Die viel zitierte grüne Basisdemokratie war im entscheidenden Moment zur Farce geronnen. Nach monatelangen, geheim geführten Verhandlungen zwischen dem jungen Altkanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und dem Grünen-Chef Werner Kogler hatten die 275 Delegierten der grünen Basis Anfang Januar 2020 weniger als 48 Stunden Zeit, um das 326-seitige Ergebnis der Koalitionsgespräche zu beurteilen. Parallel dazu trommelten sämtliche staatlichen und privaten Medien dafür, den schwarz-grünen Versuch zu wagen. Sogar das auflagenstärkste Boulevardblatt, die Kronenzeitung, verstreute Vorschusslorbeeren. In dieser Situation votierten 246 grüne Delegierte – bei 15 Gegenstimmen – in offener Abstimmung für das angebliche Wagnis. Damit war der Startschuss für die erste schwarz-grüne Koalition in Europa erfolgt.
„Das besten aus beiden Welten.“ Mit diesen Worten charakterisierte Sebastian Kurz, der zuletzt eine rechts-rechte Regierung mit der FPÖ geführt hatte, das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen. Mit den zwei Welten meint er die christlich-soziale, konservative, alt eingesessene eigene Welt der ÖVP auf der einen und die neue grüne Kraft auf der anderen Seite. So weit auseinander liegen die beiden indes nicht, wie die Einigung auf eine gemeinsame Koalition gezeigt hat.
Das aus 15 Ministern bestehende Regierungsteam macht auch deutlich, dass die alt-neu-Zuschreibung schon biografisch nicht stimmt: der 33 Jahre junge, türkis-schwarzer ÖVP-Kanzler Kurz steht dem 58-jährigen grünen Vizekanzler Werner Kogler gegenüber. Und die Ministerriege der Christkonservativen ist im Durchschnitt auch jünger als jene der Grünen. Wie überhaupt die junge Garde um Sebastian Kurz herum das Geschehen dominiert.
Inhaltlich wiederum sind die Gegensätze zwischen schwarz/türkis und grün leicht überbrückbar. In wesentlichen geopolitischen und Klassenfragen trennt sie wenig bis nichts. Da ist einmal ihr gemeinsamer unerschütterlicher Glaube in die Europäische Union als Heilsbringer. Konkurrenzfähigkeit, Menschenrechte, Frieden in Europa … all das garantieren – nach beider Meinung – die Brüsseler Institutionen. Kritik an der EU wird sowohl von ÖVP als auch von den Grünen nicht geduldet und mit Zuordnungen wie „europafeindlich“ oder „populistisch“ bedacht. Auch in der Politik gegenüber Russland, so sie überhaupt in einem kleinen EU-Mitgliedsland wie Österreich von Bedeutung ist, wird man sich nicht in die Haare kriegen, allenfalls ein paar grüne Bemerkungen zum Umgang Moskaus mit Homosexuellen könnten die Eintracht kurzfristig stören.
Von wesentlicher Bedeutung für die zukünftige Zusammenarbeit zwischen ÖVP und Grünen ist ihre beiderseitige bürgerliche Herkunft. Die Grünen sind oder besser: waren die unzufriedenen Kinder der Christkonservativen. Deren konservatives bis rückwärtsgewandtes Weltbild und deren Beharren auf autoritären Gesellschaftsstrukturen hat in den 1980er Jahren eine politische Opposition entstehen lassen, die sich teilweise noch aus der Aufbruchsstimmung der 68er speiste. Doch die Post-68er sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Sie haben sich als neue Biedermenschen etabliert. Ihr Bild vom Fortschritt ist indes ein anderes. Ihnen geht es nicht mehr vordringlich um ökonomisches Wachstum, Villa, Zweitauto und Fernreisen, sondern um gesundes Essen, gute Luft und E-Mobilität. Die alte Bürgerlichkeit ist generationsbedingt im Aussterben, eine neue findet ihren Platz. Mit den Sorgen der Unterklassen, der Regal-Einräumerin im Supermarkt, dem Paketzusteller oder dem Schichtarbeiter in der Fabrik haben sie keine Berührungspunkte.
An der Schnittstelle zwischen alter und neuer Bürgerlichkeit haben sich nun in Österreich ÖVP und Grüne gefunden. Ihr Regierungsprogramm ist kein Kompromiss zwischen zwei Positionen, sondern gleicht eher einer Verteilungsaktion von Pfründen. Dem Wahlausgang entsprechend, bei dem die ÖVP 37 Prozent und die Grünen 14 Prozent Zustimmung erfahren hatten, teilen sich die Pfründe personell und inhaltlich auf. Sebastian Kurz konnte mit den Ressorts Finanz, Wirtschaft, Inneres und Äußeres die wichtigsten Positionen mit seinen Parteileuten besetzen, die Grünen müssen mit Umwelt & Infrastruktur vorlieb nehmen, das sie als großes Klimaressort preisen.
Beim Budget, landläufig als in Zahlen gegossene Politik bezeichnet, steht als oberstes Gebot das sogenannte Null-Defizit, wie vom EU-Fiskalpakt 2012 in Nachfolge der Maastricht-Kritikerin vorgesehen. Eine soziale Handschrift darin sucht man vergeblich. Vorschläge für eine Vermögens- oder Erbschaftssteuer kommen nicht vor. Stattdessen werden Steuersenkungen bei den Einkommen geplant; und für die Unternehmen fällt die Körperschaftssteuer von 25 auf 21 Prozent.
Umgekehrt ist ein erster Angriff auf Arbeiterrechte bereits im Gange. Die vor kurzem eingeführte Möglichkeit, nach 45 Arbeitsjahren ohne Abschläge bereits mit 62 in Rente zu gehen (die sogenannte Hackler-Regelung), soll gekippt werden. Und wer das Koalitionspapier genau durchliest, wird auch einen Passus entdecken, der eine staatliche Eingriffsmöglichkeit in die Kollektivverträge ermöglicht, wenn sich Unternehmer- und Arbeitervertreter nicht auf eine „vernünftige Lösung“ einigen können. Der Gewerkschaft ist damit die Rute ins Fenster gestellt.
Die Migrations- und Flüchtlingsfrage bleibt vollständig in der Hand der ÖVP. Zuwanderung soll dort stattfinden, wo Unternehmen billige Arbeitskräfte brauchen, dafür hat schon die ÖVP-FPÖ-Regierung in der Vergangenheit die sogenannte Mangelberufsliste ausgeweitet, mit der auf Arbeitskräftesuche jenseits der EU gegangen wird. Die Grünen wollen dazu eine Rot-Weiß-Rot-Karte wiederbeleben, die die Einwanderer transparent nach Brauchbarkeit klassifiziert, indem berufliche Erfahrung, Alter, Sprachkenntnisse und anderes mit Punkten bewertet werden, die dann zur Ablehnung oder Aufnahme führen. Einig sind sich Schwarz/Türkis und Grün auch in der Frage, asiatische oder afrikanische Lehrlinge mit abgelehntem Asylantrag vorerst nicht nach Hause zu schicken. Die Grünen sehen dies als Ausdruck der Menschlichkeit an, die ÖVP folgt damit der Logik der Tourismusbranche, die ständig auf der Suche nach noch billigeren und ausbeutbareren Arbeitskräften ist.
Auffallend ist auch, wie Schwarz und Grün gemeinsam Front gegen den Islam machen. Nicht nur, dass mit der ÖVP-Integrationsministerin Susanne Raab eine junge Frau zum Zug kommt, die das rassistische Islamgesetz des Jahres 2015 mitverfasst hat. Dort ist unter anderem das Verbot der Auslandsfinanzierung von islamischen Glaubensgemeinschaften festgehalten, inklusive der Abschiebung von ausländischen Imamen. Auch wird darin dem österreichischen Bundeskanzleramt die Oberhoheit über islamische Glaubensgemeinschaften zugesprochen, indem er sie mittels Erlass verbieten kann.
Nun gehen ÖVP und Grüne noch einen Schritt weiter und beschließen ein Kopftuchverbot für Mädchen bis 14 Jahren in den Schulen, angeblich im Namen der Frauenemanzipation. Zudem werden alle Moslems in Österreich unter Generalverdacht gestellt, indem ein eigenes Dokumentationsarchiv eingerichtet wird, das islamistische Umtriebe beobachten und melden soll. Nach dem Vorbild eines bereits bestehenden „Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands“, das Rechtsradikalismus und Antisemitismus sowohl historisch aufarbeitet als auch aktuell im Visier hat, wird es demnächst eines gegen den sogenannten „politischen Islam“ geben. Darunter kann dann alles verstanden werden, was islamisch ist und dem vorherrschenden westlichen Weltbild nicht passt.
Um das Misstrauen gegen islamische Immigranten noch zu verstärken, will die neue Koalitionsregierung eine Präventivhaft für eingewanderte „Gefährder“ einführen, also: für radikale Muslime oder solche, die dazu medial gemacht oder etwa von aufmerksamen Mitbürgern als solche denunziert werden. Dagegen regt sich nicht nur in der Richterschaft Widerstand, weil in Österreich bereits drei Arten von Haft bestehen: die Untersuchungshaft, die Strafhaft und die Schubhaft. Damit, so meinen die Experten, müsste eigentlich ein Auslangen gefunden werden. Heftige grüne Einwände dagegen fanden allerdings auf dem Bundeskongress der Partei keinen Widerhall. Es blieb bei verbalen Protesten, den Regierungseintritt wollte man sich dadurch nicht verbauen lassen.
Das „Beste aus der grünen Welt“ findet sich dann beim Thema Verkehr und Klima. Wie bereits in der Hauptstadt Wien soll es zukünftig auch für ganz Österreich – dem Schweizer Vorbild entsprechend – ein Jahresticket für den gesamten öffentlichen Verkehr geben, um 1095,00 Euro sowie um 375,00 Euro für ein Bundesland. Die Frage der Finanzierung ist offen, das Projekt aber ein Herzensanliegen der Grünen.
Anders als bei der Stärkung des öffentlichen Verkehrs über den Anreiz des billigen Jahrestickets setzt man im Regierungspaket beim Thema Klimaschutz auch auf Verbote. So sollen Öl- und Gasheizungen in den kommenden Jahren verboten werden, was nicht nur in ländlichen Gebieten für viele Menschen, deren Häuser damit geheizt werden, technische, aber vor allem auch soziale Probleme schaffen dürfte. Der Bauwirtschaft und den Herstellern alternativer Heizsystem werden die Kassen klingeln.
Hochzufrieden mit der schwarz-grünen Koalition äußert sich Brüssel. Kanzler Kurz’ Antrittsbesuch kommentierte die Tageszeitung Kurier als einen „euphorischen Empfang“. Und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach gar von einem „österreichischen Modell“, das in Europa Schule machen sollte. Bundesdeutsche Medien staunen ob der Wandlungsfähigkeit des jungen Sebastian Kurz. Manche nennen ihn ein politisches Chamäleon. Eine Durchsicht der Regierungspläne zeigt indes, dass das Grün ganz gut zu seinem ins Türkise verwandelten Schwarz passt.
Kurz’ Botschaft an die EU-europäischen Partner lautet folgerichtig: Macht es Österreich nach, Wirtschaft (gemeint ist Unternehmertum) und Klimaschutz sind vereinbar, und bei der Migration suchen wir uns jene aus, die wir brauchen und stoppen jene, die uns zur Last fallen können; das alles notfalls auch mit autoritär verordneten Maßnahmen.
Hannes Hofbauer, Jahrgang 1955, hat Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien studiert. Er arbeitet als Publizist sowie Verleger (Promedia Verlag) und lebt in Wien.
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