Wer liest, erobert die Welt in anderen Dimensionen, und erhält Anregungen vielfältiger Art. In der Geschichte Männer der Regisseurin und Filmautorin Doris Dörrie macht ein Mann namens Julius Armbrust aus dem Liebhaber seiner Frau ein Abbild seiner selbst und gelangt zu einer überraschenden Selbsterkenntnis, die ihn zu seiner Angetrauten zurückbringt. Ein Plan, der heute noch gelingen könnte.
Eine alte Weisheit ist, dass sich kriminelle Energie gern mit einer gewissen Kreativität verbindet. Weniger bekannt – diese wird oft auch aus Büchern bezogen. Lebenshilfe der ganz eigenen Art! Hier drei Beispiele aus der Kriminalgeschichte:
Fall 1: Der berühmt-berüchtigte „Telefonmörder von Marzahn“ Thomas S. (1985–1987) las fleißig Fachliteratur. Bei der Wohnungsdurchsuchung in der Allee der Kosmonauten 200 in Berlin-Marzahn fanden die Kriminalisten unter anderem das Buch Die Untersuchung unnatürlicher Todesfälle von W. Schulz – eine interne Schrift für die Kriminalisten der DDR. Woher Thomas S. das Buch hatte, konnte nicht ermittelt werden, dafür aber seine infame Begehungsweise: Er rief als angeblicher Mitarbeiter der in der DDR beliebten Sendung Fernseh-URANIA wahllos Frauen an und forderte sie auf, ausführlich über ihr Sexualverhalten zu berichten. Per Telefon wurden auch Kinder genötigt und missbraucht, und in fünf Fällen gab er sich damit nicht zufrieden, ihre sittliche Entwicklung zu gefährden. Er unternahm Mordversuche. So forderte er einen 13-jährigen Jungen auf, das abgeschnittene Kabel eines Rasierapparates in eine Schüssel mit Wasser zu legen, und wenn das Wasser brummt, sollte der Junge seinen Penis eintauchen. Was der aber letztlich nicht tat. Einen Neunjährigen setzte er mit der Lüge in Verwirrung, seine Schwester, sechs Jahre alt, müsse sterben, wenn er nicht tue, was der Anrufer verlange. Erst sollte er sie aufhängen (der Strick riss aber), dann in der Badewanne ertränken, und schließlich verlangte er, die Schwester vom Fensterbrett zu schubsen. Nur weil der Neunjährige den Ordern nicht exakt und zum Schluss gar nicht mehr nachkam, überlebte die Schwester.
Thomas S. hatte mit der internen Fachliteratur aus der Publikationsabteilung des Innenministeriums der DDR alle Möglichkeiten, sich über Tod durch Strom, Ertrinken, Erhängen oder Fenstersturz fachlich zu informieren.
Fall 2: Seit dem 3. August 1996 wurde die 36-jährige Gabriele K. gemeinsam mit ihrer dreijährigen Tochter Franziska, beide wohnhaft in Remstädt nördlich von Gotha, bei der Thüringer Polizei als vermisst gemeldet. Bei einer Absuche durch die Bereitschaftspolizei konnte die Vermisste zwei Tage später um 12.28 Uhr unbekleidet und mit einer Kordel erdrosselt im dichten Gestrüpp auf dem Grenzberg zwischen Warza und Remstädt aufgefunden werden, von dem Kind fehlte jede Spur. Nur der Buggy-Kinderwagen konnte in der Nähe der Leiche gesichert werden.
Schnell fiel der Verdacht auf den 54-jährigen Bernd R. Er stammte aus Warza, wohnte mit seiner Familie im entfernten hessischen Hofgeismar und besaß in der Nähe des Tatortes noch einen Garten. Im Prozess vor der Schwurgerichtskammer wurde Bernd R., der kein Geständnis ablegte, durch eine lange Indizienkette überführt. Er war der Vater des Kindes und stritt mit dem späteren Opfer um Unterhaltszahlungen. Er war am Mordtag nachweislich in seinem Garten, bestritt am Anfang, Gabriele K. gekannt zu haben, und hatte sein Auto so intensiv gereinigt, dass sich selbst in den Radkästen kein Krümelchen Erde mehr befand. In diesem Auto, so das Gericht, habe er die Kleidung der Toten und das Kind weggeschafft. Das Gericht verurteilte ihn zu einer lebenslangen Haftstrafe. Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil. Von dem Kind fehlt immer noch jede Spur.
Bei den Ermittlungen hatten die Kriminaltechniker versiert umfangreiche Spuren untersucht, auch Lutz Harder, heute Dozent an der Thüringer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Polizei. So war in der Laube des Bernd R. das Buch Tote geben zu Protokoll von Ingo Wirth „gegenständlich gesichert“ worden, wie es im Protokoll heißt. Und es fanden sich auf verschiedenen Seiten Fingerspuren, die bewiesen, dass Bernd R. das Studium der Fachliteratur ernst genommen hatte, wobei es unter anderem um die Vermeidung von Faserspuren von der Bekleidung der Opfers ging. Exzellente daktyloskopische Spuren fand man gerade auf den Seiten 56 und 57 des Buches, auf denen das Klebebandverfahren zum Nachweis von Fasern, erfunden 1951 vom Schweizer Kriminalisten Max Frei-Sulzer, abgehandelt wird.
Fall 3: Im Januar 2005 wurde ein Christopher Edward Buckingham, 42 Jahre alt, bei einer Routinekontrolle verhaftet, als er mit einem falschen Pass nach Großbritannien einreisen wollte. Er gab sich als Lord Buckingham aus. Man fand in seinem Reisegepäck adliges Briefpapier mit einem Wappen, das zuletzt im 18. Jahrhundert verwendet worden war. Man ermittelte, dass dieser „Earl of Buckingham“ mit vier erblichen Titeln und dem Recht, im Oberhaus zu sitzen, vor 23 Jahren die Identität des damals acht Monate alten Babys Christopher Edward Buckingham in betrügerischer Absicht gestohlen hatte. Sein Vorbild war der Attentäter in Fredricks Forsyths Roman Der Schakal, der mit derselben Methode seine wahre Identität verschleiern konnte. Ein wertvoller Buchtipp! Den falschen Adelstitel verlieh er sich später von eigenen Gnaden. Anstandslos hatten ihm die britischen Behörden einen Pass, einen Führerschein und eine Krankenversicherungsnummer ausgestellt.
Im November 2005 wurde der „Earl“ in Kent wegen Identitätsbetrugs zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt. Er schwor vor Gericht, wirklich der „Earl“ zu sein, und gab seine wahre Identität nicht preis. Zudem verweigerte er alle Aussagen. Immerhin konnte man schnell feststellen, dass sein „Herrenhaus“ nur drei Schlafzimmer hatte … In den Medien wurde er sogar verdächtigt, ein untergetauchter DDR-Spion zu sein.
Soviel war aber sicher: Er arbeitete als IT-Spezialist bei einer Schweizer Bank, verdiente gutes Geld, zahlte Steuern und pendelte zwischen der Bankenmetropole Zürich, einem Wohnort im Allgäu und der englischen Grafschaft Northamptonshire.
Doch dann kam alles heraus. Hinter der Fassade des „Lords“ lugte der US-Bürger Charles Albert Stopford aus Orlando (Florida) hervor. 23 Jahre zuvor hatte er aus Angst vor einer Haftstrafe die USA fluchtartig verlassen und war seitdem für seine Familie verschwunden. Stopford diente damals als Geheimdienstler bei der US-Marine und soll versucht haben, eine Bombe im Auto seines Vorgesetzten zu platzieren. Ein grober Scherz, wie heute von ihm und seiner wirklichen Familie beteuert wird.
Weitere literarische Anregungen lassen sich finden: Im Roman Der talentierte Mr. Ripley von Patricia Highsmith tötet der mittellose Nichtsnutz Tom Ripley den reichen Müßiggänger Philippe und führt mit dessen Identität ein Doppelleben. In der Geschichte Mitten ins Herz von Doris Dörrie gibt es Tipps, wie man seinen Geliebten in der Badewanne umbringen kann. Und so weiter und so fort …
Schlagwörter: Frank-Rainer Schurich, Kriminalgeschichte, Literatur, Spuren