23. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2020

Ratlosigkeit und Besserwisser

von Margit van Ham

Die Buschwindröschen hatten noch nicht geblüht, als die Corona-Krise auch in Deutschland spürbar wurde. Zunächst hatte ich das Corona-Virus für mich als eine Grippe-Abart einsortiert, mich an die Schweinegrippe erinnert, die insgesamt ja glimpflicher verlief als vorherige Grippewellen. Dann kamen die Bilder aus Italien mit den Lastwagen voller Leichen. Die Vorstellung, dass diese Menschen ganz allein gestorben waren, dass ihre Angehörigen sich nicht verabschieden konnten, war entsetzlich und hatte die ersten Gedanken weggewischt.

Inzwischen sind die Buschwindröschen vom wunderbaren Frühlingsgrün der Bäume und von Maiglöckchen abgelöst worden. Tröstliche Schönheit der Natur inmitten einer Zeit der Ratlosigkeit. Zwischen Buschwindröschen und Maigrün gab es das totale Herunterfahren des öffentlichen Lebens. Leben auf Abstand, Kontaktverbote, Schließung von Fabriken und Kultureinrichtungen, Schulen und Kindergärten. Ich vermisse Kinder, Freunde, das Theater. Mit Nostalgie sehe ich Filme, in denen Leute sich umarmen, in Kneipen abhängen… Das „normale Leben“ vor der Krise.

Nun sinken die Erkrankungsraten bei uns und parallel dazu steigt das Gezänk zwischen Parteien und Politikern, Bund und Ländern über Öffnungsoptionen, wissen die Wirtschaftsbosse und ihre Lobbyisten was zu tun ist. Die Stunde der Besserwisser hat geschlagen.

Es gibt aber einen Fakt, der bei allen Diskussionen zum Für und Wider der Regierungsmaßnahmen bleibt: Es existieren derzeit weder eine Medizin gegen die Corona-Erkrankung noch eine Impfung. Wer will also sagen, dass diese oder jene Maßnahme falsch oder unnötig war. Ich war dankbar für die entschlossene Haltung der Regierenden um Angela Merkel beim Shutdown, die sich so wohltuend vom vorherigen Parteiengezänk abhob.

Die Schärfe der Diskussionen über unterschiedliche Wertungen der Auswirkungen von Corona hat nun deutlich zugenommen, erschreckt zunehmend in den Dimensionen. Das betrifft alle politischen Spektren – wie man an den jüngsten Demonstrationen zum 1. Mai sehen konnte.

Das Blättchen blieb von unversöhnlichen Standpunkten nicht verschont. Debatten im Forum wurden durchaus nicht feinsinnig mit dem „Florett“ geführt – eine Formulierung, die den besonderen, sachlich argumentierenden Charakter des Blattes unterstreichen sollte, wie mir vor Jahren beim Eintritt in die Redaktion erklärt worden war. Intoleranz findet man nicht nur auf der rechten Seite … Ein „Shutdown“ des Forums kommt mir manchmal in den Sinn, allerdings findet diese Idee keine Sympathie in der Redaktion.

Die Meinungen zu Corona gehen in der Redaktion wie in der Bevölkerung auseinander und wir müssen damit umgehen. Es ist im Blättchen üblich, auch die andere Meinung zu publizieren, solange sie nicht nationalistischen oder rassistischen Ideologien folgt oder unsachliche persönliche Anfeindungen enthält – und nicht zuletzt gut lesbar geschrieben ist. In dieser Ausgabe setzt sich so Hannes Herbst recht kontrovers mit dem Begriff „Corona-Leugner“ auseinander.

Wolfgang Brauer hatte im letzten Editorial angemerkt, dass ursprünglich eine coronafreie Ausgabe geplant war. Auch ich hatte im Sinn, angesichts der ausufernden Berichterstattung zur Corona-Krise den Fokus auf andere Themen zu legen. Nun ja, es ist ein Corona-Heft geworden. Planungen haben im Blättchen-Betrieb noch nie wirklich funktioniert – und eigentlich liebe ich auch das Nicht-Vorhersehbare bei der Entstehung eines neuen Heftes. Es war mir aber wichtig, zumindest ein Beispiel für die aufgrund von Armut und großer Bevölkerungsdichte ganz anderen Dimensionen der Corona-Krise in Ländern des Südens zu zeigen. Edgar Benkwitz informiert in diesem Heft über die bedrohliche Lage der Wanderarbeiter Indiens.

Mir fehlt in der Berichterstattung der hiesigen Rundfunk- und Fernsehsender oft der relativierende Blick auf die Probleme der westlichen Länder. Was ist mit der Heuschreckenplage in Afrika, die Hungersnöte ahnen lässt, was mit den verheerenden Dürren? Was passiert im Jemen? Das derzeit vielgenutzte Wort „Solidarität“  ist leer. Welche Heuchelei, wenn man sich den Hickhack um die wenigen Kinder und Jugendlichen auf Lesbos ansieht, die aufgenommen werden sollen, das lange Ausbleiben von europäischer Hilfe in Italien und Spanien, von den armen Ländern ganz zu schweigen. Die Rüstungsausgaben wachsen dagegen ungeachtet der Krise immer weiter, Atomwaffen sind beziehungsweise werden wieder salonfähig, wie Beiträge auch in dieser Ausgabe zeigen. Eine existentielle Bedrohung der Menschheit, die es ganz ohne Corona gibt.

Mit den Maiglöckchen ist die Hoffnung auf eine langsame Normalisierung des Lebens gekommen, was immer „normal“ bedeutet. Viele hoffen auf einen Lernprozess der Gesellschaft. Wissen wir jetzt besser, was wichtig ist? Werden künftig die „Helden“ der Krise besser bezahlt werden? Werden wir im Interesse des Klimaschutzes weniger verbrauchen, weniger reisen? Sicher ist zumindest, dass in einigen Monaten die Sonnenblumen blühen und für Aufmunterung sorgen werden …