23. Jahrgang | Nummer 8 | 13. April 2020

Orbán und die EU

von Erhard Crome

Anfang April gab der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) sein Urteil zum EU-Beschluss zur Umverteilung von Flüchtlingen von 2015 bekannt; Ungarn, Tschechien und Polen hatten sich geweigert, den umzusetzen. Damit verstießen sie gegen EU-Recht, urteilte der EuGH. Das beeindruckte die drei Regierungen jedoch nicht weiter, sie erklärten, auch künftig keine Flüchtlinge aufzunehmen, die ihnen per Quote zugeteilt werden. Dabei können sie sich darauf berufen, dass die Öffnung der Grenze durch Deutschland ohne Konsultation der anderen EU-Staaten erfolgt war und der Europäische Rat jene Beschlüsse, zu deren Gunsten jetzt geurteilt wurde, bereits 2018 formell aufgehoben hatte, da sie ohnehin nicht umsetzbar waren. Wann in der EU Mehrheitsbeschlüsse über den Kopf einzelner Staaten hinweg gefasst werden können, bleibt politisch und rechtlich weiter umstritten. Schließlich könnten die anderen so auch gegen den deutschen Willen „Euro-Bonds“ beschließen.

Vorreiter des autoritären und fremdenfeindlichen Populismus in Ostmitteleuropa ist Ungarn. Der autoritäre Umbau des Staates, des ganzen politischen und gesellschaftlichen Systems ist hier am weitesten vorangeschritten. Das hat mehrere Gründe. Dazu gehört die völlige Diskreditierung der brüssel-orientierten sozialistischen und liberalen Eliten durch ihr Agieren in der postsozialistischen Transformation und der Finanzkrise 2008. Viktor Orbán punktete im Lande mit der Erklärung, früher habe man die Befehle aus Wien erhalten, dann aus Moskau, jetzt wolle man nicht neue Befehle aus Brüssel, sondern selbst entscheiden.

Orbán wurde landesweit bekannt, als er am 16. Juni 1989 auf der vom Fernsehen übertragenen Großveranstaltung zur Umbettung von Imre Nagy, der nationalen Gestalt des Volksaufstands 1956, in ein würdiges Grab erstmals öffentlich den Abzug der sowjetischen Truppen forderte. Die dort zur Rede zugelassenen Oppositionellen hatten zwar vereinbart, diese Forderung nicht zu erheben, um die Sowjetunion nicht zu provozieren, doch Orbán hatte sich darüber hinweggesetzt. Er zeigte damit, es ist in der Politik zuweilen zielführend, Regeln zu ignorieren.

Seine Partei Fidesz galt zunächst als liberal und war Mitglied der Liberalen Internationale, dann brachte Orbán sie auf einen national-konservativen Kurs, und sie trat zur christdemokratischen Europäischen Volkspartei über. An die Stelle radikal-liberaler Rhetorik und eines auch in Äußerlichkeiten gepflegten antibürgerlichen Habitus’ traten, wie der Publizist Paul Lendvai feststellte, zuvor verpönte konservative Werte, ein Schulter-an-Schulter-Auftreten mit den katholischen und protestantischen Kirchen und vor allem ein bewusstes Ausspielen des Mythos der ungarischen Nation gegenüber linken und liberalen politischen Rivalen.

Den politischen Konstitutionsprozessen im Osten Europas nach dem Ende des Realsozialismus waren von Anfang an nicht nur die Ideen von westlicher Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft eingeschrieben, sondern auch die des Nationalismus. Im Westen dachte man lange Zeit, beide seien verbunden, und der Nationalismus ließe sich kontrollieren. Tatsächlich jedoch fallen sie zunehmend auseinander. Das Vorgehen Orbáns gegen seine politischen Gegner im Lande, die Verfassung von 2011 und die Abschaffung der Freiheit von Presse und Kunst sind Konsequenzen dessen.

Die folgenreichste Weichenstellung erfolgte mit der neuen Verfassung, die am 25. April 2011 (genau ein Jahr nach dem Wahltag, an dem Fidesz seine neue Zweidrittelmehrheit im Parlament erlangte) beschlossen wurde und am 1. Januar 2012 in Kraft trat. In der Präambel bezieht sie sich auf den Staatsgründer vor über 1000 Jahren, „unser König, der Heilige Stephan I.“ und das Christentum sowie „die verfassungsmäßige staatliche Kontinuität Ungarns und die Einheit der Nation“. Damit wurde Rechtskontinuität mit dem Horthy-Ungarn der Zwischenkriegszeit hergestellt und die mit der Ungarischen Volksrepublik unterbrochen. Die Nation schließt eine besondere Schutzverantwortung für die außerhalb der Grenzen des Landes lebenden Ungarn ein. Die Ehe ist definiert als „eine aufgrund einer freiwilligen Entscheidung zwischen Mann und Frau zustande gekommene Lebensgemeinschaft.“ Damit wird der in der EU erreichte Stand in Bezug auf gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften negiert. Die Ablehnung der Selbstdefinition durch Transgender-Personen, die derzeit in einem Gesetzentwurf vorgesehen ist, kann sich auf die Verfassung berufen. Und die ist in Brüssel zwar moniert, am Ende aber akzeptiert worden.

Das innenpolitische Ansehen Orbáns, dessen Partei und Verbündete bei Wahlen 2014 und 2018 die Zweidrittelmehrheit behaupten konnten, fußt auch auf wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Dazu gehörte das sogenannte Fremdwährungsgesetz. Es ermöglichte ungarischen Kreditnehmern, die Bankkredite bei ausländischen Banken aufgenommen hatten, diese Kredite bis Ende 2011 zu einem festen, von der ungarischen Regierung festgelegten Wechselkurs abzulösen. Viele ungarische Haushalte hatten zwischen 2000 und 2009 Kredite bei ausländischen Banken aufgenommen; der Forint schwankte, die inländischen Zinsen waren hoch, während Kreditkonten, die in Schweizer Franken geführt wurden, stabil schienen und die Zinsen niedrig und übersichtlich. (Dieses Problem haben Krastev und Holmes nicht verstanden; sie meinen, es sei die Eitelkeit der Ungarn gewesen, westliche Konsummuster nachzuahmen. Das Blättchen, Nr. 7). Vor allem österreichische Banken waren an diesem Geschäft beteiligt. Am Ende waren etwa zwei Drittel aller Hypotheken-Kredite in Ungarn in Schweizer Franken aufgenommen. Der wurde jedoch in der Finanzkrise 2008 zu einer Fluchtwährung und stieg drastisch im Kurs, während der Forint-Kurs drastisch fiel. Dadurch konnten immer mehr Ungarn ihre Raten nicht mehr bezahlen, nach Schätzungen etwa 800.000 Haushalte. Die Regierung argumentierte, nicht die Gier der Kunden habe zu dieser Situation geführt, sondern die Gier der Banken. Deshalb müssten sie einen Teil der Kosten tragen, indem sie den festen Wechselkurs bei der Kreditablösung akzeptieren. Nach Schätzungen beliefen sich die Verluste auf etwa eine Milliarde Euro – was genau betrachtet jedoch nicht realisierte Gewinne waren. Die Regierungen anderer EU-Staaten protestierten gegen diese Regelungen, am Ende ließ die EU sie aber durchgehen.

Ende 2010 wurde in Ungarn ein neues Mediengesetz verabschiedet. Die öffentlich-rechtlichen Medien wurden ein „von der Regierung kontrolliertes Sprachrohr“, wie es ein ungarischer Journalist ausdrückte. Die weit auslegbaren Vorschriften verpflichteten zu „ausgewogener Berichterstattung“ und zur „Stärkung der nationalen Identität“. Unmittelbar nach Bekanntwerden dieses Gesetzes reagierte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn mit Empörung und forderte die EU-Kommission auf, unverzüglich dagegen vorzugehen; es verstoße gegen Geist und Buchstaben der EU-Verträge. Insofern war Asselborn, als es 2015 um die Flüchtlinge ging, bereits ein alter Bekannter in Sachen Ungarn. Die Kommission protestierte tatsächlich ungewohnt scharf, Orbán veranlasste einige Änderungen, die meisten kosmetischer Natur: So galt die Pflicht zu ausgewogener Berichterstattung nicht mehr für Journalisten privater Print- und Internetmedien, der Quellenschutz für Journalisten wurde verbessert, Sanktionsmöglichkeiten im Falle einer „Verletzung der Privatsphäre“ wurden abgeschwächt. Zugleich wurde eine mächtige staatliche Medienaufsichtsbehörde geschaffen, überwiegend mit Orbán-Getreuen besetzt; ein Drittel der 3400 damals bei Radio, Fernsehen und Nachrichtenagentur MTI Beschäftigten musste gehen, in der Regel die kritischen Geister.

Am 30. März, in Zeiten der Corona-Pandemie, beschloss das ungarische Parlament ein Notstandsgesetz. Die Regierung kann auf unbegrenzte Zeit per Dekret regieren. Oppositionspolitiker redeten von „Ermächtigungsgesetz“. Rein sachlich wäre nichts anders, tagte das Parlament: Die Regierungsfraktion verfügt ohnehin über 133 der 199 Parlamentssitze. Wahlen oder Referenden dürfen in diesen Notstandszeiten nicht stattfinden. Die Verbreitung von „Fake News“ soll streng geahndet werden, das betrifft falsche Berichte über die Pandemie ebenso wie über das Regierungshandeln. In anderen EU-Staaten wurde sofort Kritik geäußert. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen warnte „vor unverhältnismäßigen Krisenmaßnahmen“. Jean Asselborn forderte diesmal, Ungarn aus den EU-Ministerräten auszuschließen. Das allerdings geben die Verträge nicht her. Die Kommission hatte umfangreiche Kompetenzen, in den Beitrittsverhandlungen die inneren Verhältnisse zu regulieren. Bezüglich der gleichberechtigten Mitgliedsstaaten hat sie die nicht.

In einer Erklärung betonten am 1. April 13 der 27 EU-Staaten – Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Spanien und Schweden –, es sei legitim, ungewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen, um die Bürger zu schützen, sie sollten jedoch „verhältnismäßig und befristet sein“ und „nicht die freie Meinungsäußerung oder die Pressefreiheit beschränken“. Deshalb würden sie die Initiative der Kommission unterstützen, die Notstandsmaßnahmen der EU-Staaten zu überprüfen. Auffällig war, dass hier überwiegend west- und nordeuropäische Staaten versammelt waren, die Visegrád-Staaten waren nicht dabei, andere osteuropäische Länder zunächst ebenfalls nicht. Estland, Lettland und Litauen beeilten sich, ebenfalls zu Unterzeichnern zu gehören; sie wollen gern in Brüssel, Berlin und Stockholm einen guten Eindruck machen. Alle Spatzen pfiffen vom Dach, gemeint sei Ungarn, explizit gemeint war es aber nicht. Am 3. April aber verlautbarte die ungarische Regierung, sie bedauere, dass die Erklärung nicht von Anfang an allen EU-Staaten offen stand und dass sie ihr beitritt. Viktor Orbán war wieder für eine Überraschung gut.