23. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2020

Hannah Arendt in Berlin

von Mathias Iven

Endlich ist es soweit. Nach coronabedingter Auszeit öffnet der Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums Berlin seine Pforten für die Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“. Auf zwei Etagen und gut 1.000 m² Ausstellungsfläche werden rund 300 Objekte präsentiert, die das Leben dieser außergewöhnlichen, keiner Tradition verpflichteten Denkerin dokumentieren. Ergänzt wird das Ganze durch 30 Medienstationen, an denen die Besucher Tondokumente, Hörcollagen oder auch Filmsequenzen erwarten. „Die Ausstellung […] ist keine biographische. In ihr geht es darum, Kristallisationspunkte der Geschichte des 20. Jahrhunderts auf neue Weise darzustellen.“ So Raphael Gross, der Präsident des DHM, in seinen einführenden Worten.

Nicht nur die von Arendt geprägten Begriffe „totale Herrschaft“ oder „Banalität des Bösen“ haben bis heute zu heftigen internationalen Kontroversen geführt. Es waren vor allem die Urteile zu den von ihr untersuchten Sachverhalten, die Widerspruch hervorriefen und die den Ausschlag dafür gaben, nicht die Philosophin Arendt, sondern die sich an der Öffentlichkeit reibende Intellektuelle in den Mittelpunkt einer Ausstellung über die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu stellen. In der Einleitung des von den Ausstellungsmachern herausgegebenen Begleitbandes heißt es dazu: „Aber anders als bei Kant ist Urteilskraft für Arendt kein ästhetisches, sondern ein politisches Vermögen. Arendt ging es um nicht weniger als um die Bedingungen des politischen Handelns und Urteilens im säkularen Zeitalter, das über keinen absoluten Wahrheitsbegriff als Richtschnur des Handelns mehr verfüge.“ Mehrfach wird in dem, die thematischen Schwerpunkte der Exposition ergänzenden Band auf diesen, für das Verständnis von Arendts Denken so wichtigen Begriff eingegangen. Das Urteilen, schreibt beispielsweise Antje Schrupp, „war für Hannah Arendt die wichtigste Form des Sprechens“. Und Susanne Baer stellt fest: „Urteilen ist kein elitäres Projekt, sondern will und soll geübt werden; es ist wichtig, wie jede und jeder Einzelne darüber denkt, was geschehen ist.“

Zumindest auf drei der insgesamt 19 Essays, des die gesamte Breite von Arendts Denken, Schreiben und Handeln abdeckenden Bandes, sei an dieser Stelle hingewiesen.

Thomas Meyer widmet sich in seinem Beitrag dem 1943 in der Zeitschrift Menorah Journal veröffentlichten und von ihm 2016 als Separatausgabe edierten Artikel „Wir Flüchtlinge“. Arendt hat darin nicht nur ihre Dankbarkeit gegenüber dem Exilland USA zum Ausdruck gebracht, sondern sie versuchte vor allem, die jedem Flüchtling anhaftende Scham zu beschreiben. „Mit uns“, so erklärte sie stellvertretend für Millionen aus Europa Geflohene, „hat sich die Bedeutung des Begriffs ,Flüchtling‘ gewandelt. ,Flüchtlinge‘ sind heutzutage jene unter uns, die das Pech hatten, mittellos in einem neuen Land anzukommen, und auf die Hilfe der Flüchtlingskomitees angewiesen waren.“ Aus ihrer Erfahrung als Vertriebene und Staatenlose entwickelte Arendt die grundlegende, jedoch oft genug missachtete Idee vom „Recht, Rechte zu haben“. Wer immer heutigentags diesen Text liest, so Meyer abschließend, „sollte also wissen, dass er oder sie eines der wenigen politischen Programme einer Philosophin in der Hand hält, das im täglichen Kampf um Menschenrechte tatsächlich wirksam geworden ist“.

Mit welch zwiespältigen Gefühlen Hannah Arendt ihre erste Deutschlandreise nach dem Zweiten Weltkrieg antrat, beschreibt Marie Luise Knott. Schon im Januar 1946 hatte Arendt ihrem Lehrer Karl Jaspers im Zusammenhang mit der Anfrage, ob sie Artikel für die neu gegründete Zeitschrift Die Wandlung schreiben würde, erklärt: „Mir scheint, keiner von uns kann zurückkommen (und Schreiben ist doch eine Form des Zurückkommens), nur weil man nun wieder bereit scheint, Juden als Deutsche oder sonst was anzuerkennen; sondern nur, wenn wir als Juden willkommen sind.“ Als Geschäftsführerin der Jewish Cultural Reconstruction, einer Organisation, deren Aufgabe es war, von den Nationalsozialisten geraubtes Kulturgut aufzufinden und nach Amerika und Israel zu überführen, bereiste Arendt 1949 zahlreiche deutsche Städte. In einem Brief an ihre Freundin Hilde Fränkel, geschrieben am 20. Dezember 1949, war über ihre Eindrücke zu lesen: Ich kann „mich der Trauer nicht erwehren: die zerstörten Städte mit ihren verlorenen Fassaden, die zerstörten Menschen. Denn es ist ja doch die deutsche Sprache und diese unerhört schöne, heimatliche Landschaft, eine Vertrautheit, die es nirgendwo mehr für uns gegeben hat oder geben wird.“ – Am 10. Dezember 1951 wurde Arendt amerikanische Staatsbürgerin.

Einer bislang wenig thematisierten Frage hat sich Claudia Christophersen angenommen. Sie befasst sich in ihrem Text mit dem als „Lex Arendt“ in die bundesdeutsche Rechtsgeschichte eingegangenen Wiedergutmachungsverfahren, das über vier Jahre hinweg das Bundesverfassungsgericht beschäftigt hat. Die am 1. November 1967 von Arendts Anwälten eingereichte Verfassungsbeschwerde – einen Teil der Akte kann man in der Ausstellung sehen – hatte die nachträgliche Anerkennung ihres durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht zum formellen Abschluss gebrachten Habilitationsverfahrens und die ihr dadurch entgangene Beamtenpension zum Gegenstand. Mit dem 1971 zu Gunsten von Arendt gefällten Urteil der Karlsruher Richter wurde schließlich ein Präzedenzfall geschaffen, auf den sich in der Folge auch andere, von den Nazis vertriebene Wissenschaftler beziehen konnten.

Neben den Essays enthält der Begleitband auch zahlreiche Fotografien von in der Ausstellung gezeigten Gegenständen und Dokumenten, darunter eigenständige Bildstrecken wie die mit den weithin bekannten, zwischen 1944 und 1966 entstandenen Arendt-Porträts des Fotografen Fred Stein. Die Leihgaben aus den USA, Israel, Frankreich, Österreich und Deutschland vereinende Ausstellung und der Begleitband zeigen einmal mehr: Jenseits aller Grenzen, unabhängig von Trends und Zeitströmungen hat sich Hannah Arendt mit Fragen auseinandergesetzt, die bis heute aktuell sind.

Dorlis Blume / Monika Boll / Raphael Gross (Herausgeber): Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert, Stiftung DHM und Piper Verlag, München 2020, 288 Seiten, 22,00 Euro.

Die Ausstellung kann unter Beachtung der entsprechenden Abstands- und Hygieneregeln bis zum 18. Oktober 2020 täglich zwischen 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr besucht werden.