23. Jahrgang | Nummer 7 | 30. März 2020

Senizid

von Bruni Butzke

Der wieder lesenswerte Historiker Niall Ferguson, aus Großbritannien stammend und in den USA arbeitend, hat angesichts der Corona-Epidemie darauf verwiesen, dass das Wort „Senizid“ das „Wort der Stunde“ sei (Neue Zürcher Zeitung, 22.03.2020). Das Wort „Genozid“ als Bezeichnung für die Ermordung eines Stammes oder Volkes wurde erst 1944 geprägt, doch die UNO-Generalversammlung nahm bereits 1948 – vor dem Hintergrund des Holocaust und der deutschen Verbrechen im Osten Europas – eine Resolution über das Verbot und die Bestrafung des Verbrechens des Genozids an. Den Terminus „Senizid“ gibt es dagegen seit 1889; der britische Völkerkundler Henry Hamilton Johnston schrieb über die früheren Bewohner Sardiniens, sie „sahen es einst als heilige Pflicht der jungen Menschen an, ihre alten Verwandten zu töten“. Ähnliches wusste man von Eskimos, aus Japan, von indigenen Völkern Amerikas. Diese Praxis sollte die Zahl „überflüssiger Esser“ reduzieren und das Überleben des restlichen Stammes sichern. Neuere Literatur zu dem Thema fehlt laut Ferguson jedoch fast völlig. Das Völkerrecht und die internationalen Rechtsakte verankern Verbote der Diskriminierung nach dem Geschlecht, der sexuellen Orientierung, der nationalen Zugehörigkeit, der Sprache oder der Religion, kaum aber nach dem fortgeschrittenen Alter. Es sei denn über den Umweg der Menschen- und Bürgerrechte: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ oder „vor dem Gesetz sind alle gleich“. Das gilt auch für Alte.

In Deutschland erschien 2018 in dem Wissenschaftsverlag Springer VS ein Bändchen unter dem Titel: „Senizid und Altentötung: Ein überfälliger Diskurs“ des pensionierten Studienrates Raimund Pousset. Der Verlag schrieb in seiner Ankündigung, der Autor „beleuchtet sowohl die Geschichte als auch die aktuelle Situation einer uralten Methode. Diese seit Jahrtausenden fast überall auf der Welt praktizierte Sitte, alte ‚nutzlose‘ Menschen aktiv zu beseitigen oder sich passiv selbst zu Tode zu befördern, wird heute zunehmend wiederbelebt.“ Angesichts der „Segregation des Alters“ und „der Kostenlawine im Gesundheitswesen“ sei zu vermuten, „dass der Senizid weiter an trauriger Bedeutung gewinnen wird“. Mit der Publikation solle, so der Verlag, dieser stille Tod „in den Fokus einer achtsamen Fachöffentlichkeit“ gestellt werden. Ob diese achtsam war, wissen wir nicht, weit darüber hinaus ist das Thema jedenfalls auch hierzulande nicht gedrungen.

Die Corona-Pandemie durch das Virus Sars-CoV-2 stellt das Thema Senizid auf neue Weise. Ferguson verweist auf die Statistiken: in China, wo die die Epidemie ihren Ausgang genommen hatte, lag die Sterberate bei Menschen unter 50 Jahren bei 0,2 Prozent, über 60 bei 3,6 Prozent, über 70 bei 8,0 und über 80 Jahren bei 14,8 Prozent. Die Zahlen aus Italien, dem jetzt am stärksten betroffenen Land, sehen ähnlich aus: die Sterberate der über Siebzigjährigen liegt bei 11,8 Prozent, der über Achtzigjährigen bei 18,8 Prozent. Den Regierungen in den USA und Großbritannien wirft Ferguson vor, dass sie zu spät reagierten, während China und Südkorea durch die Kombination von Massentests, erzwungener sozialer Distanzierung und der Nachverfolgung von Kontaktpersonen die Ausbreitung des Virus eingedämmt haben. Hinzu kommt die technische Ausstattung des Gesundheitswesens; in China wird jeder, jedenfalls in den großen Städten, bei dem eine Corona-Infektion festgestellt wurde, sofort einer MRT-Untersuchung unterzogen, weil eine Schädigung der Lunge durch das Virus nach Ansicht chinesischer Ärzte bereits in einem sehr frühen Stadium diagnostiziert werden kann. In Deutschland wartet man auf einen solchen Termin schon zu „normalen“ Zeiten Wochen.

Schließlich meint Ferguson, in den „modernen, entwickelten Demokratien“ des Westens würden diejenigen, die durch Unterlassung oder falsches Handeln einen auf die Corona-Pandemie zurückzuführenden Senizid bewirkt haben, zur Verantwortung gezogen werden, wie auch die Verantwortlichen für die Genozide seit 1945.

Das dürfte unter einer kultursoziologischen Perspektive zu bezweifeln sein. In die Poren der westlichen hedonistischen Gesellschaften des Jugendwahns ist in den vergangenen Jahrzehnten eine Alten-Feindlichkeit eingedrungen. Dafür steht der Greta-Kult, der auch in Deutschland eine allgemeine Ermächtigung der Jugend deklariert hat. „Die Alten“ fahren den Planeten an den Baum, und „die Jungen“ müssen ihn retten. Auch der Stern, gewiss kein linkes Blatt, betonte das „How dare you?!“, das Greta Thunberg auf dem UN-Klimagipfel im September 2019 den Spitzenpolitikern der Welt an den Kopf warf. Es sei „ein Satz für die Geschichtsbücher, weil er den großen Konflikt unserer Zeit in wenige Worte gießt“. Allerdings ist eine solche Aussage: „Wie konntet Ihr es wagen?!“ eine Art verdrehter Stalinismus ohne Stalin. Es wird nämlich der objektive Gang der Weltgeschichte der vergangenen 500 Jahre, der mit der Industrie auch eine massive Steigerung des Wohlstandes, der Bevölkerung, der Lebenserwartung und der Kultur der Menschen bewirkt hat, in eine Ansammlung subjektiver Fehlentscheidungen umgedeutet. Für die es jedoch kein tatsächliches Subjekt gibt.

Wenn man einen solchen Vorwurf jedoch gesellschaftspolitisch geltend macht, hat das Folgen für das Generationenverhältnis. Ende des Jahres 2019 wurden die unschuldigen Sängerinnen und Sänger eines Kinderchores des Westdeutschen Rundfunks missbraucht, um ein umgedichtetes Scherzlied von früher („Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“) mit der Zeile singen zu lassen: „Oma ist ne alte Umweltsau“. Kritiken daran wurden in den Medien abgebügelt, das sei „Satire“ und die dürfe „alles“. Das Satire-Format der ARD-Jugendwelle „Funk“ setzte am 13. März 2020 fort, und sendete die Botschaft aus, das Corona-Virus sei fair, „es rafft die Alten dahin, aber die Jungen überstehen diese Infektion nahezu mühelos. Das ist nur gerecht, hat doch die Generation 65+ diesen Planeten in den letzten fünfzig Jahren voll gegen die Wand gefahren.“ Kritiken daran wurden wieder mit dem Pseudo-Argument „Satire“ beiseite gewischt. Tatsächlich hatten wir es hier wieder mit einer anderen Gestalt des Greta-Stalinismus zu tun. Wenn jemand derlei „Witze“ über Juden, Schwule oder afrikanische Flüchtlinge gemacht hätte, wäre ein lauter Aufschrei durch das Land gegangen, insbesondere von links. Die Linken waren an dieser Stelle jedoch sehr still und verteidigten das „Satire“-Privileg.

Ferguson irrt in seinem Optimismus. Die Corona-Partys der vergangenen Tage in Deutschland, die am Ende nur durch Polizeigewalt unterbunden werden konnten, waren kein Ausrutscher, sondern Ausdruck einer Senizid-Strömung in den westlichen Gesellschaften. Chinesen und Koreaner waren bei der Bekämpfung von Sars-CoV-2 nicht nur medizinisch und technisch besser als die Europäer. Zum konfuzianistischen Kulturerbe gehört, wie in Indien, die Achtung vor dem Alter als ein hohes Gut. Der hedonistische Jugendwahn des Westens dagegen trägt den Keim der Menschenverachtung und der Zerstörung in sich.

Bruni Butzke, Jahrgang 1963, hat Soziologie studiert und lebt in Berlin.