23. Jahrgang | Nummer 7 | 30. März 2020

Das Virus und der Klimaschutz

von Stephan Wohanka

Würden wir die Klimakrise halb so ernst nehmen
wie die Coronakrise, wäre uns geholfen.

Luisa Neubauer

Die Bundeskanzlerin ist nicht wiederzuerkennen. Sie zeigt sich nach immer mal längeren Absenzen ihrem Volke, ist eloquent; ein Beobachter meinte sogar, eine „rhetorische Ekstase“ bei ihr ausgemacht zu haben. Wovon ist sie infiziert? Hoffentlich trotz Quarantäne nicht vom in Rede stehenden Virus wie ihr potentieller Erbe Friedrich Merz, sondern von der ihr qua Amt zukommenden Verantwortung fürs Ganze. Dabei kommt ihrer Ausbildung als Physikerin dergestalt Bedeutung zu, dass sie gegenüber Politikern mit juristischen oder verwaltungstechnischen Hintergründen einen spezifischen Zugang zu Naturwissenschaftlern hat, in diesem Falle zu Biologen und Medizinern. Es ging ratzfatz: Das ganze Land wurde über Empfehlungen, denen sich kaum jemand entziehen konnte, wollte er nicht der Selbstsucht geziehen werden bis hin zu Verboten quasi lahmgelegt. Die Wirtschaft muss vom „Soloselbständigen“ bis zum DAX-Konzern noch kaum bezifferbare Verluste und Einbußen hinnehmen; also letztlich wir alle. Die Parteien stellen eine schon bedenklich machende Einigkeit zur Schau; es sei jetzt nicht die Zeit für „Parteienstreit“. Die Eindringlichkeit der Appelle, aber auch Angst in der Bevölkerung führten dazu, dass sich kein oder kaum Widerstand regte. Abgesehen von „Widerstandskämpfern“, die maßlose Übertreibungen und ungerechtfertigte Eingriffe in Bürgerrechte diagnostizierten; und zeitweilig leeren Warenregalen …

Geht es um Klimaschutz, sind Kritiker notwendiger Maßnahmen dagegen schnell dabei, den Vorwurf der „Verbotsgesellschaft“ zu erheben. Selbst der Sache aufgeschlossen Gegenüberstehende schreiben: „Man traut uns Menschen nicht zu, das Richtige zu tun, also werden wir gegängelt – bis hin zum Plastikhalm! Ich finde das falsch. Ich sage: Baut mir vernünftige Radwege, kauft neue Züge für die Bahnen und organisiert ein Pfandsystem für Kaffeebecher. Bis dahin muss gelten: Verbote sind verboten.“

Merkel, der Physikerin, müssten doch aus analytisch-kühler Sicht die mit dem Klima konnotierten Umstände und Fährnisse weit näher liegen als die medizinisch-virologischen. Weit gefehlt, die einstige „Klimakanzlerin“ und ihre Regierung wollten oder konnten – noch vor Corona! – in Sachen Klimawandel nicht grundsätzlich, nur unzulänglich die Logik des Profits, des Dahergebrachten, des Schon-immer-so-Gemachten, des Geht-(so)-nicht durchbrechen. Dabei wirke „Covid-19 wie ein High-Speed-Vorgriff auf Erschütterungen, die uns die Erwärmung des Planeten erst noch bringen wird“, so der Publizist Klaus Brinkbäumer.

Oder verbietet sich dieser Vergleich? Immerhin sterben hier und heute jeden Tag zig Menschen durch das Coronavirus; es sind weltweit schon Tausende Opfer und werden sehr wahrscheinlich noch viel mehr. Jedes Mittel, das der Eindämmung des Virus und dem Schutz vor allem von Risikogruppen gilt, scheint somit gerechtfertigt. Covid-19 legt Teile der Weltwirtschaft lahm, Lieferketten sind unterbrochen, Börsen gehen auf Talfahrt, Notenbanken senken die Zinsen, Regierungen verkünden drastische Maßnahmen und kündigen exorbitante Investitionspakete an. Und trotzdem wird sich eine globale Rezession nicht verhindern lassen.

Nochmal: Warum nehmen wir eine vielleicht ungleich gefährlichere Katastrophe nicht ebenso ernst? Es gibt eine simple psychologische Erklärung für die krasse Diskrepanz in den Reaktionen auf das Virus und denen auf die Klimakrise: Menschen sind umso weniger bereit, ihr Verhalten zu ändern, je entfernter die vermuteten Folgen des Nichthandelns scheinen; räumlich wie zeitlich. Das Virus ist da, ist bedrohlich, ständig neue Nachrichten zum Thema befeuern das Unwägbare. Diese kognitive Verzerrung lässt also das eine bedrohlicher erscheinen als das andere.

Ist denn der Klimawandel wirklich „ungleich gefährlicher“? Ja, er ist es! Nicht die leibhaftige Greta Thunberg wütet; nein, der britische The Guardian titelt: „JP Morgan economists warn climate crisis is threat to human race“ und zitiert einen geleakten internen Bericht der Bank JP Morgan, die sich als Finanzier von Großprojekten zur Ausbeutung fossiler Brennstoffe einen Namen gemacht hat: „The world’s largest financier of fossil fuels has warned clients that the climate crisis threatens the survival of humanity […]“ Alles in allem – wovon man ausgehen sollte: Menschheitsgeschichtlich und global ist die Klimakrise und das korrespondierende Artensterben plus Umweltverschmutzung für die Menschheit weit bedrohlicher als eine zusätzliche Viruserkrankung, so beängstigend und potenziell tödlich diese Erkrankung momentan auch sein mag.

Der Stopp von hundert auf null hat die Menschen zum Innehalten gezwungen – also macht aus der Not eine Tugend; besinnt euch! Denkt nach und macht die Dinge aus, die euch wirklich wichtig sind – im Leben, im Beruf, in unserer Gesellschaft. Was kann bleiben? Was muss dringend anders werden? Andere Lebensformen und -möglichkeiten gehen doch – wie viel davon kann wirklich nur kurzfristig sein, wie viel davon von Dauer? Was jetzt an Eingriffen in die Gesellschaft und Wirtschaft möglich ist, kann – zumindest in Teilen – ja auch dann gehen. Denn der Unmut darüber, welche Absurditäten die Ökonomisierung weiter Lebensbereiche mit sich gebracht hat, ist riesig. Damit hätten wir ein Zeichen einer vitalen Gesellschaft, die sehr wohl zur Veränderung ihres Lebensstils in der Lage wäre. Regierungen, bah ganze Branchen ändern ihre Planung und ihre Prioritäten. Insgesamt erlebten wir gerade „große Veränderungen mit konstruktiven Zielen“, so die Publizistin Caroline Fetscher. Also nehmen wir das als Blaupause, um das komplex verstandene Klima- und Umweltproblem anzugehen.

Andere sehen das diametral anders: „Da mutiert die Coronakrise zur politischen Chance, denn sie zeige ja, ‚was geht, wenn alle wollen‘. Schon die Formulierung ist irreführend. Denn in einer Notlage müssen alle gleichermaßen reagieren, von ‚wollen‘ kann da kaum die Rede sein“, so der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther. „Der optimistische Grundton solcher Erzählungen (wie die der Caroline Fetscher – St.W.) lebt von einer elitären Ignoranz gegenüber den vielfältigen lebensnahen Sorgen, die sich den Menschen jetzt um Gesundheit, Arbeitsplatz, Einkommen und Vermögenslage aufdrängen. Diese Ängste […] schrumpfen […] zur Petitesse, wenn man sie an der Größe der klimapolitischen Herausforderung … misst.“ Hüther hat vollkommen recht, obwohl er es gerade andersherum verstanden haben will.

Keine neuen Nachrichten, aber trotzdem hochaktuell: Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Korallenriffe den menschengemachten Klimawandel nicht überleben, was die Ökosysteme der Ozeane als Ganzes zum Kippen brächte. Die arktischen Permafrostböden tauen auf und setzen dabei Methan frei, das die Erderwärmung weiter beschleunigte. Der Abholzungen und Feuern geweihte Amazonas-Regenwald nimmt immer weniger Kohlendioxid auf und könnte sich schon viel früher als erwartet von einer CO2-Senke in eine CO2-Quelle verwandeln. Die Sommer in Australien sind jetzt doppelt so lang wie die Winter. Jetstream und Golfstrom beginnen, auf die Klimaveränderung zu reagieren und beeinflussen unser Wetter schon heute nachhaltig. Wenn das alles zusammen hierzulande in dauernder Trockenheit mit Missernten und möglichen Versorgungsmängeln, überheizten Städten mit dann auch zig Toten jeden Tag kulminiert, dann geben uns die gegenwärtigen Eingriffe höchstens eine Ahnung dessen, was uns dann erwartete.

Obwohl: Nach einschneidenden Ereignissen ist oft zu hören, nichts werde mehr so sein, wie es war. Man hörte dies nach Revolutionen, der russischen wie der medialen, nach Kriegen, nach dem Kollaps politischer Systeme. Jedes Mal verständlich, jedes Mal gleichwohl Übertreibung. Denn vieles blieb eben doch, wie es war. Manches hätte sich auch so geändert; je nachdem, was Erstaunen oder Entsetzen erwarten ließ. Wir werden sehen. …