätte bemerken müssen, dass sich Baentsch, der vom Mord an Barschel fest überzeugt ist, mit diesem Obduktionsprotokoll außerordentlich kritisch auseinandersetzt und es als falsch bezeichnet. Baentsch führt eine geheime Lagebesprechung an, an der auch die Untersuchungsrichterin Claude-Nicole Nardin und der Obduzent Fric teilnehmen. Das Geheimprotokoll kam doch ans Tageslicht. Danach war man sich einig, den aufsehenerregenden Todesfall schon gelöst zu haben. Wie wenn es nur noch um Details ginge, heißt es dort einvernehmlich: „Zum Abschluss stellt man fest, ohne ein endgültiges Ergebnis hinsichtlich der Todesursachen zu äußern, dass alles in dieselbe Richtung weise, nämlich die des Selbstmords.“21

Dafür, dass Antholz seinen kriminologischen Gegner Baentsch selektiv zitierte, kann es nur eine Erklärung geben: Er hatte für seine Version keine anderen Quellen zur Verfügung. Ein Trauerspiel!

Aber wie ist Barschel denn nun ermordet worden? An den Kopfverletzungen (das „berühmte Stern-Bild“ ist bearbeitet) und an den anderen Verletzungen am Körper ist er jedenfalls nicht gestorben, damit wurde er wahrscheinlich nur kampfunfähig gemacht. Janssen und Püschel meinen, dass für das Entstehen einer solchen Verletzung ein seitlich von oben ausgeführter Schlag in Betracht kommt – mit einem mit Sand gestopften langen Leder- oder Kunststoffschlauch, der in Ganovenkreisen „Katze“ genannt wird. Das sieht nach Arbeit von professionellen Killern aus, denn wenn die Aufschlagstelle von Haaren bedeckt ist, kann eine solche Verletzung dem ungeschulten Blick leicht entgehen. Die große Aufschlagkraft, wodurch das Opfer augenblicklich die Besinnung verliert, wird auf eine größere Auftrefffläche verteilt, so dass nur ein denkbar geringes Spurenbild entsteht.

Jetzt kommen die Toxikologen ins Spiel, die letztlich Licht in das Dunkel des Barschel-Falles brachten – was aber von offizieller Seite nicht zur Kenntnis genommen wird. Nachdenklich stimmt die im Hamburger Gutachten aufgeführte sogenannte „Schlauchspur“, die bis in den Magen führte. Bei der Hamburger Obduktion wurde nach Baentsch eine Abfolge von Schleimhautveränderungen festgestellt, „die vom linken Nasenloch über den Kehlkopf, die Speiseröhre bis in die untere Kurvatur (Krümmung – d. Verf.) des Magens die Spur eines dem Opfer eingeführten Schlauchs markiert, durch welchen dem Bewusstlosen die sedierenden und toxischen Medikamente intubiert werden konnten, die von den Gerichtschemikern zweifelsfrei als todesursächlich nachgewiesen worden sind“.22 Eine entsprechende direkte Aussage in diese Richtung erfolgt aber im Hamburger Obduktionsprotokoll nicht, auch andere Rechtmediziner, hierzu befragt, äußern sich nur sehr verhalten im Sinne von „möglich, aber histologisch nicht belegt …“23

Das alles erwähnt Antholz freilich nicht. Dafür bezieht er sich auf ein Interview, dass der Gerichtsmediziner Prof. Janssen 2016 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)24 gegeben hatte. Janssens nunmehrige Aussage: Es war mit Sicherheit Selbstmord!

Richtig ist, dass Janssen damals mit Püschel den Leichnam untersucht hatte. In dem besagten Interview erwähnt er aber erst am Ende und ganz versteckt, dass die Leiche Barschels schon am 11. Oktober 1987 in Genf obduziert worden war. Er impliziert damit, dass er der (erste) Obduzent war, was natürlich nicht stimmt. Die Obduktion in Hamburg war eine privat von der Witwe Barschels am 21. Oktober 1987 in Auftrag gegebene „Nachsektion“ (ausgeführt am 24. Oktober 1987, Toxikologie vom 29. Oktober 1987 und Fortsetzung Sektion vom 28. November 1987, zusammen dargestellt im Protokoll RM HH, S-Nr. 842/87 vom 4. Dezember 1987 / Deckblatt). Aber nicht nur das. Janssen, zum Zeitpunkt des Interviews 91 Jahre alt, kann sich wohl nicht mehr genau an die Obduktion und das Protokoll erinnern. Er hätte einfach nur noch einmal lesen müssen.

Janssen übertreibt auch ein wenig. Er meint, dass die Sektion sechs bis acht Stunden gedauert hat. Das sei „dreimal so lange wie üblich“. Damit wollte er uns wohl sagen, je länger eine Obduktion dauert, desto wahrhaftiger wird das Ergebnis – was völliger Unsinn ist. Der Leser dieses Beitrages weiß schon, dass die Obduktion alles in allem fünf Stunden gedauert hat, wie auf dem Protokoll (S. 2) mit den Unterschriften von Janssen und Püschel vermerkt worden ist. Natürlich sollte man auch einem 91-jährigen Professor (wie übrigens jedem Zeugen) gewisse Erinnerungslücken einräumen. Auch datierte das Obduktionsprotokoll nicht vom 2. Dezember 1987, wie Janssen im Interview mitteilte, sondern vom 4. Dezember 1987. Eine kurze Einschätzung der von Janssen und Püschel bei der feingeweblichen Untersuchung festgestellten Veränderungen der Schleimhäute in Nasen-Mund-Rachen-Trakt (S. 40-42 des Protokolls) wären im Interview angebracht gewesen, um Spekulationen auszuschließen und die Wahrheit ans Licht zu befördern. Aber er unterließ auch das. Und die Kopfverletzungen, die Janssen und Püschel feststellen konnten und über die sie einmal entsetzt waren, wurden vergessen oder gleich mit verschwiegen.

Janssen hielt jedenfalls das Sektionsprotokoll jahrelang pflichtgemäß unter Verschluss, dennoch drangen Teile davon an die Öffentlichkeit, was ihn wohl sehr verärgert hat. Zu einer privat in Auftrag gegebenen Nachsektion hätte er sich aber niemals äußern dürfen. Aber jetzt tat er das. Am Ende seien Janssen und Püschel nunmehr gemeinsam mit dem Hamburger Toxikologieprofessor Achim Schmoldt zu demselben Schluss gekommen: Suizid durch Medikamentenmissbrauch.

Dabei hatte der Schweizer Toxikologe Prof. Hans Brandenberger, der auch im Auftrag der Familie Barschel den Fall untersuchte, schon 2010 in einem Interview für die Zeitung Die Welt25 erklärt, welche chemischen Hinweise auf professionelle Täter deuten. Brandenberger identifizierte vier Medikamente, die Barschel verabreicht worden sind: Zuerst eine Betäubung durch den Wein-Zusatz, dann nach einer guten Stunde die Zufuhr einer tödlichen Schlafmitteldosis über einen Magenschlauch, gefolgt durch die rektale Eingabe eines Arzneizäpfchens mit einem starken Beruhigungsmittel (Noludar). Brandenberger war auch auf den Bericht von Victor Ostrovsky26 gestoßen, in dem ein Mordszenario an Uwe Barschel durch eine Gruppe von Mossad-Leuten beschrieben wird. Ostrovskys Angaben über die oben genannte Verabreichung der Wirkstoffe sind recht gut mit den analytisch-chemischen Daten vereinbar, so der Toxikologe, wobei auch Differenzen bestehen. Nach Ostrovsky sollen Pillen durch den Magenschlauch eingespült worden sein, doch das Genfer Gutachten erwähnt keine Pillenrückstände im Magen, sagt aber auch nicht, das keine vorhanden waren.

Brandenberger weiter: Noludar war zwar als Arzneizäpfen nicht im Handel, kann aber durch Tränken eines porösen Materials (Watte) in K.o.-Tropfen leicht hergestellt werden. Im Urin Barschels wurde nämlich Methyprylon, ein Wirkstoff des Noludar®, gefunden. Das erklärt sich aus dem speziellen Resorptionsverhalten im Einbringungsort Enddarm. Vergiftungen via Enddarm sind historisch belegt und in der Fachliteratur nachlesbar,27 ebenso die vaginale Applikation (z. B. Tampon mit Cyanid).28 In diesen Fällen besteht ein hohes Verschleierungspotential. Über die Schleimhaut wird der Wirkstoff direkt in das venöse Blutsystem resorbiert, gelangt so weiter via Herz-Kreislauf in den Körper und kann seine hypnotische Wirkung entfalten. Über den Kreislauf gelangt der Wirkstoff dann auHeinrich ch in die Nieren und wird dort mit dem Urin ausgeschieden.

Fazit: Die chemischen Befunde indizieren einen Mord, wobei mit Sicherheit feststeht, dass das todbringende Cyclobarbital nach stark sedierenden Wirkstoffen in den Körper gelangt ist, wahrscheinlich im Zustand der Handlungsunfähigkeit. Das starke Hypnotikum Noludar wurde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kurz vor Todeseintritt rektal verabreicht, was mit der Hypothese eines Selbstmordes mit fremder Hilfe („humanes Sterben“, was ja auch durch die Presse geisterte) unvereinbar ist. „Aufgrund der Komplexität des Mordgeschehens muss davon ausgegangen werden, dass ein Profiteam am Werk war, nicht eine Einzelperson“, so Brandenberger.29

In der Kommunikation mit dem Berliner Chemiker und Toxikologen Dr. W. Katzung30 hat sich Prof. Hans Brandenberger im Oktober 2012 abschließend so erklärt: „Für mich ist der Barschel-Tod wissenschaftlich geklärt (wobei verschiedene Täterschaften in Frage kommen, die aber sehr wohl gemeinsam geplant haben oder vorgegangen sind). Legal wird die Angelegenheit wohl nie gelöst werden.“31

Ab und zu tauchen neue Spuren im Fall Barschel auf. So wurde im Juli 2012 berichtet, dass Spezialisten des Kieler Landeskriminalamtes DNA-Rückstände eines Unbekannten an Kleidungsstücken (Krawatte, Socken und Strickjacke) entdeckten, die der frühere Ministerpräsident von Schleswig-Holstein in der Nacht seines Todes trug. Der frühere CDU-Landtagsabgeordnete Werner Kalinka, auf dessen Antrag hin die DNA-Untersuchungen zustande kamen, sagte sogar, der Verdacht, Barschel sei ermordet worden, habe sich durch die Spuren erhärtet. Pflichtbewusst sah aber die Staatsanwaltschaft als zuständige Anklagebehörde keinen Ansatz für neue Ermittlungen; die Untersuchungen würden nicht wieder aufgenommen.

So ist es immer wieder die alte Geschichte: Wenn jemand von Barschels Ermordung spricht oder schreibt, hebt nach einem alten Muster in den Sendern und Gazetten eine gespenstische Scheindebatte an, in der mit Autoritätsbeweisen nur so um sich geworfen wird. „Wortreich werden längst widerlegte Behauptungen aus Mottenkisten gezogen. Hinter Nebelwänden aus Andeutungen, Vermutungen und Halbwahrheiten verschwinden die Tatsachen, so dass selbst interessierte Zeitgenossen vor dem Wust der auf das Publikum losgelassenen Desinformation kapitulieren müssen.“32

Aber, wir dürfen nicht kapitulieren.

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1 Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und lebt überwiegend in Berlin-Marzahn. Er dankt Dr. W. Katzung, Berlin, sehr herzlich für die umfassende fachliche Unterstützung.

2 Wolfram Baentsch: Unterdrücke Spuren, missachtete Zeugen. COMPACT 1/2012, S. 41-43.

3 Wolfram Baentsch: Der Doppelmord an Uwe Barschel. Die Fakten und Hintergründe. 2. durchgesehene Auflage. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH. München 2006.

4 Birger Antholz: Der Selbstmord Barschel. In: Das Blättchen, 23. Jahrgang | Nummer 3 | 3. Februar 2020 | S. 8-10.

5 Baentsch 2012, S. 41.

6 Baentsch 2012, S. 42.

7 Aktenzeichen BVerwGer-6-A-513.

8 Antholz 2020, S. 8.

9 Baentsch 2012, S. 42.

10 Neue Ruhr Zeitung und Der Tagesspiegel vom 13. Oktober 1987, Neue Züricher Zeitung vom 14. Oktober 1987.

11 Der Tagesspiegel vom 13. Oktober 1987.

12 Antholz 2020, S. 8.

13 Heinrich Wille: Ein Mord, der keiner sein durfte. Der Fall Uwe Barschel und die Grenzen des Rechtsstaates, Rotpunktverlag, Zürich 2011.

14 Baentsch 2006, S. 258.

15 Wille 2011, S. 369-370.

16 Baentsch 2012, S. 42-43.

17 Antholz 2020, S. 9.

18 Baentsch 2006, S. 197-198. Die Obduktion fand am 27. Oktober 1987 in der Zeit von 7 bis 12 Uhr in Hamburg statt, nachdem die Leiche nach Hamburg überführt war.

19 Baentsch 2006, Abb. 36 nach S. 224. Das Foto ist in s/w auch bei Baentsch 2012 abgedruckt (S. 41).

20 Antholz 2020, S. 9.

21 Baentsch 2006, S. 194.

22 Baentsch 2012, S. 43.

23 W. Katzung: Persönliche Mitteilung an den Verfasser.

24 Mord oder Suizid? Gerichtsmediziner: Barschel hat sich selbst getötet. FAZ vom 17. Februar 2016.

25 Hans Brandenberger: Das Gutachten im Fall Barschel. Die Welt vom 21. November 2010.

26 Victor Ostrovsky: The Other Side of Deception, Harper Collins, New York 1994. Deutsche Ausgabe: Victor Ostrovsky: Geheimakte Mossad. Die schmutzigen Geschäfte des israelischen Geheimdienstes, Bertelsmann, München 1994.

27 Fühner: Sammlung von Vergiftungsfällen, Leipzig 1930.

28 Archiv für Kriminologie 170, 1982, S. 21 ff.

29 Brandenberger 2010.

30 Er hatte die Hamburger Obduktion für einen privaten Auftraggeber begutachtet.

31 W. Katzung: Persönliche Mitteilung an den Verfasser.

32 Baentsch 2012, S. 42.