23. Jahrgang | Nummer 6 | 16. März 2020

Das Leben eines Künstlers: Ernst Barlach

von Mathias Iven

Ernst Barlach ist kein Unbekannter, und die wichtigsten Lebensstationen sind schnell genannt. Geboren wurde er am 2. Januar 1870 im holsteinischen Wedel. Der Vater versuchte, sich als praktischer Arzt mit eigener Praxis zu behaupten, konnte jedoch die Familie kaum ernähren. Die psychisch kranke Mutter war „zutiefst unsicher, leicht von ebenjener Außenwelt irritierbar, mit der ihr Mann, seinem Berufsethos verpflichtet, so selbstverständlich umgeht“. Rückblickend schrieb Barlach in seinem Erinnerungsbuch Ein selbsterzähltes Leben: „Die Ehe der Eltern war so glücklich wie eine Ehe sein kann – und nicht minder unglücklich.“ 1884 starb der Vater, die Mutter stand mit Ernst und seinen drei Brüdern allein da. Barlach beendete die Schule. Stationen auf dem Weg zum Künstler waren Hamburg, Dresden, Paris und Berlin. 1898 wurde erstmals eine Arbeit von ihm ausgestellt. Mit der Mutter und seinem Sohn Klaus zog er 1910 nach Güstrow, wo er bis zu seinem Tode lebte.

Gunnar Decker, dessen publizistisches Werk bereits eine beachtliche Anzahl von Biographien umfasst, hat anlässlich von Barlachs 150. Geburtstag eine umfangreiche und gut recherchierte Lebensbeschreibung vorgelegt, die – bis auf das leider fehlende Register! – keine Fragen offen lässt. Natürlich geht es zuvorderst um den Bildhauer Barlach, in dessen Plastiken Decker „vulkanische Ausbrüche an Schöpferkraft“ entdeckt, „die sich wenig um die Erwartungen anderer, gar um herrschende Konventionen scheren“. Weder sind die von ihm dargestellten Menschen erlöst noch verdammt, „sie befinden sich in einem spannungsreichen Zwischenzustand“. Decker zählt Barlach zu jener Sorte Mensch, „deren Leben vor allem in der eigenen Phantasie stattfindet“. Sein ganzes Denken und Fühlen wurzelte in einem Paradox: „Etwas ist nur wahr, wenn auch sein Gegenteil wahr ist – das hat Barlach nicht nur abstrakt gedacht, sondern tagtäglich gelebt und in Ausdruck verwandelt.“

Für Decker – und das zu Recht! – stehen Barlachs bildkünstlerisches Werk und seine schriftstellerische Arbeit gleichberechtigt nebeneinander. Neben den Romanen sind es vor allem die heutigentags selten gespielten, „barock-überbordende[n] Stücke, in denen die Toten lebendiger sind als die Lebenden“, die viel über Barlachs Vita und seine Persönlichkeit sagen. Schon sein erstes, 1912 veröffentlichtes und im November 1919 in Leipzig uraufgeführtes Stück Der tote Tag ist nichts weniger als „ein Seelendrama existenziellster Art“. Thema ist der mehr als zwei Jahre andauernde Kampf Barlachs um das alleinige Sorgerecht für seinen 1906 geborenen Sohn Klaus. „Ich habe mich entschlossen,“ erklärte er einer Bekannten, „um seinen Besitz Alles zu riskieren, da ich überzeugt bin, daß seine Mutter ihn nicht besitzen darf.“ Und an anderer Stelle schrieb er: „Ich fürchte, sie wirft ihn aus dem Fenster wenn ich ihn verlangen darf.“ Erst im Januar 1909 wurde die von Barlach erhoffte Entscheidung getroffen: „Klaus ist jetzt kraft Erlaß des Justizministers endgültig – mein geworden“. Doch das Zusammenleben musste warten. Im Februar reiste er als Stipendiat der Villa Romana nach Florenz. Klaus brachte er bei seiner Mutter unter.

Bereits im März 1919 gelangte das während des Ersten Weltkriegs entstandene Drama Der arme Vetter in den Hamburger Kammerspielen zur Uraufführung. Die in Wittenberg an der Elbe spielende Geschichte von Barlachs Alter Ego Hans Iver ist, so Decker, „ein heftiges Ostersonntagsstück“. Die Szenerie scheint jener des Freitods von Vincent van Gogh nachempfunden, erinnert aber auch an Die Leiden des jungen Werthers. Im April 1916 hatte Barlach den Inhalt mit den Worten zusammengefasst, es gehe um „den Menschen als verarmtes und ins Elend geratenes Nebenglied aus besserem Hause“. Alles in allem ein schwerer Stoff, wenn nicht gar eine „unleserliche Zumutung“.

1921 erschien Die echten Sedemunds, im selben Jahr wurde das Drama von Leopold Jessner am Staatstheater Berlin inszeniert. Gegenüber seinem späteren Verleger Reinhard Piper urteilte Barlach: „Ich war bei d[er] zweiten Aufführung und sah ein Stück von Herrn Jessner, aber nicht von mir“. Barlach sollte nie wieder eine Aufführung seiner Stücke besuchen. Erst als im Mai 1923 die Neuinszenierungen von Der tote Tag und Der arme Vetter in Berlin auf die Bühne kamen, war Barlach wieder etwas versöhnt. Seinem Vetter Karl konnte er berichten: „Nach Zeugnissen verläßlicher Leute waren beide Abende von starker Wirkung, wenn auch die Presse natürlich völlig zwiespältig ist.“ So urteilte Siegfried Jacobsohn in der Weltbühne, Barlach sei „ein Realist ersten Ranges, nämlich einer, der mit einem Griff die Vielfarbigkeit des Daseins packt“, wohingegen Julius Hart die Stücke nicht auf der Bühne sehen wollte. Barlachs Resümee: „Ein großer Fortschritt zu meinen Gunsten ist jedenfalls gemacht […] und ich kann zum Theater wieder mehr Vertrauen fassen.“

In den nächsten Jahren entstanden Der Findling – für Decker „Barlachs rigorosestes Drama“ – und Die Sündflut, 1924 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. In seiner Begründung hob Fritz Strich hervor: „Ich kenne niemanden, der so wie er aus eigener, innerer Notwendigkeit zum tragischen Dichter dieser Zeit wurde, in welchem sie sich, von Zufall und Willkür erlöst, so wesensgleich, so ewig spiegelt.“ 1926 kam Der blaue Boll in Stuttgart zur Uraufführung. Über die Berliner Inszenierung vom Dezember 1930 urteilte Herbert Ihering: „Das Schlachtfeld ist der Dichter selbst. Ernst Barlach ist der Schauplatz des Dramas.“ Den Inhalt seines erstmals 1929 in Gera aufgeführten Stückes Die gute Zeit umriss Barlach in der von ihm veröffentlichten „Selbstanzeige“ mit einem Satz: „Wie lebt sichs denn in diesem Leben, gehts etwa gut, sind wir in der guten Zeit, lohnt es sich, oder wärs besser nicht – da stimmt was nicht.“ Schließlich begann Barlach 1930 mit der Arbeit an seinem achten und letzten, um den Sinn menschlicher Existenz kreisenden Drama Der Graf von Ratzeburg, das erst 1951 in Nürnberg zur Uraufführung kam.

Neben seiner Prosa und Dramatik sind es vor allem Barlachs Briefe, die als Zeugnisse der Kulturgeschichte ein komplexes Bild seiner künstlerischen Doppelnatur liefern. Deckers Vergleich mit der umfangreichen Korrespondenz Vincent van Goghs – dem er 2009 eine Biographie gewidmet hat – ist durchaus gerechtfertigt. Umfasste die von Decker herangezogene, 1968/69 von Friedrich Droß herausgegebene erste größere Briefausgabe rund 1500 Dokumente, so vereint die unlängst von Mitarbeitern der Universität Rostock vorgelegte vierbändige Edition jetzt insgesamt 2215 Schriftstücke aus einem Zeitraum von 50 Jahren, wovon 395 Briefe erstmals publiziert werden! Mehr als 90 Archive, Museen, Nachlässe und Autographensammlungen wurden dafür konsultiert. Wenn man den Zeitraum der Bearbeitung von nur knapp vier Jahren bedenkt: eine editorische Meisterleistung.

Barlachs Briefe sind für Decker „eine Form von Bekenntnisliteratur, deren Rang es erst noch gerecht zu werden gilt. Vieles findet sich so nur in ihnen ausgesprochen.“ Ein Beispiel dafür ist der in den dreißiger Jahren begonnene und von Decker ausführlich gewürdigte Briefwechsel mit Hugo Körtzinger, Retter des 1928 vor der Kieler Heiligengeistkirche aufgestellten „Geistkämpfers“ und des für den Güstrower Dom geschaffenen „Schwebenden“. Im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmten die Nazis in Museen und öffentlichen Sammlungen mindestens 17.000 Werke, darunter mehrere Hundert von Barlach. Körtzinger war in diesen Jahren für Barlach „treuer Fürsorger in manchen und höchsten [s]einer Nöte“. Immer wieder sprach er ihm Mut zu. „Ihre Mahnung ist gut“, schrieb Barlach in einem seiner Antwortbriefe, „politischer Spektakel darf mich nicht verdrießen.“ Kurze Zeit darauf erfuhr Körtzinger: „Ich merke bei all diesem, wovon weiter nicht die Rede zu sein braucht, daß ich ein ganz schlechter Hasser bin, es bleibt im Ganzen beim sich Wundern.“ Und schließlich erklärte er im Dezember 1936: „Giebts kein Holz zu hauen, so giebts leere Blätter zu beschmieren – und beim Füllen leerer Blätter erfährt man die Gnade großer innerer Gelassenheit.“

Am 24. Oktober 1938 verstarb Ernst Barlach in einer Rostocker Privatklinik. In seinem letzten, an seinen Bruder Hans gerichteten Brief schrieb er: „Es ist kein Fall mit mir der gemeldet werden müßte.“

Gunnar Decker: Ernst Barlach – Der Schwebende. Eine Biographie, Siedler Verlag, München 2019, 431 Seiten, 28,00 Euro.

Ernst Barlach: Die Briefe. Bd. 1: 1888–1917, 710 Seiten; Bd. 2: 1918–1928; 660 Seiten; Bd. 3: 1929–1934; 732 Seiten; Bd. 4: 1935–1938; 810 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 79,00 Euro.