23. Jahrgang | Nummer 5 | 2. März 2020

„… wir hätten die Ostsee nie erblickt …“

von Dieter Naumann

Die Zeit der französisch-napoleonischen Besetzung von Rügen dauerte vergleichsweise kurz, von 1807 bis 1813 mit Unterbrechung. Im Heimats-Kalender 1908 für den Kreis Rügen wurde die Zeit der Franzosen in Bergen näher beschrieben: Als der Einmarsch der Franzosen bevorstand, versteckte man seine „Kleinodien […] in den Schoß der Erde oder in Vermauerungen und Bretterverschläge […] und die Berger sahen schon im Geiste die auf die Brust gesetzten Bajonette der Plündernden, um das Geständnis des Verwahrungsortes der Wertsachen zu erzwingen.“ Als die französischen Soldaten und Offiziere, unter ihnen Divisions-General Grandjean, einrückten, waren die Straßen nahezu menschenleer. Die Bergener Kirche wurde als Stroh- und Heumagazin missbraucht, nur im oberen östlichen Teil waren Gottesdienste möglich; die meisten Häuser in Bergen sollen bis zu acht Mann Einquartierung gehabt haben. „Ein anderes Uebel war die zunehmende Sittenlosigkeit unter den Dienstboten, besonders unter den weiblichen, welche […] sich der Prachtliebe und Liederlichkeit ergaben. Eine Folge davon waren Schwängerungen, Krätze und Lustseuche.“

Einige der vornehmen Bürger Rügens hatten es in der „Franzosenzeit“ durchaus verstanden, sich mit den Besatzern zu arrangieren, was Friedrich Arndt, Notar und Bürgermeister von Bergen, in einem Brief an seinen Bruder Ernst Moritz Arndt als erbärmliche „Schweinerei“ bezeichnete. Im Adel war auch der Gebrauch des Französischen weit verbreitet. Eine von Krassow französisierte ihren Vornamen (statt „Wilhelmine“ nun „Minette“), eine Gräfin von Bohlen, geborene von Normann, unterschrieb als „Comtesse de Bohlen nèe de Normann“, vereinzelt wurde sogar Briefe an rügensche Landsleute in Französisch abgefasst und adressiert.

An den unterschiedlichen Einstellungen zu den Franzosen sollte auch die einstige Freundschaft von Ernst Moritz Arndt und Pastor Kosegarten (Altefähr und Arkona) zerbrechen. Kosegarten „schnappte“ Arndt nicht nur die Greifswalder Professur für Geschichte und griechische Literatur weg, er würdigte 1810 auch in einer umstrittenen Rede zum Geburtstag Napoleons dessen vermeintliche Verdienste.

Insbesondere für die einfachen Rüganer war die französische Besetzung mit Nachteilen und Repressalien verbunden, vor allem durch Einquartierungen und die damit verbundenen Aufwendungen für Heizmaterial, Licht und Lebensmittel. Hierbei ging es nicht nur um die Soldaten und Offiziere, sondern auch um den umfangreichen Tross, der den Truppen folgte. So mussten allein in Groß Zicker laut Memorabilienbuch vom Juli 1807 insgesamt 150 Soldatenfrauen und 125 Kinder mit versorgt werden. Der Wieker Chronist Gustav Käning berichtete, der spätere Pastor Theodor Schwartz habe erzählt: „In der ganzen Zeit der französischen Invasion hat mein Vater, wie er mir versicherte, an 3.000 Reichstaler durch die kostspielige Einquartierung verloren.“

Hinzu kamen Einschränkungen der Fischerei im Zusammenhang mit der gegen England gerichteten Kontinentalsperre (so durfte nur in bestimmten Bereichen und bei Nacht überhaupt nicht gefischt werden), Arbeitsdienste, Bespitzelungen, Umfunktionierungen von Kirchen zu Vorratslagern (außer in Bergen unter anderem in Groß Zicker, Garz, Gingst und Swantow) und Schulen zu Lazaretten und so weiter. Dennoch kam Arnold Ruge (1802–1880, revolutionärer demokratischer Publizist des Vormärz und einer der Weggefährten von Karl Marx) in seiner Autobiographie „Aus früherer Zeit“ zu der Feststellung: „Die Franzosen waren keineswegs tyrannisch und grausam gewesen; […] aus Allem, was man von ihrem Betragen gesagt hat, lässt sich leicht abnehmen, dass sie wesentlich menschlich und gutmüthig verfuhren; ja die Franzosen hatten einen viel besseren Ruf, als unsre Landsleute, die Bayern, die Hessen u.s.w. im Lande hinterlassen.“

Viele in der Rügenliteratur erzählte Begebenheiten ranken sich um die französische Kontinentalsperre, die jeglichen Handel und privaten Verkehr, selbst Briefverbindungen mit England unterbinden sollte. Die rund um die Insel patrouillierenden Schiffe der Franzosen und ihrer Verbündeten wurden jedoch oft genug ausgetrickst. So sollen plötzlich auffällig viele „amerikanische“ Schiffe, die als Nichteuropäer nicht den Restriktionen unterlagen, in den Häfen aufgetaucht sein und Waren verkauft haben. Auch wurde auffallend viel angeblich beschlagnahmte Ware durch russische und preußische Zollschiffe in den rügenschen Häfen angeboten.

Douaniers (Zöllner) streiften über die gesamte Insel und führten Kontrollen sowie überraschende Hausdurchsuchungen durch, die so manchem Hausherrn die Schweißperlen auf die Stirn trieben. Nicht einmal die Pfarrersfamilien verhielten sich „vorbildlich“, wie man es von ihnen erwartet hätte, die verbotenen Früchte waren doch zu verlockend: Bei Pfarrer Odebrecht (Groß Zicker) kam es zu einer peinlichen Situation, als seine Frau ihm gerade in dem Augenblick geschmuggelten Kaffee servieren wollte, als er sich im Gespräch mit einigen französischen Zöllnern befand. Die Ärztin Franziska Tiburtius erzählte von einem Pastor (vermutlich Pastor Droysen von Lancken-Granitz), bei dem die Douaniers ausgerechnet auf dem Sofa Platz nahmen, unter dem Schmuggelgut versteckt war.

Konnte man die Zöllner noch an ihren Uniformen erkennen, war das bei den in der Bevölkerung besonders verhassten und selbst bei den Franzosen nicht gut angesehenen „Coquin“ genannten Spitzeln nicht der Fall. Zum Teil soll es sich bei ihnen allerdings um Rüganer gehandelt haben.

Im Zusammenhang mit der Verpflegung der einquartierten Besatzungstruppen soll es wiederholt Ärger gegeben haben. Während die Franzosen ständig Weißbrot, Kuchen und Rindfleisch forderten, nagelten sie (so geschehen in Gingst) den angebotenen Pflaumenkuchen mit Speck an das Scheunentor, befestigten die Klöße als Girlanden am Treppengeländer oder nutzten die dicken Erbsen in Zwiebelfett als Wurfgeschosse. All das, obwohl das französische Corps d’Armee d’Observation zwei Tagesbefehle erlassen hatte, wonach jeder Soldat oder Unteroffizier von seinem Wirt nur Licht und Heizmaterial verlangen durfte. Ansonsten hatte man sich mit seinen Militärrationen aus den Magazinen in Bergen und Sagard zu begnügen.

Arnold Ruge schildert einen am Ende unerwartet glimpflich ausgegangenen Konflikt auf dem Gut Bisdamitz mit einem einquartierten französischen Soldaten: Während einer Auseinandersetzung um die Verpflegung hatte dieser die Mutter Ruges tätlich angegriffen, die sich aber derart couragiert mit einem Besenstiel zur Wehr setzte, dass der Soldat bewusstlos am Boden liegen blieb. Der untersuchende Hauptmann ließ sich den Vorfall von beiden Seiten schildern und verlegte den Soldat in ein anderes Quartier: „Ihm ist vollkommen recht geschehen! Aber Sie sind furchtbar in Ihrem Zorn, verehrte Frau. Wahrlich, wir hätten die Ostsee nie erblickt, wenn die ganze Nation unsern Angriff so erwidert hätte, wie Sie heute Morgen den Frevel dieses Menschen“.

Während der Besetzungszeit hatten die Franzosen an zahlreichen Küstenpunkten, sogar auf dem Königsstuhl, Feuerbaken, Wachhäuser und andere Posten installiert, die bei Angriffen von See aus Signal geben sollten. In der Stubnitz fanden sich laut Alfred Haas später an verschiedenen Stellen, wo sich die Posten befunden hatten, Vertiefungen, die von der Bevölkerung „Franzosenlöcher“ genannt wurden. An einigen Buchen sollen sich außerdem Einschnitte mit französischen Namen und den Jahreszahlen 1811 und 1812 befunden haben. Nach Abzug der Franzosen setzten die Rüganer die Posten in Brand.

Oberhalb des Südstrandes von Göhren erinnert der so genannte „Hessenstein“ an die Franzosenzeit: „Hessisches Lager im Jahr 1812“ ist zu lesen. Die im Dienste Napoleons stehenden Hessen sollten eine befürchtete Landung der Engländer verhindern. Außerdem hofften sie, von hier zur Eroberung nach Russland abkommandiert zu werden. Auch der so genannte „Franzosenfriedhof“ in Bergen, nahe der ehemaligen Slawenburg, dem „Rugard“, steht im Zusammenhang mit der französischen Besetzung: „Ruhestätte der im Militär-Lazareth zu Bergen in den Jahren 1812–13 u. 14 verstorbenen Schweden, sowie der zur französischen Armee gehörenden Deutschen, Franzosen und Italiener. Hier ruhen Freund und Feind einträchtig im Tode vereint“, lautet die Inschrift eines Obelisken. Insgesamt sollen hier rund 150 Mann begraben sein, von denen viele an einem Nervenfieber gestorben waren.