Mannigfach und hochoffiziell wird immer nachdrücklicher gefordert, jüngst auf der Münchener Sicherheitskonferenz, Deutschland müsse mehr internationale „Verantwortung“ übernehmen. Damit ist insbesondere das Militärische gemeint. Vermeintliche deutsche „Selbstverzwergung“ und „Selbstfesselung“ werden beklagt. Erhard Crome analysiert deutsche Machtpolitik mit anregenden, weit in die Geschichte reichenden Bezügen. Die Rolle des vereinten Deutschlands in Europa und in der Welt wird vielseitig analysiert. Der Buchtitel „Deutschland auf Machtwegen “ ist treffend formuliert. Damit in Zusammenhang wird eine Vielzahl von Themen angesprochen, die Lektüre gebieten, so über die „deutsche Frage“, über „Exportnation“, globale Rivalitäten, „Geopolitisches Europa“, innere Spannungsprozesse in der Union, Konsequenzen des Brexits, nicht zuletzt Imperialismustheoretisches.
Nach dem historischen Bruch 1945 vollzog sich in der Nachkriegszeit der Aufstieg der Bundesrepublik in eine hegemoniale Position. Ansprüche auf eine Vormachtstellung in Europa in Vergangenheit und Gegenwart werden vom Autor detailliert nachgezeichnet, Möglichkeiten, Grenzen und Scheitern in zwei Weltkriegen werden vor Augen geführt. Sowohl Kontinuitätslinien als auch politische Brüche werden aufgezeigt. Deutschland wurde nach 1990 erneut zur europäischen Zentralmacht und wird vom Verfasser als eine geo-ökonomische Macht mit globalen Interessen definiert. Die Führungsrolle der Bundesrepublik in der Europäischen Union wird ausführlich erörtert. Der Weg führte nicht zu dem vielfach erhofften „europäischen Deutschland“, sondern eher zum befürchteten „deutschen Europa“. In der Sicht des Autors gibt es eine Art Neuaufkommen der „deutschen Frage“. Informativ wird nachgewiesen, wie das Verlangen nach „mehr Verantwortung“ von den Herrschenden und Regierenden auch militärisch zielstrebig umgesetzt wird. Es wird aber auch gezeigt, wie politische und ideologische Instrumente eingesetzt werden, um Kapitalinteressen, außenpolitische Ambitionen und machtpolitische Ziele durchzusetzen. Offiziell werde betont, Deutschland habe geschichtliche Lehren gezogen, sei nunmehr weltoffen und fungiere als wohlwollender Hegemon. Crome weist überzeugend nach, wie Interessenpolitik im Namen eines „humanitären Idealismus“ und bemäntelt durch eine „moralisierende Außenpolitik“ verfolgt wird. Das kompliziere aber nunmehr die neue „Verantwortungspolitik“.
Im Buch wird dokumentiert, wie die deutsche Führungsrolle in der EU von den Eliten als entscheidendes Element deutscher Außenpolitik praktiziert wird. Ziel sei nunmehr eine führende Stellung in der Weltpolitik. Im Kapitel über die „Crux mit der EU“ werden mögliche Entwicklungsszenarien der Integration beschrieben. Unterschiedlich sind die jeweiligen Konsequenzen für deutsche Politik. Der Autor befasst sich eingehend mit der deutschen Rolle als dominierende Wirtschaftsmacht, als „Exportnation“. Ein von Deutschland ökonomisch dominiertes Mitteleuropa war schon vor Jahrzehnten Ziel imperialer Kräfte. Aufschlussreich sind integrationstheoretische Ausführungen über national organisierte staatliche Machtkomplexe und Rivalitäten, über Machtgefüge und Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft in der EU.
Der Verfasser dechiffriert zentrale Aspekte der neuen „Verantwortungspolitik“. Den maßgeblichen Eliten gehe es dabei vorrangig darum, Deutschlands Rolle im internationalen Kräftespiel qualitativ zu verändern und den deutschen Anteil bei der weltweiten Neuverteilung von geopolitischer Macht auszuweiten. Dabei hat die Europäische Union für die Machtpolitik der maßgeblichen Eliten zentrale Bedeutung. Eine militärpolitisch handlungsfähige Union ist im Blick. Die Wechselbeziehungen zwischen EU-Integration und deutscher Dominanz finden im Buch die gebührende Aufmerksamkeit. Mit Recht wird auf die Bedeutung der Union als „Hinterland“ für deutsche Hegemonialpolitik verwiesen. In der Sicht Berlins müsse die EU allerdings „geopolitisch“ tätiger werden und sich als eigenständige Weltmacht zwischen den Globalmächten USA und China positionieren. Die ausgeprägt transatlantischen Kräfte priorisieren trotz Trump weiter die engen Bindungen zu den USA. Andere halten in der Sicht Cromes eine deutsch-europäische Zwischenposition für unumgänglich. Mit daraus resultierenden Widersprüchen müsse die Berliner Regierung umgehen, wobei der Autor hierbei die politische Klasse für überfordert hält. Eindeutig sein Standpunkt: Feindschaft zu Russland zu reproduzieren schadet zu allererst den deutschen Interessen.
Der Propagierung der Bundesrepublik als einer vorbildlichen Friedensmacht steht zunehmend interventionistische Machtpolitik entgegen. Der zunehmenden Militarisierung deutscher Außenpolitik, eindeutig so benannt, wird die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet. Für maßgebliche Eliten müsse zur weiteren Normalisierung deutscher Politik vor allem eine Enttabuisierung des Militärischen erfolgen. Belegt wird, dass und wie sich Teile der politischen Klasse für eine effektivere deutsche Kriegsführungsfähigkeit engagieren. Von einigen Meinungsträgern werde gelegentlich selbst die Idee des Krieges wieder erörtert. Propagiert werden wirksame Interventionsstreitkräfte der EU. Hochaktuell ist die Analyse nuklearer Erwägungen im Kreise der Eliten. Möglichkeiten eines Zugriff auf die Nuklearstreitkräfte Frankreichs im Rahmen gemeinsamer EU-Militärpolitik werden diskutiert – bei Wahrung der „nuklearen Teilhabe“ in der NATO. Manche „Strategen“ halten abenteuerlich selbst eine eigenständige deutsche Nuklearmacht in einer längeren Sicht für unverzichtbar. Derartige Denkspiele und Orientierungen werden vom Autor als unverantwortlich gebrandmarkt und der Gegensatz zum „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ und anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen betont („Deutsche Bombenträume“). Anregend sind Vorstellungen des Autors für eine alternative militärische Sicherheitspolitik der Bundesrepublik (Stichworte: Bundeswehr mit der Aufgabe der Territorialverteidigung, Austritt aus der Militärorganisation der NATO, Abzug aller Kernwaffen von deutschem Boden, unmittelbar Beendigung von Auslandseinsätzen und Einstellung von Waffenexporten in Nicht-NATO-Staaten).
Kontroversen in den herrschenden Kreisen über künftige Wege und Optionen deutscher Außen- und Sicherheitspolitik werden im Buche nicht übersehen. „Europäisches“ oder „atlantisches Europa“ und deren Wechselbeziehungen sind umstritten. Differenzen um die „strategische Dimension“ der „Europapolitik“ sind offensichtlich. Diese Situation muss von friedensengagierten Kräften beachtet werden. Wichtig ist der Hinweis, für die Regierenden würden sich durch die Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik zunehmend Legitimierungsprobleme ergeben.
Einschätzungen mancher Analytiker, Ängste vor deutscher Hegemonie gäbe es nicht oder dominierten nicht mehr, widersprechen den Gegebenheiten. Eine deutsch geprägte Hegemonialordnung in der EU erzeugt nicht nur lediglich Unbehagen. Eine neue „deutsche Frage“ ist entstanden. Fragen nach Schutz vor deutscher Dominanz oder Hegemonie bleiben existent. Crome meint, EU-Partner könnten deutsche Stärke durch abgestimmtes politisches Wirken in gewissem Maße ausbalancieren. Ein spezieller Problembereich! Gesellschaftliche und politische Kräfte, die „deutsche Machtwege“ kritisch sehen, gänzlich ablehnen und nach Alternativen suchen, finden im Buche nicht wenige Anregungen. Sie könnten auch in der anstehenden Unionsdebatte um die „Zukunft Europas“ genutzt werden.
Erhard Crome: Deutschland auf Machtwegen. Moralin als Ressource für weltpolitische Ambitionen, VSA, Hamburg 2019, 176 Seiten, 16,80 Euro.
Prof. Dr. Wilhelm Ersil ist Politikwissenschaftler und arbeitete als Hochschullehrer am Institut für Internationale Beziehungen an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften in Potsdam-Babelsberg. Er ist Autor des 1986 erschienenen DDR-Standardwerks „Außenpolitik der BRD 1949–1969“. Er lebt in Potsdam.
Schlagwörter: Außenpolitik, deutsche Frage, Erhard Crome, EU, Hegemonie, Wilhelm Ersil