Wenn er prüfen will, ob er im Berg auf abbauwürdige Schichten stößt, setzt der Bergmann Probebohrungen an. Geht das gut, kann er mit den Erschließungsarbeiten beginnen. Genau das ist am 5. Februar 2020 im Thüringer Landtag bei der Wahl des Ministerpräsidenten passiert. Die Parteien des Bürger-Blocks unternahmen eine Probebohrung. Allerdings trieben sie den Bohrer mit einer zu großen Geschwindigkeit in den Fels und verkanteten dabei auch noch das Gestänge. Der Bohrer fraß sich fest, die Sache musste abgebrochen werden – und die Mannschaft steht bis auf die Knochen blamiert neben dem demolierten Gerät.
Die Sache hat eine Vorgeschichte. Seit 1990 erzielen dort die Parteien, die das konservative Spektrum bis hin zu den ganz Rechten abbilden, in der Regel Werte über 40 Prozent, teilweise bis hin zur absoluten Mehrheit: 1990 – CDU 45,4 plus FDP 9,3; 1994 – CDU 42,6 plus FDP 3,2; 1999 – CDU 51,0; 2004 – CDU 43,0 (das war die absolute Mehrheit im Landtag); 2009 – CDU 31,2 plus FDP 7,6 (Christine Lieberknecht [CDU] bildete mit der SPD eine Koalitionsregierung); 2014 – CDU 33,5 plus 10,6 AfD (unter Bodo Ramelow kam das erste rot-rot-grüne Kabinett); 2019 – CDU 21,7 plus FDP 5,0 plus AfD 23,4 (das ist die absolute Mehrheit). Vom Mythos des „roten“ Thüringens sollte man sich verabschieden.
Noch deutlicher wird das bei den „Wahlen vor Ort“, bei denen die parteipolitische Großwetterlage eine geringere Rolle spielt. Hier kennt man einander, hier weiß man, was man von den Parteien und ihren Kandidatinnen und Kandidaten zu erwarten hat. Kommunalwahlen gab es in Thüringen zuletzt 2018 und 2019 (2018 die Landräte und Oberbürgermeister). DIE LINKE stellt seitdem nur noch eine einzige Landrätin, die parteilose Petra Enders im Ilm-Kreis. Von den 14 thüringischen Landkreisen sind acht in CDU-Hand. Ein nicht ganz so schwarzes Bild bietet das Spektrum der Oberbürgermeister, „rot“ ist es allerdings auch nicht: Von neun Oberbürgermeistern stellt die CDU zwei, DIE LINKE allerdings auch nur eine einzige – Katja Wolf in Eisenach.
Eindeutig ist das Bild in den Kreistagen und Stadträten der sechs kreisfreien Städte. Dort landete DIE LINKE im Mai 2019 (!) auf dem vierten Rang (13,7 Prozent), das Sagen hat hier die CDU (28,1), gefolgt von AfD (18,0) und „Sonstigen“ (15,8). Dahinter stecken vor allem freie Wählergemeinschaften, die sich einem konkreten politischen Ziel verpflichtet fühlen – Stromtrassen, Umgehungsstraßen, Waldumbau et cetera – und die sich von den „alten Parteien“ nicht mehr vertreten fühlen. Dazu gehört inzwischen auch DIE LINKE. Die ist auch auf dem „platten Land“ in den kreisangehörigen Städten und Gemeinden abgemeldet: 10,1 Prozent brachte sie noch auf die Waagschale, die CDU mehr als das Doppelte (22,4)! Während die AfD erstaunlicherweise nur 7,9 Prozent abfasste, erzielten die „Sonstigen“ hier satte 42,7 Prozent. Nicht nur, aber auch bei der LINKEN sollten also alle Alarmglocken schrillen. Während sie sich vor laufenden Kameras Schaukämpfe mit ungewissem Ausgang um den Thronsessel in der kurmainzischen Statthalterei liefern – das ist der heutige Sitz des Ministerpräsidenten und der Staatskanzlei des Freistaates –, verlieren die etablierten Parteien ihre Wählerbasis auf geradezu dramatische Weise. Man traut ihnen nicht mehr.
Erkannt haben das bislang nur wenige. Am Tag der „Probebohrung“ der Rechten bezeichnete Johanna Scheringer-Wright, ehemalige Landtagsabgeordnete der LINKEN, in einem Interview der jungen welt den Wahlsieg ihrer Partei vom Oktober 2019 als Pyrrhus-Sieg. Noch zwei solcher Siege, meinte sie, und man sei als sozialistische Partei tot. Man habe zwar bürgerliche Wählergruppen gewinnen können, „unsere klassische Wählerbasis hat sich dagegen nicht erweitert, die Stammwählerschaft ist – und zwar insbesondere durch Abgänge ins Nichtwählerlager – geschrumpft“. Man muss sie nur in einem kleinen Punkt korrigieren. Nicht nur als „sozialistische Partei“ wird man sich dann verabschieden müssen, sondern als Partei insgesamt.
Wählerinnen und Wähler entscheiden sich anhand des Gebrauchswerts einer Partei für ihre jeweils sehr eigenen Interessen. Das ist nichts Ehrenrühriges, das Grundgesetz und darauf fußend das deutsche Parteiengesetz sehen das nicht anders. Erkennen Mehrheiten der Bevölkerung diesen Gebrauchswert nicht mehr, irrlichtern sie eben bei den diversen „Sonstigen“ herum oder bleiben ganz weg. Und das ist zunehmend der Trend nicht nur im Land der geschwefelten Klöße und der Rostbratwürste. Die wachsende Nervosität hinsichtlich der insgesamt schrumpfenden Wählerschaft und vor allem der konkret auf die eigene Partei bezogenen Daten bundesweit bei allen Parteien hat damit zu tun. Auch die Grünen-Analytiker sind im stillen Kämmerlein mathematisch gebildet genug, um nicht sehen zu können, dass ihr gegenwärtiger Hype ein sehr fragiler Vorgang ist. Man sagt so etwas nur nicht laut. Stattdessen wird versucht, Erfolge zu konstruieren, wo keine sind.
Damit sind wir wieder im Thüringer Landtag. Zweifellos wurde DIE LINKE mit 31 Prozent stärkste Partei. Den Zuwachs von 2,8 Prozentpunkten hat sie Bodo Ramelow zu verdanken, auf den die Partei im Wahlkampf fast alles setzte, nachdem sich herausgestellt hatte, dass es auf einen Zweikampf Ramelows mit dem AfD-„Flügel“-Mann Björn Höcke hinausläuft. Auf den Großplakaten Ramelows war noch nicht einmal mehr das Parteilogo zu sehen. Dennoch war der Wahlsieg so furios nun auch wieder nicht. In den Wahlkreisen errang DIE LINKE 11 Direktmandate, CDU und AfD hingegen 32, die SPD eines. Mit Ausnahme der Städte Nordhausen, Erfurt, Weimar, Gotha, Jena, Gera und der Gegend um Suhl ist das Land tiefschwarz bis hellblau grundiert. AfD und CDU einen ein tief verwurzelter Antikommunismus, gegen den selbst Bodo Ramelow und Adlatus Benjamin Hoff kein Rezept finden werden, und der unbedingte Wille zur Macht. Die CDU meint immer noch, das Land gehöre ihr – der Widerspruch zwischen der tiefen Verwurzelung in der Fläche und der Erodierung ihres landespolitischen Einflusses müsse endlich aufgelöst werden. Die AfD will einen grundsätzlichen „Politikwechsel“ mithilfe von „Mehrheiten […], um im Interesse unserer Wähler mitzugestalten“, wie Björn Höcke und Stefan Möller am 9. Februar in einem „Mitgliederbrief“ erklärten. Unverblümt räumen sie ein, wo sie die notwendigen Stimmen zu holen gedenken: „noch mehr Wähler im linken Lager“ … Dort sollten wahrlich alle Alarmglocken schrillen.
Perspektivisch läuft alles auf eine Lagerauseinandersetzung hinaus. Nicht nur in Thüringen, sondern in ganz Deutschland. In Sachsen-Anhalt verdichten sich die Spekulationen, dass es demnächst zu einem Zusammengehen zwischen CDU und AfD kommen könnte. 2019 veröffentlichten die stellvertretenden CDU-Landesvorsitzenden Ulrich Thomas und Lars-Jörn Zimmer ein Papier, in dem sie dazu aufforderten, das „Nationale“ mit dem „Sozialen“ zu versöhnen. Wie verräterisch kann Sprache sein! Die „klugen Kommentare aus Berlin“ – so der Tagesspiegel – verbittet man sich wie in Erfurt auch in Magdeburg zunehmend. In Brandenburg sind ähnliche Trends zu beobachten. Auch Teile der immer noch in den Schützengräben des Kalten Kriegs hockenden Berliner CDU würden sich ganz selbstverständlich der AfD bedienen wollen, um die ungeliebten „Roten“ endlich loszuwerden.
Der Thüringer Dammbruch war geplant. Auch wenn FDP- und CDU-Granden ihn zunehmend als Betriebsunfall, Ausrutscher oder große Dämlichkeit einzelner Protagonisten – auf der Opferbank liegen wahlweise Thomas Kemmerich oder Mike Mohring – hinzustellen versuchen. Christian Lindner wusste Tage vorher um den Plan Kemmerichs. In der CDU wurde diese Varianten diskutiert und selbst Ramelows Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) wusste vorher Bescheid und warnte Kemmerich am Morgen des 5. Februar per Twitter „[…] ist es wahr, dass Sie sich mit den Stimmen der AFD zum MP wählen lassen und dann SPD-Minister zum Bleiben auffordern wollen?“
Diese Probebohrung ging schief. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass beim nächsten Mal das Gestänge solider angesetzt und am Cockpit der Maschine nicht ein Dillettantenklub wie der Erfurter sitzen wird. Nach dem Abgang Annegret Kramp-Karrenbauers und dem nahen Ende der Ära Merkel wird die CDU bundesweit vor ähnlichen Untergangsvisionen stehen, die die thüringische Union in das taktische Spiel mit Höckes Truppe trieben. Warnungen, wie sie der ehemalige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz im Interview mit der schweizerischen Online-Plattform Republik äußerte, werden dann in den Wind geschlagen werden: „Die Faschisten sind dort, wo sie an die Macht gekommen sind, immer nur an die Macht gekommen, wenn die Konservativen ihnen dazu die Plattform geboten haben.“ Bevor sie abtreten müssen, werden die deutschen Konservativen auch zu „Einbindungsstrategien gegenüber faschistischen Bewegungen“ (Polenz) greifen – und ebenso scheitern wie seinerzeit Franz von Papen.
Es drohen finstere Zeiten.
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