23. Jahrgang | Nummer 4 | 17. Februar 2020

Dreißig Jahre

von Erhard Crome

Die Zeitschrift Berliner Debatte Initial gehört zu den originären Resultaten der Umbruchsprozesse in der DDR 1989. Bereits das erste Heft 1990 machte das deutlich. Die Abonnenten der Zeitschrift Sowjetwissenschaft / Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge hielten Anfang 1990 das erste Exemplar der erneuerten Publikation in Händen. Sie hieß jetzt Initial, damals mit dem Untertitel: „Zeitschrift für Politik und Gesellschaft“. Auch künftig sollten „Gedanken sowjetischer Gesellschaftswissenschaftler ins Land“ geholt werden – so lautete ein Teil der Positionsbestimmung, formuliert zu einer Zeit, als Gorbatschows „Perestroika“ und „Glasnost“ noch Momente der Umwälzungen im Lande zu sein schienen und der Zusammenbruch der DDR und am Ende der Zerfall der Sowjetunion nicht ernsthaft vorstellbar waren. Zugleich sollte die Zeitschrift Podium der Debatte um die weitere gesellschaftliche Entwicklung und die Analyse des dahingehenden Realsozialismus sein.

Am 6. April 1990 wurde der Verein Berliner Debatte Initial gegründet, zunächst als Förderverein für die Zeitschrift. Vereinspräsident wurde der Philosoph Peter Ruben. Er stand dafür, unter den neuen Bedingungen ernsthafte gesellschaftstheoretische Debatten zu führen. In den Umbrüchen 1989/90 gab es ein Wechselverhältnis zwischen der Wende auf den Straßen der DDR und den Veränderungen in den wissenschaftlichen Instituten. Mit dem Macht- und Ideologiemonopol der SED im Staate fiel auch das in den Sozialwissenschaften, rasch verschwanden die engen Dogmen des Marxismus-Leninismus. Die Institute wählten neue Leitungen. Die alten Zwänge waren beseitigt, neue schienen nicht zu bestehen. Die Vertreter der bundesdeutschen Wissenschaftseinrichtungen waren kooperativ und freundlich, vermeinten sie doch zunächst, die neue Wissenschaftsentwicklung werde sich in einer eigenständigen DDR vollziehen. Erst als klar war, dass es zur deutschen Einheit geht und die ostdeutschen Wissenschaftler um die gleichen „Fördertöpfe“ konkurrieren würden, wurden Ehrabschneidung, Inkompetenznachrede und Stasi-Unterstellung zu Mitteln der innerwissenschaftlichen Konkurrenz in der gesamtdeutschen Szene.

Wissenschaftsgeschichtlich war in der DDR respektive Ostdeutschland die Zeit vom Herbst 1989 bis Ende 1990, als die institutionellen Abwicklungen begannen, außerordentlich produktiv und brachte viel Interessantes hervor. Die vom Marxismus kommenden Wissenschaftler teilten sich, nach dem Hinauswurf der tatsächlichen oder vermeintlichen Aufpasser, in die Brotgelehrten (um eine Einteilung von Friedrich Schiller in Anwendung zu bringen) und die produktiven Intellektuellen. In vielen heutigen Darstellungen kommt diese Phase der deutschen Wissenschaftsgeschichte nicht vor. Sie erscheint lediglich als abschließende Periode der DDR-Wissenschaft. Ihre geistigen Wirkungen reichen vielfach jedoch über das Jahr 1990 hinaus.

Zum Thema DDR und „Untergang des Realsozialismus“ gab es bereits 1990 neue Ansätze, die vor allem auch in Initial diskutiert wurden. Michael Brie begründete, dass der „administrativ-zentralistische Sozialismus“ sich in einer „allgemeinen Krise“ befindet. Die Ursache sah er in dem wachsenden Widerspruch zwischen der im System erfolgenden Entwicklung von Produktivkräften und menschlichen Bedürfnissen und Werten einerseits und der „durch die Enteignung der Basissubjekte verwirklichten Zentralisierung der gesellschaftlichen Kräfte“. Reinhard Mocek analysierte den „Patriarchensozialismus“. Peter Ruben charakterisierte den Realsozialismus unter Bezug auf Marx als „rohen Kommunismus“, der den beständigen Krieg gegen die Persönlichkeit des Menschen und seine Subsumption unter den Apparat bedeutet habe.

Berliner Debatte Initial, heute als „Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal“, hat in den vergangenen Jahrzehnten zu Umbruch, „Transformation“ und Leben in Ostdeutschland und im vereinigten Deutschland über 100 Beiträge publiziert. Der 30. Jahrgang schließt mit Heft 4/2019, es hat den schlichten Titel: „30 Jahre“ und versucht die gesellschaftliche Entwicklung dieser Zeit in gewissem Sinne zu resümieren. Das Heft wurde absichtlich zwischen dem 30. Jahrestag der Grenzöffnung am 9. November 1989 und dem 30-jährigen Jubiläum der deutschen Einheit mit ihren wieder zu befürchtenden Lobreden platziert.

Die elf Beiträge des Themenschwerpunktes befassen sich mit verschiedenen Fragen der politischen, kulturellen, ökonomischen und sozialen Entwicklung im Osten Deutschlands seit 1989/90. Die Verfasserinnen und Verfasser kommen aus unterschiedlichen Disziplinen und Institutionen und gehören verschiedenen Generationen an. Dadurch kam ein facettenreiches Bild der ostdeutschen Problemlagen zustande. Ingrid Miethe, Professorin an der Justus-Liebig-Universität Gießen, entwickelt die These, dass die Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschen nicht einfach auf einer horizontalen Ebene vorzufinden sind, wie zwischen Sachsen und Ostfriesen, sondern dass ihnen eine vertikale Dimension der Macht innewohnt, die Folge der westdeutschen Dominanzkultur ist.

Yana Milev, Universität St. Gallen (Schweiz), dechiffriert „Transformation“ als geschaffene Tatbestände der Verwerfung, Abwicklung und Löschung in Ostdeutschland. Es ging nicht nur um den Abriss der DDR-Wirtschaft und ihre Privatisierung zu Schnäppchenpreisen, sondern auch um das Verwerfen und die Löschung der DDR-Gesellschaft und die Stigmatisierung ostdeutscher Biografien. Damit wurden zugleich neue Märkte für Umschulung, Weiterbildung usw. sowie Institutionen und Behörden im Osten geschaffen, durch die Beamte und Berater aus dem Westen lukrative Arbeitsplätze erhielten, die sie zu Hause nie erlangt hätten. Drei Jahrzehnte nach der Vereinigung sind alle Bilanzen von Einkommen und Vermögen, Arbeit, Arbeitszeit, Tarifbindung oder Lebensqualität für Ostdeutschland auf einem deutlich tieferen Niveau als für Westdeutschland. Ulrich Busch betont, dass der Beitritt nach Artikel 23 Grundgesetz zum „Anschluss“ der DDR an die BRD geriet. Eine Gesellschaftstransformation, wie sie die Akteure der friedlichen Revolution 1990 erwarteten, blieb aus.

Gerd Dietrich, Autor einer umfänglichen Kulturgeschichte der DDR, sieht in seinem Beitrag die Ursachen für die finale Krise des Staates 1989 nicht in der wirtschaftlichen Lage, sondern im kulturellen Bereich, vor allem dem um sich greifenden Gefühl der Aussichtslosigkeit und dem Verlust der sozialistischen Zielkultur. Weitere Beiträge im Heftschwerpunkt befassen sich mit dem Geschenkverkehr zwischen West und Ost vor dem Mauerfall, den Illusionen der evangelischen Kirche, den Einheitserwartungen, Präferenzen, Hoffnungen und Befürchtungen der Bevölkerung im „Wendejahr 1989/90“ sowie den Diskursen in Korea um die deutsche Einheit.

Über die „Wendeliteratur“ der 90er Jahre schreibt der Literaturwissenschaftler Arne Born, diese Texte konstatieren und reflektieren nicht nur die sich schnell etablierenden Fremdheitsmuster zwischen Ost und West, sondern praktizieren sie auch selbst, indem sie die Stereotype reproduzieren und fortführen. „Damit wird die Wendeliteratur sowohl zur Beobachterin als auch zur Akteurin der deutsch-deutschen Zwietracht.“ Das gilt ganz gewiss auch für einen übergroßen Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften, die sich mit den deutschen Dingen der vergangenen 30 Jahre befassen. Dem aktuell etwas entgegenzustellen, will dieses Initial-Heft versuchen.