23. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2020

Die Demokratie und das schwarze Loch

von Hanns Erfurth

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Große Massen, das wissen wir seit über 100 Jahren, können das Licht ablenken. Sehr große Massen können sogar den Raum krümmen. Haben Sterne – wie unsere Sonne – einmal ihren gesamten Brennstoffvorrat verbraucht und als Energie abgestrahlt, stoßen sie ihre Hülle in Form einer Supernova ab und fallen dann zu massereichen Körpern zusammen. Was dabei entsteht, nennen Astrophysiker eine Singularität: Verdichtung einer großen Masse in einem extrem kleinen Volumen. Von ihr geht eine so starke Gravitation aus, dass die Raumzeit um diesen Bereich herum verzerrt wird; nicht die pure Masse ist dabei das Problem, sondern ihre Verdichtung in kleinstem Volumen. So entsteht ein Schwarzes Loch. Den äußeren Rand dieser Zone nennt man Ereignishorizont. Was sich einmal innerhalb des Ereignishorizonts befindet, kann dem Schwarzen Loch nicht mehr entkommen – keine Materie, nicht einmal mehr Licht.

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Eigentlich wollte ich einen Beitrag über den politischen Umbruch seit Mitte März 2020 schreiben. Das wäre vor einem Monat noch leicht gewesen, jetzt fällt es mir schwer. Schon mit dem Begriff „politischer Umbruch“ setzt man sich dem Verdacht aus, ein Rechter oder ein Linker, ein Verschwörungstheoretiker oder ein Impfgegner, ein Identitärer oder ein Reichsbürger, ein Globalisierungskritiker oder ein Gefährder zu sein. Wer ungebeten (und damit eigentlich unerlaubt) Kritik an der Regierung übt, diffamiert sie – so Professor Karl Lauterbach in einer Talkshow, der seinerseits kein Problem damit hatte, Demonstranten, die ihm nicht gefielen, als „Irre“ zu diffamieren.

Es ist eine Tatsache, dass auch Menschen, deren politische Ansichten ich nicht teile, gegen die „Corona-Maßnahmen“ der Regierung protestieren. Ich kann das nicht bedauern, denn ich habe es stets begrüßt, dass auch Ansichten geäußert werden dürfen, die ich nicht teile, und dass ich Meinungen äußern darf, die andere nicht teilen (wir kannten das im östlichen Teil dieser Republik auch schon mal anders). Aber weil ich auf der Stelle geframt (Näheres lese man im „FramingManual“ des sogenannten Berkeley International Framing Institute – einer Marke der Manual-Verfasserin Elisabeth Wehling) und in einen rechtsradikalen Zusammenhang gerückt werden würde, kann ich, wenn ich mich politisch korrekt verhalten will, diesen Beitrag nicht mehr schreiben.

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Hätte ich den Beitrag allerdings doch geschrieben, würde ich gefragt haben: Suspendierte die Exekutive den Verfassungsstaat ohne Not? Um den Notstand glaubhaft zu machen, musste die Bevölkerung manipuliert werden. Der bayerische Ministerpräsident drohte gleich mit Millionen Toten, wenn man nicht … (Na gut, es sind bald Wahlen und er wollte sich als besonders scharfer Hund präsentieren.) Der Herr Bundesgesundheitsminister wollte seine Widersacher mit dem Verweis auf die „Massengräber von New York“ (auf der New Yorker Insel Hart Island bestattet man seit dem 19. Jahrhundert Verstorbene ohne Angehörige oder solche, deren Familien sich eine Bestattung nicht leisten können) mundtot machen.

Besonders der letzte Fall ist perfide: Wer das US-amerikanische Gesundheitssystem ignoriert, das besonders die Ärmsten ohne Versicherungsschutz lässt und es ihnen unmöglich macht, ein Intensivbett zu bezahlen, wer also das Virus für die hohen Todesraten in New York verantwortlich macht statt des ungerechten Gesundheits- und Sozialsystems, der ist entweder ein Tropf oder ein Demagoge. In beiden Fällen hat er an der Spitze des deutschen Gesundheitswesens nichts verloren.

Müssen wir jetzt lernen, dass Grundrechte nicht systemrelevant sind? Grundrechte sind nicht unter dem Vorbehalt schönen Wetters gegeben worden. Sie müssen auch gelten, wenn Gewitterwolken aufziehen. Das Signal an 83 Millionen Bürger dieses Landes ist fatal: Wenn es einmal geschah, kann es immer wieder geschehen.

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Was ist eigentlich eine Pandemie? Sie wird vom Generaldirektor der WHO (Weltgesundheitsorganisation) ausgerufen und bezeichnet die länder- und kontinentübergreifende Ausbreitung einer Infektionskrankheit beim Menschen. Es soll nur der Klarheit wegen angemerkt werden, dass die WHO kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland ist und ihr Generaldirektor die Bundesrepublik nicht regiert. Allerdings war es der Deutsche Bundestag, der den Anordnungen der Exekutive submissest folgte und das Infektionsschutzgesetz blitzartig änderte, indem er sich in § 5 selbst das Recht einräumte, eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ auszurufen. Und das auch tat. In der gleichen Sitzung – auf „Empfehlung des Gesundheitsausschusses“, der dem Bundesgesundheitsminister gehorchte. Womit gleichzeitig die bundesstaatliche Ordnung, das heißt die Verantwortung der Länder für ihr jeweiliges Gesundheitswesen, suspendiert wurde.

Das neue Ermächtigungsgesetz hat eine Laufzeit bis 31. März 2021 – nur zur Erinnerung für diejenigen, die mit einer schnellen Normalisierung rechnen. Aber inzwischen ist ja auch schon von einer „neuen Normalität“ die Rede – Ausnahmezustand als Norm. Offenkundig muss auch eine „epidemische Lage“ nicht weiter verifiziert werden und selbst die „nationale Tragweite“ bedarf keiner Begründung. Dafür reichen der Exekutive die täglich im Stile der Aktuellen Kamera vorgetragenen Zahlenkolonnen des Robert-Koch-Instituts, die ungefähr so spannend sind wie die Ernteberichterstattung im DDR-Fernsehen unseligen Angedenkens. Der saarländische Verfassungsgerichtshof erkannte (Beschluss vom 28.04.2020, Az. Lv 7/20 eA): „Absolute Zahlen einer Zunahme von Infektionen mit dem Sars-Cov2-Virus belegen nichts außer der Zunahme selbst. Sie sind … aussageleer.“

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Die Exekutive war nicht in jedem Fall besonders pfiffig und musste erst von Gerichten darauf gebracht werden, sich an ein paar elementare Regeln zu halten. Auch die strenge saarländische Ausgangssperre führte nach der Aufreihung von zwölf Ausnahmen wegen „triftiger Gründe“ (die von „beruflicher Tätigkeit“ bis zur „Aufarbeitung von Brennholz“ – im Ernst! – reichten) als 13. Punkt an: „Im Falle einer Kontrolle sind die triftigen Gründe jeweils glaubhaft zu machen.“

Ich stelle mir gerade vor, den Richtern des saarländischen Verfassungsgerichtshofs wäre es auf dem Wege zur beruflichen Tätigkeit nicht gelungen, einem Schupo ihre triftigen Gründe glaubhaft zu machen, dann hätte es die Entscheidung, welche die ganze Ausgangssperre in die Tonne trat, vermutlich gar nicht gegeben.

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Es ginge darum, möglichst viele Menschenleben zu retten. Das behauptete der Bundespräsident zu Anfang der „Corona-Krise“ und das behaupten Vertreter der Exekutive bis zum gegenwärtigen Moment. Darum ging es bisher noch nie: Bekanntlich übersteigt die Zahl der Verkehrstoten seit 1950 die Zahl der Opfer alliierter Bombardements deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg: Es sind bislang 790.000. Um die Rettung möglichst vieler Menschenleben ging es auch nicht beim Diesel-Abgasskandal, bei dem mindestens ein deutscher Automobilhersteller Abgaswerte nachweislich manipulierte. Um die Rettung möglichst vieler Menschenleben ging es des Weiteren nicht bei der zögerlichen Klima- und Umweltpolitik und darum ging es ebenfalls nicht bei den 25.000 Toten der letzten schweren Grippewelle von 2017/18 – kumuliert man die Zahlen des letzten Jahrzehnts, kommt man auf 120.000 Tote, für die sich bislang kaum ein Politiker interessierte. Jedenfalls wurden weder Schrittgeschwindigkeit auf allen Straßen zur Verkehrsunfallvermeidung, noch ein Dieselfahrverbot, noch einen Lockdown zur Rettung von Menschenleben vor der Influenza ausgelöst.

Wenn die Rettung von Menschenleben jedoch nur ein vorgeschobener Grund ist, was ist dann der wirkliche Grund für den Lockdown? Das fragen sich nicht nur Demonstranten (Professor Lauterbachs „Irre“), das fragt mich der arabische Gastwirt meines Lieblings-Italieners, das fragt mich die Backwarenverkäuferin im Baumarkt, das fragt mich der Handwerksmeister in Marzahn, der Physiotherapeut in Schöneberg. Das frage auch ich mich immer öfter.

Würden wir Lockerungen jetzt gestatten, die wir dann wieder zurücknehmen müssten, würden wir das politisch nicht überleben, sagte Professor Lauterbach in der erwähnten Talkshow, in der er nicht zuletzt die schwedische Regierung dreimal als „völlig verantwortungslos“ bezeichnete.

Geht es der politisch-akademischen Kaste nur darum, den eigenen Arsch zu retten? Ist wirklich nicht mehr Kern in diesem geföhnten Pudel?

Wird fortgesetzt.