23. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2020

An der Roßstraßenbrücke

von Frank-Rainer Schurich

Der Schriftsteller der Romantik und geniale Märchenerzähler Wilhelm Hauff (1802 bis 1827) hat in seinem Gedicht „Reiters Morgengesang“ das Thema der Vergänglichkeit im Leben eines Ritters aufgegriffen. Bekannt sind heute noch seine Zeilen aus der 2. Strophe: „Gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen.“ Herausgelöst aus ihrem historischen Kontext sind diese beiden Zeilen geflügelte Worte geworden, werden aber zumeist nur in weniger dramatischen Zusammenhängen gebraucht, wenn jemand zum Beispiel eine Spitzenposition oder ein Geschäftsfeld verliert. Die Zusammenhänge mit der Berliner Roßstraßenbrücke, die über den westlichen Spreearm führt, sind allerdings sehr dramatisch.

Kurz zur Geschichte der Brücke. Sie war bereits im 13. Jahrhundert vorhanden, allerdings als Köpenicker Brücke. Davor lag das Köpenicker Tor, heute etwa in Höhe Neue Roßstraße 14-15/Ecke Wallstraße, schräg gegenüber dem U-Bahn-Eingang „Märkisches Museum“. Wenn man also damals die Fischerinsel über die Brücke und durch das Tor verließ, hatte man das mittelalterliche Cölln, das später mit Berlin zur Stadt Berlin verschmolz, mit seiner Stadtmauer hinter sich gelassen.

Die kleine massive Roßstraßenbrücke mit nur einem Bogen wurde in den Jahren 1899 bis 1901 nach einem Entwurf von Ludwig Hoffmann errichtet. Den Namen bekam sie von der Roßstraße (heute Straße „Fischerinsel“), benannt nach einem großen Aufgebot von Ritterpferden im Jahre 1626, die zum Turnier am Schloss hier vorbeizogen. Die Roßstraße endete südlich an der Roßstraßenbrücke und in der Verlängerung am Köpenicker Tor. Das Tor war so weit vorgelagert und vom Spreekanal entfernt, weil davor noch ein weiterer Graben den südlichen Teil der Stadt umschloss.

An der Roßstraßenbrücke wurde Kriminalgeschichte geschrieben. Minderschwere Verbrecher verwies man damals der Stadt und trieb sie aus den Toren. So erging es zwei Männern, die wegen begangenen Diebstahls bei Rat Flemmingen am 26. März 1691 vom Berliner Rathaus bis zum Köpenicker Tor „ausgestrichen“ wurden. Man bearbeitete sie solange mit Hieben, bis sie das Gemeinwesen endgültig verlassen hatten. Ein ähnliches Schicksal mussten am 23. Januar 1694 zwei Frauen erleiden, die man wegen eines „großen Diebstals“ vom Neuen Markt bis zum Köpenicker Tor mit „Ruthen“ ausstrich. Bei den revolutionären Barrikadenkämpfen am 18. März 1848 erschossen drei Soldaten den gefangenen Studenten Herrmann von Holzendorf an der Roßstraßenbrücke. Gereizt sahen sie sich, so Augenzeugen, durch seinen „Demokratenbart“. An diesen feigen Mord erinnerte auf der Brücke bis vor kurzem eine Gedenktafel.

Nur wenige Meter von der Roßstraßenbrücke entfernt, auf der Uferpromenade in westlicher Richtung (hier macht der Weg einen leichten Knick nach rechts) geschah am 3. November 2008 ein Auftragsmord – in Höhe des Hochhauses Fischerinsel 6.

An diesem Tage ging der 59-jährige Immobilienmakler Friedhelm Sodenkamp aus Duisburg mit einer Dienstwohnung in der Alten Jakobstraße wie an jedem Abend mit seinem Weimaranerrüden „Max“ eine Gassirunde, die ihn wie immer über die Fischerinsel führte. Es war dunkel, und genau an dieser Stelle zwischen Roßstraßen- und Grünstraßenbrücke fielen aus nächster Nähe drei Schüsse aus einer Beretta 1934, als Sodenkamp abgelenkt war und telefonierte. Er wurde von hinten im Herzen und am Kopf getroffen und war sofort tot. Als ihn ein Passant um 19.23 Uhr fand, war das Opfer bereits verblutet.

Schnell wurde ruchbar, dass Sodenkamp mit zwei Bauunternehmern im Streit lag. Der zur Tatzeit 47-jährige italienischstämmige Vito L. und der 32 Jahre alte Benjamin L. kamen umgehend in das Visier der Ermittler. Geschäftspartner Friedhelm Sodenkamp stritt sich mit ihnen um 1,3 Millionen Euro. Er wollte als Bauverantwortlicher, dass die Gelder eines Investors für Sanierungen wegen angeblicher Baumängel nicht fließen. Weil die Firma damit in die Insolvenz getrieben wurde, beschlossen Vito L. und Benjamin L., ihm einen gehörigen Denkzettel zu verpassen und ihn eine Zeitlang arbeitsunfähig zu machen. Im Prozess stritten sie allerdings ab, einen Auftragskiller engagiert zu haben; beide wurden dennoch 2010 zu lebenslanger Haft verurteilt.

Der Mörder, der den Auftrag ausführte, floh nach Indien. Gegenüber Deutschen und auch Russen prahlte er mit seiner Mordtat, was den Geheimdiensten nicht verborgen blieb. Zielfahnder spürten den Auftragskiller Adam M. auf, das Auslieferungsverfahren zog sich bis Dezember 2011 dahin. Adam M., in Deutschland nicht vorbestraft, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Es wurde bekannt, dass er in der polnischen Armee, in der Fremdenlegion und bei einem Sicherheitsdienst in Afrika diente. Er soll 10.000 Euro plus Spesen von seinen Auftraggebern erhalten haben.

Am 11. Juni 2012 begann der Prozess vor dem Landgericht in Moabit gegen den nunmehr 44-jährigen Polen, der die Tat bestritt. Er wurde Anfang 2013 zu lebenslanger Haft verurteilt. In seinem Urteil stellte das Gericht zudem wegen Heimtücke und Habgier die besondere Schwere seiner Schuld fest, wodurch er nicht nach 15 Jahren vorzeitig auf Bewährung aus der Haft entlassen werden kann.

Das Gericht hatte keinerlei Zweifel an der Schuld des Angeklagten. Richter Bernd Miczajka betonte, dass sich Adam M. nach Zeugenaussagen mehrfach der Tat gerühmt hat: „Rücken, Kopf und Herz, das ist meine Visitenkarte.“ Ein anderer Zeuge gab Adam M. so im Prozess wieder: „Ich habe ein Kreuz geschossen, das ist mein Markenzeichen.“

Alles klar? Offenbar nicht, denn die drei Verurteilten streiten nach wie vor die Taten ab. Und Benjamin L. will mit Sicherheit keinen Auftragskiller engagiert haben und versucht vehement, auch mit privaten Ermittlern und Sachverständigen seine Unschuld zu beweisen. Die Düsseldorfer Rechtsanwältin Viktoria Reeb hatte beim Landgericht bereits einen Antrag auf Wiederaufnahme des damaligen Verfahrens eingereicht. Begründet wurde der Antrag damit, dass die Polizei entscheidende, die Angeklagten möglicherweise sogar entlastende Beweismittel dem Gericht vorenthalten habe. „Es liegen neue objektive Beweismittel vor, welche die Beweisführung des erkennenden Gerichts grundlegend erschüttern“, sagte im Januar 2020 die Anwältin laut Berliner Zeitung. Der Antrag wurde abgelehnt, denn die Hürden für ein Wiederaufnahmeverfahren sind hoch. Aber wir werden im Blättchen berichten, ob vielleicht doch noch die wahre Wahrheit ans Tageslicht kommt.

Und es ist auch ein Kreuz mit der Brücke. 1958 nach Kriegsschäden erneuert, war sie nach fast 50 Jahren wieder sanierungsbedürftig. 2006 wurde die Brücke auf beiden Fußgängerseiten mit kräftigen Betonpollern im Abstand von einem Meter „verziert“. Damit sollte verhindert werden, dass sich schwere Fahrzeuge auf der morbiden und unter Denkmalschutz stehenden Brücke abstellen.

Die 1901 fertiggestellte Brücke mit vielen Schmuckelementen zierte mittig eine Säule, auf der sich eine Pferdefigur aufbäumte. Zurzeit (von Dezember 2019 bis zum Herbst 2021) wird das Bauwerk denkmalgerecht saniert. Die Berliner wünschen sich sehr, dass das Roß wieder seinen Säulenplatz bekommt und die Schmuckelemente angebracht werden. Und dass die Tafel für den ermordeten Herrmann von Holzendorf wieder zu sehen ist.

Ob dann auch an Friedhelm Sodenkamp gedacht wird? Dies ist zu bezweifeln, weil es in Deutschland, im Gegensatz zu anderen Ländern, keine Gedenktafeln für Mordtaten gibt. An der Schenke „Magdala Tavern“ in London prangt beispielsweise eine solche Tafel. Ruth Ellis erschoss nämlich an dieser Stelle David Blakely. Sie war die letzte Frau, die in Großbritannien gehängt wurde. Die Einschusslöcher sind durch zahllose Finger blankgewetzt. Kriminalgeschichte – zum Anfassen!