Er hatte ein unruhiges und kurzes Leben: Paul Pessach Antschel, besser bekannt unter dem Namen Paul Celan. Geboren am 23. November 1920 in Czernowitz, aus dem Leben geschieden im Frühjahr 1970 in Paris. 1938 Aufnahme eines Medizinstudiums im französischen Tours, nach einem Jahr Rückkehr in die Heimat, Zwangsarbeit im Straßenbau. 1945 Übersiedelung nach Bukarest, zwei Jahre später Flucht über Wien nach Paris. Bis zu seinem frühen Tod arbeitete er als Übersetzer und Dolmetscher und war als Lektor an der École Normale Supérieure tätig. Doch in erster Linie war er Schriftsteller. „Unter den deutschsprachigen Lyrikern des vergangenen Jahrhunderts, deren Dichtung nach dem Krieg einsetzte, ist seine Stimme eine der eigensinnigsten und eindrucksmächtigsten. Auch in weitem zeitlichem Abstand wird das wohl gelten.“ Soweit das Urteil des Germanisten Albrecht Schöne.
In den vergangenen Jahren ist bereits ein Großteil von Celans Korrespondenz erschienen, darunter die Briefwechsel mit seiner Frau Gisèle, mit Nelly Sachs, Peter Szondi, Gisela Dischner, Rudolf Hirsch, Klaus und Nani Demus, Hermann und Hanne Lenz oder Ingeborg Bachmann. Viele dieser Ausgaben hat die Literaturwissenschaftlerin Barbara Wiedemann herausgegeben. Ihr ist auch der soeben vorgelegte, Briefe aus fast fünf Jahrzehnten vereinende Band zu danken. Es ist eine opulente, fast 1300 Seiten umfassende, hervorragend kommentierte Auswahl, die 691 Briefe an 252 Adressatinnen und Adressaten vereint. Immerhin 330 Schreiben liegen erstmals gedruckt vor, was einen neuen Blick auf Celans Biographie eröffnet und Celan-Kenner begeistern dürfte. Besonders groß ist die Gruppe derer, die mit Celans Arbeit als Schriftsteller und Übersetzer verbunden waren. Hier wird deutlich, welch enorme Übersetzerleistung Celan in den frühen 1950er Jahren zur Sicherung seines Lebensunterhalts erbracht hat: Aus sieben Sprachen hat er mehr als vierzig Autoren ins Deutsche übertragen. Bei der Auswahl der Briefpartner ging es der Herausgeberin vor allem darum, „die ,innere und äußere Biographie‘ zu verlebendigen“. Und so steht viel Persönliches neben Alltagsgeschichtlichem.
Wenn Celan über seine Herkunft nachdachte, sah er sich „letzten Endes ja doch nur [als] ein verspätetes Kind des alten Österreich“, als ein im Musil’schen Sinne „nachgeborener ,Kakanier‘“. Selbst französischer Staatsbürger zu sein war für ihn „letzten Endes ein – ,Kakanier-Schicksal‘“. Überhaupt schien er nie ganz in Frankreich und der französischen Gesellschaft angekommen zu sein, hieß es doch in einem Brief: „Sie wissen nicht, wie selten ich hier in Paris Gelegenheit zu wirklichen Gesprächen habe! Hier ist es ja leider zumeist so, daß die Leute ,sich zu Gehör bringen‘: dann darf der andere, der ,Gesprächspartner‘, klatschen und – gehen.“ Und wenige Monate vor seinem Ableben schrieb er an den Freiburger Germanisten Gerhart Baumann: „Der Stadt Paris bin ich nicht mehr ganz gewachsen – und überhaupt dieser Welt und dieser Zeit.“
Befragt als Schriftsteller, musste er immer wieder Auskunft zu seinem Werk geben. Wie gestaltete sich der Schreibprozess? Welchen Anspruch hatte sein Dichten? Einem 16 Jahre alten Bremer Schüler erklärte er: „Gedichte sind vielmehr ein Versuch, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, ein Versuch, Wirklichkeit zu gewinnen, Wirklichkeit sichtbar zu machen. Wirklichkeit ist für das Gedicht also keineswegs etwas Feststehendes, Vorgegebenes, sondern etwas in Frage Stehendes, in Frage zu Stellendes.“ Gegenüber Werner Weber, ehemals Feuilleton-Chef der Neuen Zürcher Zeitung, stellte Celan fest: „Sprache, zumal im Gedicht, ist Ethos – Ethos als schicksalhafter Wahrheitsentwurf.“ Und Hans Werner Richter, den Celan 1952 auf einer Tagung der Gruppe 47 kennengelernt hatte, las im Januar 1965: „Im übrigen bin ich der Ansicht, dass ein Schriftsteller sich nicht für das jeweils kleinere bzw. ,kleinere‘ Übel, sondern jederzeit, so differenziert als möglich, für das Wahre und Menschliche zu entscheiden hat.“
Ausgelöst von der sogenannten, gleichfalls von Barbara Wiedemann aufgearbeiteten Goll-Affäre und deren antisemitischer Stoßrichtung, litt Celan seit Mitte der 50er Jahre vermehrt unter Verfolgungsängsten und Depressionen. Wiederholt wurde er in psychiatrische Kliniken eingewiesen und dort Behandlungen unterzogen, über deren verheerende Wirkungen er kurz vor seinem Tod an seine langjährige Bekannte Ilana Shmueli schrieb: „Die Ärzte haben da viel zu verantworten, jeder Tag ist eine Last, das was Du ,meine eigene Gesundheit‘ nennst, kann es wohl nie geben, die Zerstörungen reichen bis in den Kern meiner Existenz […] Man hat mich zerheilt!“
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Bis heute gilt die erste Zusammenkunft von Paul Celan und Martin Heidegger im Sommer 1967 als ein nicht nur für Literaturwissenschaftler und Philosophen bedeutsames Ereignis. Der Schweizer Journalist und Schriftsteller Hans-Peter Kunisch hat das dazu Vorhandene gesichtet, letzte Zeitzeugen befragt und neue Materialien zutage gefördert. Herausgekommen ist eine Dokumentation, an deren Ende man glaubt, selbst dabei gewesen zu sein.
Freiburg, 24. Juli 1967. Noch nie hat Paul Celan vor so großem Publikum gelesen. Mehr als 1000 Hörer sind in das Audimax der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität gekommen. In der ersten Reihe: Martin Heidegger. Seit Langem hat Celan den Denk- und Lebensweg des Eigensinnigen aus Meßkirch verfolgt. Er kennt dessen Bücher und fühlt sich ihrer besonderen, literarisch dichten Ausdrucksweise verwandt. Beide sind sie Suchende, einer neuen, unverbrauchten Sprache auf der Spur, die aus einer längst verschütteten entwickelt werden muss. Mit einem Auszug aus „Sein und Zeit“ hatte es begonnen. Celan war 1943 in einer Zeitung darauf gestoßen. Fünf Jahre später lernte er Ingeborg Bachmann kennen, die sich in ihrer Dissertation mit Heidegger auseinandersetzte. Schließlich berichtete ihm sein Dichterkollege René Char 1955 von einer Begegnung mit Heidegger in Paris. Am Ende seines Briefes hieß es: „Er schätzt Ihre Gedichte außerordentlich und kennt ihre Werke sehr genau.“ – Jetzt ist Celan also nach Freiburg gekommen. Nach der Lesung ein kurzes Treffen im Hotel, doch man ist nicht unter sich. Nur mühsam entwickelt sich ein Gespräch und die Celan auf der Seele liegende Frage bleibt unausgesprochen.
Todtnauberg, 25. Juli 1967. Am Morgen war man zu Heideggers Hütte aufgebrochen, seit mehr als 40 Jahren sein Rückzugsort in der Einsamkeit des Schwarzwaldes. Drei kleine Räume, entworfen hatte das Ganze seine Frau Elfride. Auf der Fahrt dorthin, so berichtete es später ein Zeuge, habe lange Zeit „drückendes Schweigen“ geherrscht. Celan dachte nach: „Wo und wann soll er Heidegger fragen? Und was genau?“ Nach nicht einmal einer halben Stunde bricht man von der Hütte bereits wieder auf. Zeit für ein wirkliches Gespräch gab es nicht. Von Heidegger um einen Eintrag ins Hüttenbuch gebeten, findet Celan eine vieldeutige Formulierung, die Eingang in sein am 1. August 1967 geschriebenes und im Januar 1968 an Heidegger übersandtes Gedicht „Todtnauberg“ finden wird: „Ins Hüttenbuch, mit dem Blick auf den Brunnenstern, mit einer Hoffnung auf ein kommendes Wort im Herzen“.
Hat Heidegger aus der Vergangenheit gelernt? Warum hat er sich nie öffentlich zu seinen Verstrickungen während der Zeit des Nationalsozialismus geäußert? Womöglich hat ihm Celan diese Fragen auf der Rückfahrt gestellt, schreibt er doch nach der Begegnung an seine Frau Gisèle: „Dann kam es im Auto zu einem ernsten Gespräch, bei dem ich klare Worte gebraucht habe. […] Ich hoffe, daß Heidegger zur Feder greifen und einige Seiten schreiben wird, die sich auf das Gespräch beziehen und angesichts des wieder aufkommenden Nazismus auch eine Warnung sein werden.“ Doch das erlösende, das „kommende Wort“ bleibt aus. Im März 2019 erinnerte sich Klaus Reichert (von 1964 bis 1968 Lektor des Suhrkamp Verlages) an ein Gespräch, das um diese Frage kreiste: „Ich fragte Celan, wie konnten Sie das machen, wie konnten Sie zu Heidegger gehen? Und er antwortete, er habe ihn gefragt, was er ihm zu sagen hätte über die Vergangenheit. Und Heidegger hätte geantwortet, er werde sich das überlegen, habe dann aber nichts dazu gesagt.“
Noch zwei Mal wird Celan zu Lesungen nach Freiburg kommen: im Juni 1968 und im März 1970. Nur wenige Wochen nach diesem letzten öffentlichen Auftritt nimmt er sich das Leben. Am 1. Mai 1970 wird sein Leichnam zehn Kilometer flussabwärts von Paris aus der Seine gezogen.
Paul Celan: „etwas ganz und gar Persönliches“ – Briefe 1934 bis 1970. Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 1286 Seiten, 78,00 Euro.
Hans-Peter Kunisch: Todtnauberg – Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung. dtv Verlag, München 2020, 350 Seiten, 24,00 Euro.
Schlagwörter: Biografie, Briefe, Martin Heidegger, Mathias Iven, Paul Celan