Auf der diesjährigen Jahrestagung der American Economic Association (AEA) Anfang Januar fand unter anderem ein Plenum über „Tod aus Verzweiflung und die Zukunft des Kapitalismus“ statt. Im Mittelpunkt stand das gleichnamige Buch (Deaths of Despair and the Future of Capitalism) des Ehepaars Anne Case und Angus Daeton.
Als Deaths of Despair werden Selbstmorde sowie mit Alkohol- und Drogenkonsum, mit armutsbedingter Fehlernährung und familiärer Zerrüttung verbundene Todesfälle bezeichnet, deren teils dramatische Zunahme seit Beginn dieses Jahrhunderts laut Case/Daeton signifikant mit der verschlechterten Lebenslage, der verringerten Lebenserwartung und der wachsenden Hoffnungslosigkeit bei Teilen der weißen Arbeiterklasse in den USA korreliert.
Case/Daeton führen diese Entwicklung nicht – wie manche ihrer Kritiker – auf individuelles Verhalten, den Opioide-Skandal der Pharma-Industrie oder nur punktuelle Fehlentwicklungen zurück, sondern stellen die „Systemfrage“. Mit ihrem Nachdenken über die Zukunft des Kapitalismus gesellen sie sich zu jenen Ökonomen, Soziologen und Politikwissenschaftlern, die in jüngster Zeit verstärkt von dieser Frage umgetrieben werden.
Abgesehen von anti-kapitalistisch und marxistisch inspirierten Autoren haben auch eher dem „progressiven Mainstream“ zugerechnete Sozialwissenschaftler international beachtete Arbeiten dazu herausgebracht: Jeremy Rifkin (The Zero Marginal Cost Society, 2014), Robert Reich (Saving Capitalism, 2015), Wolfgang Streeck (How Will Capitalism End? 2016), Paul Collier (The Future of Capitalism, 2018), Joseph Stiglitz (Peoble, Power, and Profits. Progressive Capitalism for an Age of Discontent, 2019), um nur einige zu nennen. Es gibt sogar Konservative, denen die Systemfrage schlaflose Nächte bereitet. Auf dem Höhepunkt der Euro-Krise, 2015, äußerte Wolfgang Schäuble, damals Finanzminister, in einem SPIEGEL-Interview „Was wäre gewesen, wenn uns in einem der Länder eine Revolution ausgebrochen wäre?“
Das ist symptomatisch für eine Zeit, in der soziale, ökonomische, ökologische und politische Unsicherheiten zugenommen haben, in der sich disruptive Tendenzen verstärken und in der die wachsende Ungleichheit – das Thema, für dessen Erforschung Angus Daeton 2015 den Nobelpreis erhalten hatte – die Stabilität des Systems unterminieren. Aber anders als Autoren, die dem Kapitalismus keine Zukunft geben und Wege, Bewegungen und Subjekte zu seiner Überwindung suchen, verorten sich die meisten dieser neuen kritischen Wissenschaftler nicht im anti-kapitalistischen Lager, sondern verstehen sich als „Arzt an seinem Krankenbett“. Deaton fragt „Was läuft falsch im heutigen Kapitalismus?“ Offensichtlich sei der krank, und „der Virus des Sozialismus ist zurückgekehrt und hat wieder einmal die jungen Leute infiziert. Klügere Köpfe, welche die bisherigen Errungenschaften des Kapitalismus respektieren, wollen ihn dagegen retten und schlagen Diagnosen und Arzneien vor. Aber manchmal überschneiden sich ihre Vorschläge mit denjenigen, die das System niederreißen wollen, und machen damit die traditionelle links-rechts-Unterscheidung hinfällig.“ Hinzugefügt werden sollte, dass in den USA kaum ein Unterschied zwischen sozialistischen und sozialdemokratischen Strömungen und Theorien gemacht und zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus eher nicht differenziert wird.
Die angewachsenen „Todesfälle aus Verzweiflung“ und die fallende Lebenserwartung in den USA bringen Case/Daeton explizit mit der Umverteilung von Unten nach Oben in Verbindung, welche, anstatt sie zu stoppen, durch die Regierungspolitik verstärkt würde. Anhand des amerikanischen Gesundheits- und des Bildungssystems zeigen sie, wie die Oberen profitieren, während die unteren Schichten und die Arbeiterklasse vor allem infolge stagnierender oder sogar sinkender Realeinkommen abgehängt und ausgegrenzt würden.
Wie in den meisten anderen der oben angeführten Arbeiten des progressiven Mainstreams bleibt unausgesprochen, wieso die Ungleichheit destabilisierend wirkt; oft wird nur konstatiert, sie hemme das Wachstum. Der bekannte Ökonom Kenneth Rogoff, der das Buch und den Vortrag von Case/Daeton auf dem Podium der AEA-Jahrestagung kommentierte, sprach einmal davon, dass damit „die Unterstützung für den Kapitalismus brüchig“ würde. Kaum angesprochen werden aber die tieferliegenden Mechanismen, die der wachsenden Ungleichheit zugrunde liegen. Diese wird zwar exzellent beschrieben und mittels neuester Methoden vermessen, ihre Ursachen bleiben aber letztlich im Dunkeln. Manchmal werden Fehlanreize, politische Weichenstellungen, Tendenzen zur Monopolisierung, Machtmissbrauch, der Konzern-Lobbyismus und anderes mehr angeführt, die Verbindung zu den Systemgrundlagen des Kapitalismus wird jedoch nicht hergestellt.
Nun ist es allerdings durchaus so, dass bestimmte Entwicklungen politisch bedingt sind und verändert werden können, ohne die Systemgrundlagen anzutasten. Case/Daeton weisen darauf hin, dass zum Beispiel Deutschland, wie die meisten anderen entwickelten Länder auch, keine ähnliche Verkürzung der Lebenserwartung und keine zunehmenden Deaths of Dispair zu verzeichnen hat. (Da bleibt nur zu hoffen, dass die US-amerikanische Entwicklung nicht wie so oft zugleich die Zukunft Europas zeigt, denn die Phänomene der Ungleichverteilung, eines gespaltenen Gesundheitssystems, einer in der Verteilung begründeten differenzierten Lebenserwartung und einer stark sozial bedingten Ungleichheit in den Bildungs- und Aufstiegschancen existieren auch hierzulande.)
„Was muss getan werden?“ fragten Case/Daeton abschließend in ihrem Vortrag und antworteten fragend: „Ein anderes Bildungssystem? Die Kosten der Gesundheitsindustrie zügeln? Einen Weg finden, wie die Arbeiterklasse wieder einen Platz an dem Tisch findet, an dem der Kuchen verteilt wird?“ Sie ließen die Antwort zwar offen, aber es ist schon klar, dass es ihnen genau um diese Schwerpunkte geht.
Auf diese ist auch die neue Plattform „Economics for Inclusive Prosperity“ fokussiert, zu deren Begründern die bekannten, ebenfalls auf der AEA-Tagung aufgetretenen Ökonomen Dani Rodrik und Gabriel Zucmann gehören.
Inklusion fordert auch – man höre und staune – Klaus Schwab, der Begründer und Chef des Davoser Weltwirtschaftsforums, jüngst in einem Artikel bei Project Syndicate. Statt des „Shareholder-Kapitalismus“ oder eines „Staatskapitalismus“ befürwortet er einen „Stakeholder-Kapitalismus“, bei dem die Interessen aller irgendwie von der Unternehmenspolitik betroffenen Personen und Institutionen (Stakeholder) berücksichtigt werden. Unternehmen seien die „Treuhänder der Gesellschaft“. Wow! Das klingt genauso gut wie die Forderung nach stärkerer Beteiligung der Arbeiterklasse an wirtschaftlich-politischen Entscheidungen.
Eine solche Zukunft des Kapitalismus wäre natürlich seiner gegenwärtigen Variante vorzuziehen und das Ringen darum unterstützenswürdig. Freilich wohnte auch einer solchen Zukunft ein Widerspruch inne, weil Kapitalismus eben nicht nur Marktwirtschaft ist, sondern weil der Ausschluss der Arbeitenden vom Eigentum und der realen Verfügung und Entscheidungshoheit über das Produktivvermögen nun mal das Wesen dieser Produktionsweise ausmacht.
Rechts und links, um bei Daetons Differenzierung zu bleiben, unterscheiden sich genau darin, dass sich die Einen von einer größeren Teilhabe die Rettung des Kapitalismus erhoffen und die Anderen darin einen ersten Schritt zu seiner Überwindung sehen.
Klaus Schwab will einen Stakeholder-Kapitalismus schon 1971, dem Gründungsjahr des Weltwirtschaftsforums, beschrieben haben. Die größten Gruppen der Stakeholder hatten dort allerdings nie eine Stimme. Es macht also schon einen Unterschied, ob eine größere Teilhabe von einem Verbündeten des Großkapitals oder aus einer linken Perspektive gefordert wird. Dass Case und Daeton die Systemfrage auf einer AEA-Tagung aufgeworfen haben, bleibt gleichwohl beachtenswert.
Schlagwörter: Jürgen Leibiger, Kapitalismus, Tod, Verzweiflung