Zum ersten Mal seit fast zwei Jahrzehnten deutet sich eine realistische, wenn politisch zumindest teilweise aber auch anrüchige Chance, den Krieg in Afghanistan auf diplomatischem Weg zu beenden, da türmen sich schon Hindernisse auf, und zwar bevor es überhaupt richtig losgegangen ist. Angesichts der Konfliktgemengelage nach über 40 Kriegsjahren ist das allerdings nicht verwunderlich.
Am 10. März sollten sogenannte innerafghanische Friedensgespräche in Oslo beginnen. So sieht es ein „Abkommen, Frieden nach Afghanistan zu bringen“ vor, dass die USA und die Taleban am 29. Februar in Katars Hauptstadt Doha geschlossen haben (offiziell „Agreement for Bringing Peace to Afghanistan“ genannt). Darin verpflichtet sich die Trump-Regierung außerdem, bis Ende April 2021 ihre Soldaten stufenweisen aus dem mittelasiatischen Land abzuziehen, wenn es bis dahin – und hier beginnen die Unklarheiten im Text – „Fortschritte“ bei den innerafghanischen Gesprächen gegeben habe. Das heißt im Klartext, die US-Truppen könnten bereits vor einem endgültigen Friedensschluss abgezogen werden – eine Vorstellung, die viele Afghaninnen und Afghanen schaudern lässt. Der Abzug würde auch alle verbündeten Truppenkontingente betreffen, darunter die noch bis zu 1300 in Afghanistan stationierten Angehörigen der Bundeswehr.
Die Taleban garantieren im Gegenzug, jede Kooperation mit islamistischen Terrorgruppen wie al-Qaeda zu beenden und diesen nicht zu erlauben, von dem von ihnen kontrollierten Territorium aus – etwa der Hälfte des Landes – zu operieren.
Zeitgleich zum Vertragsabschluss in Doha gaben in Afghanistans Hauptstadt Kabul Präsident Aschraf Ghani und US-Verteidigungsminister Mark Esper eine gemeinsame Erklärung ab, in der sich Kabul bereit erklärt, Gespräche mit den Taleban aufzunehmen.
Die USA und die Taleban hatten seit Oktober 2018 in Katar verhandelt, unter Ausschluss der von den Taleban nicht anerkannten Regierung in Kabul. Das Doha-Abkommen soll nun als Türöffner dienen, diese Blockade zu überwinden.
Für die Verhandlungen mit den Taleban hatte Washington diesen schon im Juni 2013 ermöglicht, in Doha ein Verbindungsbüro zu eröffnen. Dort ist seither der Großteil der Politischen Kommission der Taleban stationiert, das Quasi-Außenministerium des Islamischen Emirats Afghanistan, wie sich die Taleban offiziell nennen. Das Doha-Büro untersteht der Rahbari Schura, dem Führungsrat der Taleban, auch als Quetta-Schura bekannt, benannt nach einer pakistanischen Großstadt nahe der Grenze zu Afghanistan, die von afghanischen Flüchtlingslagern umgeben ist. Dort versammelten sich die Talebanführer nach ihrer Niederlage 2001 und reorganisierten sich Schritt für Schritt als Guerillabewegung.
Das US-Taleban-Abkommen hatte bereits im September 2019 kurz vor dem Abschluss gestanden. Dann funkte Trump, wie üblich per Twitter, dazwischen. Laut US-Medien hatte er versucht, die Lorbeeren für den Vertragsschluss selbst zu ernten (er neidet seinem Vorgänger Barack Obama ja dessen Nobelfriedenspreis) und wollte dafür die Talebanführung nach Camp Davis lotsen. Vereinbart aber war Doha als Unterzeichnungsort, was die Taleban ablehnten.
Die von Trump herbeigeführte Unterbrechung der Gespräche gab US-Chefunterhändler Zalmay Khalilzad, selbst afghanischer Herkunft und ein schlitzohriger, oft mit zwei Zungen sprechender Verhandler, die Gelegenheit, nachzubessern. Das galt vor allem der Kritik – selbst aus den Reihen der Republikaner im US-Kongress –, er habe den Taleban zu viele Zugeständnisse gemacht. Vor allem wurde ihm angelastet, dass den innerafghanischen Gesprächen keine Waffenruhe vorausgehen soll. Das hatten die Taleban abgelehnt. Sie befürchten, dies könne unter ihren Kämpfern zu früh den Eindruck hervorrufen, der Krieg sei so gut wie zu Ende.
Khalilzad brachte die Taleban schließlich dazu, einer siebentägigen Periode der Gewaltreduzierung vor dem Abschluss des Doha-Abkommens zuzustimmen. (Die Taleban wollten dafür immer noch nicht den Begriff Waffenstillstand verwenden.) Diese Frist sollte als Test dienen, ob die politische Führung der Taleban ihre Feldkommandeure im Griff hat.
Diese Abmachung setzten alle drei Kriegsparteien – Taleban, die Kabuler Regierung und die internationalen Interventionsstreitkräfte unter Führung der USA – dann auch weitgehend um. Vom 22. bis zum 28. Februar sank die Zahl der kriegsbedingten Zwischenfälle um etwa drei Viertel. Im Vergleich zu einer ‚normalen‘ Februar-Kriegswoche. Es gab weder Selbstmordanschläge der Taleban noch Luftschläge der US- und afghanischen Truppen. Alle Seiten vermieden es, Zwischenfälle zur Krise hochzuspielen. Sie wollten, dass die Quasi-Waffenruhe ein Erfolg wird, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Trump will den längsten Krieg, den die USA je geführt haben, beenden und Kosten sparen, die Taleban wollen ihren militärisch potentesten Gegner aus dem Land haben. Aus ihrer Sicht könnten Friedensgespräche, die in eine Form der Machtteilung in Afghanistan münden müssen, einen Schritt zurück an die Macht darstellen. Die Präsenz der US-Truppen ist dafür das größte Hindernis.
Daran, dass die Taleban diesen Test bestehen würden, brauchte man kaum zu zweifeln. Obwohl sie sich aus relativ autonomen lokalen Fronten zusammensetzen, gibt es eine straffe Führung. Ihr Anführer trägt den Titel amir ul-momenin, Oberhaupt der Gläubigen, und die wichtigsten Kommandeure schwören ihm einen Treueeid. Wer sich seinen Weisungen widersetzt, stellt sich damit de facto außerhalb des Islam, wie ihn die Taleban verstehen.
Unmittelbar nach Unterzeichnung in Doha entzündeten sich neue Probleme. Vor allem um einen als „vertrauensbildende Maßnahme“ vereinbarten Gefangenenaustausch. Bis zum 10. März sollten „zügig bis zu“ 5000 Taleban-Gefangene aus afghanischen Gefängnissen entlassen werden, im Austausch gegen „bis zu“ 1000 afghanische Polizisten und Soldaten, die die Taleban festhalten. (Die USA halten keine Afghanen mehr in Haft.) Dazu ist es bisher (Stand vom 13. März 2020) nicht gekommen. Khalilzad hatte den Taleban ganz offensichtlich die Freilassung versprochen, ohne das mit Ghani abzustimmen. Der lehnte ab, denn das würde ihm eine wichtige Karte im bevorstehenden Verhandlungspoker aus der Hand nehmen.
Die Taleban beharren jedoch darauf, dass alle 5000 vor Gesprächsbeginn freigelassen werden müssen, selbst wenn das der Abkommenstext so nicht hergibt. Ghani hat als Kompromiss ein stufenweises Vorgehen angeboten – einige Freilassungen vor, weitere während der Verhandlungen –, was die Taleban zurückweisen. Es wird an Khalilzad sein, einen Ausweg aus dieser Sackgasse zu finden.
Selbst wenn das bald gelänge – je mehr sich der innerafghanische Gesprächsbeginn verzögert, desto größer wird die Gefahr, dass der Krieg wieder aufflammt –, bleiben vielfältige Zweifel am Doha-Abkommen.
Erstens – die Doha-Vereinbarungen sind noch kein Friedensabkommen. Darin lassen sich die USA nur zusichern, dass ihre Truppen während des Abzugs nicht von den Taleban angegriffen werden. Für die afghanischen Streitkräfte gilt eine solche Zusicherung jedoch nicht. Das ist es auch, was neben der Regierung in Kabul viele Menschen in Afghanistan an dem Abkommen kritisieren: Dass die Amerikaner damit vor allem ihre eigenen Truppen schützen, während Regierungstruppen nach wie vor quasi legitime Angriffsziele für die Taleban bleiben.
Zweitens – Zweifel bestehen darüber hinaus in der Frage, ob die Taleban überhaupt Frieden wollen. Die geplanten innerafghanischen Gespräche könnten für sie nur eine Option für eine Rückkehr an die Macht darstellen. So lange noch Truppen der USA und ihrer Verbündeten die afghanischen Streitkräfte unterstützen und die Regierung in Kabul im Sattel halten, ist ein militärischer Durchmarsch nach Kabul unwahrscheinlich. Also könnte eine Machtteilung auf politischem Wege es ihnen erlauben, einen Fuß in die Regierung in Kabul zu bekommen und dann von innen her ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen umzusetzen.
Viele in Afghanistan bezweifeln, dass die Taleban sich nach dem Sturz ihres bis 2001 in Kabul herrschenden Regimes grundlegend und dauerhaft geändert haben. Zwar sprechen die Taleban inzwischen auch von Menschen- und Frauenrechten, allerdings immer im Rahmen des islamischen Rechts. (Allerdings enthält auch die gegenwärtige afghanische Verfassung diese Einschränkung.) Das läuft also auf eine pure Machtfrage hinaus: Wer wird am Ende definieren, welche Rechte und Gesetze sich im islamischen Rahmen bewegen? Viele in Afghanistan befürchten, dass es am Ende die Taleban werden sein, die erklärt haben, dass sie sich ein Staatsmodell nach iranischem Vorbild vorstellen können: parlamentarisch, sogar mit Wählerinnen und Kandidatinnen. Aber über allem würde eine Art Wächterrat thronen (der in Iran genauso heißt) und bestimmen, welche Kandidaten und Kandidatinnen in ihren Augen islamisch genug sind. Wer das nicht ist, das zeigt die iranische Praxis, wird nicht zugelassen.
Andererseits haben die Taleban seit ihrem Sturz gelernt, dass sie nicht nur mit Verboten und Reglementierungen und nicht nur gegen die Bevölkerung regieren können. Sie haben sich in bestimmten Gebieten des Landes flexibel gezeigt und entgegen früherer Praxis etwa Mädchenschulen weiterlaufen lassen.
Drittens – es könnte sein, dass die Taleban auf einen Stimmungsumschwung bei Präsident Trump hoffen, darauf dass er die Geduld mit den vorhersehbar komplizierten und langen innerafghanischen Verhandlungen verliert, die Truppen einseitig abzieht und die Zahlungen für die afghanische Armee und Polizei einstellt. Afghanistans Staatseinnahmen aus eigenen Quellen reichen nicht einmal dafür aus, deren Sold zu zahlen, geschweige etwa Kliniken und Schulen zu unterhalten. Und es gibt einen Präzedenzfall: Als Russlands damaliger Präsident Boris Jelzin 1992 die Zahlungen für seinen afghanischen Amtskollegen Nadschibullah einstellte, fiel dessen Regierung binnen weniger Wochen.
Gleichzeitig halten die Taleban den Druck auf Kabul hoch. Seit der einwöchigen Fast-Waffenruhe haben sie – in Worten wie in Taten – klargemacht, dass das Doha-Abkommen die afghanischen Regierungstruppen eben nicht einschließt. Die Zahl der Angriffe stieg wieder – zwar nicht auf das Vorniveau, aber trotzdem deutlich. Die Taleban halten sich auf einem Mittelweg und signalisieren damit, dass sie das Abkommen – und damit den US-Rückzug – auf keinen Fall gefährden wollen.
Schließlich halten die Taleban weiter klar daran fest, dass sie die afghanische Regierung nicht anerkennen und als solche nicht mit ihr verhandeln wollen. Khalilzad hat auch diese Forderung akzeptiert, und die Formel eines sogenannten inklusiven Verhandlungsteams entwickelt. Das heißt, dass neben Regierungsvertretern auch andere in Afghanistan einflussreiche politische Gruppen mit am Verhandlungsteam sitzen werden – und hoffentlich auch Vertreter der Zivilgesellschaft, einschließlich der Frauenbewegung.
Währenddessen verwendet das Doha-Abkommen für die Taleban deren quasi-staatliche Eigenbezeichnung „Islamisches Emirat Afghanistan“ – auch wenn Washington dort festgeschrieben hat, dass es das Emirat „nicht als Staat anerkennt“. In den Augen der Kabuler Regierung stellt dies gleichwohl eine einseitige diplomatische Aufwertung der Taleban dar, während man die eigene Position als auf „nur ein Bestandteil des inklusiven Verhandlungsteams“ herabgestuft ansieht.
Allerdings hat Ghani selbst einiges dafür getan, seine eigene Position zu unterminieren. In den vergangenen fünf Jahren seiner Amtszeit tat er alles dafür zu verhindern, dass Afghanistans Wahlinstitutionen – notorisch korrupt und deshalb massiven Manipulationen gegenüber offen – reformiert werden. Alles in der Hoffnung, sich beim Urnengang im September 2019 auch mit unlauteren Mitteln wieder einen Sieg sichern zu können. Und er sorgte schließlich im Februar – nach fünfmonatigem Auszählungschaos – dafür, dass die Wahlkommission ihn zum Sieger erklärte, ohne dass 300.000 strittige Stimmen endgültig bewertet wurden. Das ist immerhin ein Sechstel aller 1,8 Millionen gültigen Stimmen; sein Widersacher Dr. Abdullah Abdullah lag nur 200.000 Stimmen hinter ihm und erkannte das Diktum der Wahlkommission nicht an.
Schließlich war es wieder Khalilzad, der das Zünglein an der Waage spielte. Als Ghani und Abdullah sich am 9. März – einen Tag vor dem geplanten Beginn der Oslo-Gespräche – parallel als Präsidenten vereidigen ließen, tauchte er mit den Botschaftern der anderen Geberländer, darunter Deutschland, bei Ghani auf und machte ihn so zum international anerkannten Staatschef. Dafür, so heißt es in Kabul, lenkte Ghani beim Gefangenenaustausch ein und bot Abdullahs Anhängern Plätze im Verhandlungsteam an. Der hat sich bisher (Stand vom 13. März 2020) jedoch noch nicht zu solch einer Koalition breitschlagen lassen.
Das Kabuler Chaos demonstriert aller Welt, dass nach 18 Jahren US-geführter Intervention Afghanistans politisches System hinten und vorne nicht funktioniert. Die USA und Khalilzad persönlich – der als US-Sondergesandter und dann als Botschafter in Kabul schon eine Schlüsselrolle nach dem Sturz der Taleban gespielt hatte – tragen ein gerüttelt Maß an Verantwortung dafür. Im Resultat können die Taleban gestärkt in Friedensgespräche gehen. Das trägt zu der Angst in Afghanistan bei, dass diese Gespräche in der Abschaffung ihrer – selbst wenn häufig nur auf dem Papier stehenden – verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten enden könnten. Zumal Islamisten nicht nur auf Seiten der Taleban mit am Verhandlungstisch sitzen werden.
Fazit: Den Gordischen Problemeknoten Afghanistan – wie zu Alexanders Zeiten – mit dem Schwert durchzuhauen hat sich als unmöglich erwiesen. Unter Zutun der westlichen Mächte ist er in den vergangenen 18 Interventionsjahren eher noch verworrener geworden.
Schlagwörter: Abdullah Abdullah, Afghanistan, Aschraf Ghani, Taleban, Thomas Ruttig, USA, Zalmay Khalilzad