„Die Geschichte
muss stimmen.
Verantwortlich dafür
ist die Redaktion.“
Punkt 1 der SPIEGEL-Standards
Vorbemerkung: Dass der Begriff Endlager im Hinblick auf nuklearen Abfall – sobald es sich um Plutonium mit einer Halbwertzeit von circa 25.000 Jahren oder vergleichbare Substanzen handelt – schon per se in die Kategorie Fake News fällt, ist im Blättchen bereits in der Ausgabe 10/2013 ausführlich erläutert worden. Deshalb wird dieser Sachverhalt hier nicht nochmals erläutert, sondern vorausgesetzt.
*
In seiner Ausgabe 14/2010 brachte DER SPIEGEL einen Beitrag über nukleare Mini-Reaktoren. Autor war Philip Bethge, ein promovierter Biologe und Wissenschaftsredakteur bei diesem Nachrichtenmagazin. Bethge berichtete damals unter anderem über ein Aggregat namens „4S“ (super-safe, small and simple) des japanischen Konzerns Toshiba, Prototyp eines zivilen Miniatur-Atommeilers, im Kern lediglich zwei mal 0,7 Meter groß. Solche Kleinreaktoren mit bis zu 300 Megawatt Leistung sollten folgende Merkmale aufweisen:
- Schnäppchen-Preis von unter 600 Millionen Dollar;
- vormontiert lieferbar und damit auch geeignet für Länder ohne einheimische Nuklearfachleute;
- abgebrannte „Brennelemente […] kaum zugänglich in der Reaktorhülle gelagert“;
- tief im Erdboden verbuddelt und damit sicher auch gegen Terroristen;
- bis zu 30 Jahren wartungsfrei und danach rücknehmbar wie Leergut.
Soweit zu den Segnungen der Idee, wie sie von deren Befürwortern und von potenziellen Produzenten vorgetragen wurden. Die US-Regierung, so wusste Bethge zu berichten, warb bereits seit 2006 für das Projekt, „das den Energiehunger der Entwicklungsländer stillen soll“.
Vor allem aber widmete sich der SPIEGEL-Mann der Kehrseite der Medaille: „Kritiker reagieren entsetzt. Sie fürchten, dass spaltbares Material allzu leicht in falsche Hände gelangen könnte.“ Bethge zitierte einen Greenpeace-Vertreter: „Wer dieses Zeug in alle Welt verschifft, darf sich nicht wundern, wenn es als dreckige Bombe zurückkommt.“ Und einen Physiker von der Union of Concerned Scientists: „Ich mag die Idee nicht, solche Anlagen in Länder zu exportieren, die keine Erfahrung mit Nuklearenergie haben und in denen es Sicherheitsprobleme und Korruption gibt.“ Zugleich zog der Autor die Wirtschaftlichkeitsprognosen der „Bonsai-Reaktoren“ in Zweifel: „Zwischen 50 Millionen und 100 Millionen Dollar kostet in den USA allein die Lizenzierung eines AKW. Zudem machen die hohen Sicherheitsauflagen gerade Kleinanlagen unverhältnismäßig teuer.“
Vor diesem Hintergrund konnte man Bethges damalige Feststellung: „Die Atomkraftbranche will sich mit zivilen Mini-Meilern in die Zukunft retten.“ eher als Ausdruck kritischen Argwohns, denn euphorischer Zustimmung lesen.
Erwähnung gefunden hatte in jenem Beitrag auch, dass „Microsoft-Mitgründer Bill Gates […] in das Unternehmen TerraPower [investiert], das innovative Kleinreaktoren plant“.
Knapp zehn Jahre später – auf dem Cover seiner Ausgabe 51/2019 – teilte DER SPIEGEL mit: „Forscher erfinden das AKW neu“. Daneben eine verträumt lächelnde Sonne, über dieser die Frage: „Kernkraft?“ und unter ihr die Antwort: „Ja bitte“. Im Heft ein Beitrag über Mini-Reaktoren, jetzt allerdings Kompakt-AKWs geheißen. Gleich in der Unterüberschrift die Frage „Ist der Atomausstieg ein deutscher Irrweg?“ Autor – Philip Bethge.
Was war geschehen?
Alle früheren Probleme gelöst und alle damaligen Bedenken damit gegenstandslos?
Darüber erfährt man in dem Beitrag herzlich wenig. Dafür darf gleich zu Beginn eine Ingenieurin „der Firma Terrapower“ erklären: „Wir glauben, dass mit dieser Art von Anlage klimaneutraler Strom zuverlässiger und sicherer erzeugt werden kann als mit jedem anderen Kraftwerk der Welt.“ Hinter dem Unternehmen steht immer noch Bill Gates, der mittlerweile 500 Millionen US-Dollar investiert haben soll. Gates’ Credo: „Atomkraft ist ideal, um dem Klimawandel zu begegnen.“
Und dann geht es bei Bethge Schlag auf Schlag:
„In einer Welt, die den Klimawandel als Apokalypse beschreibt, wandelt sich die Atomenergie vom Teufelswerk zum rettenden Geschenk der Natur. Denn bei der Kernkraft entsteht kein Kohlendioxid […].“
„Der Weltklimarat, die Internationale Energieagentur, das Sustainable Development Solutions Network der Vereinten Nationen, Experten des Massachusetts Institute of Technology (MIT) bei Boston, sogar die kritische ‚Union of Concerned Scientists‘ aus den USA halten die Atomkraft für ein wichtiges Mittel, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen.“
Auf der Agenda stünden modulare Reaktoren und visionäre AKWs, „die genau das sein sollen, was die herkömmlichen Anlagen nie waren: sauber, wirtschaftlich und sicher“.
Manche der neuen Nuklearmeiler sollen statt „neuen Abfall zu produzieren, […] Atommüll sogar verfeuern können“.
„Wind und Sonne liefern bislang weniger als zwei Prozent der globalen Energie. Wäre es da sinnvoll, auf die Option Kernenergie zu verzichten?“
„Sogar die Proliferationsgefahr sei gebannt“, zitiert der Autor den Cheftechniker von Terrapower: „Der beste Platz für Plutonium ist ein Reaktorkern – niemand wird versuchen, es von dort zu stehlen.“
Und die Entsorgungsfrage?
Alles halb so wild. Von Havard-Professor Steven Pinker hat Bethge erfahren: „Gleichzeitig würde der hoch radioaktive Atommüll, den Deutschland künftig endlagern muss – etwa 10 000 Tonnen –, in einen großen Möbelmarkt passen.“
Zwar vermerkt der Autor, dass die Kritiker der neuen Nukleartechnik nicht verstummt sind, sie unverändert für „viel zu gefährlich“ halten. Aber wichtiger ist ihm offenbar die Frage: „Was ist mehr zu fürchten: die mit Sicherheit eintreffende globale Klimaerwärmung oder eine mögliche regionale Reaktorkatastrophe?“
Und dann ist da noch der Havard-Professor. Der weiß: „Was wir gewiss sagen können: Kernkraft ist die sicherste Energiequelle, die wir haben […].“ Schließlich seien bei den drei schlimmsten Unfällen in der Geschichte der Kernenergie (Harrisburg, Fukushima, Tschernobyl) nur bei letzterer direkte Strahlentote zu verzeichnen gewesen, nämlich 31. Zwar seien „eventuell gar Zehntausende“ später an Krebs gestorben, aber: „[…] Kohle tötet weit über eine halbe Million Menschen, jedes Jahr.“ Auch Wasserkraft und Solarenergie hätten ihre Tücken, da „viele Menschen bei Dammbrüchen sterben. Oder von Dächern stürzen, während sie Solarzellen installieren“. Und Pinker weiß auch: „Finnland wird mit dem weltweit ersten Endlager zeigen, dass die Lagerung in unterirdischen Stollen sicher sein kann.“
Pinker ist übrigens weder Physiker, noch Ingenieur, dafür allerdings einer der „weltweit bekanntesten Kognitionspsychologen; er forscht über Sprache, Bewusstsein und Wahrnehmung“, wie Bethge mitteilt.
Der erläutert in einem Begleitvideo zu seinem aktuellen Beitrag im Übrigen die Vorzüge der beiden Reaktortypen, an denen Terrapower arbeitet, mit der Eloquenz eines ausgebufften Werbeprofis, der auch für Neuralgisches eine Lösung parat hat: „Es gibt bei beiden Reaktoren große Probleme. Die laufen mit viel höheren Temperaturen als herkömmliche Reaktoren, und die Materialien, die in solchen Reaktoren verwendet werden, müssen das schlicht aushalten.“
Bethges Botschaft: „Ich glaube, es liegt eine Chance in der Kernenergie, die auch Deutschland nicht auf alle Zeit ungenutzt lassen sollte.“
Szenenwechsel.
Auf der Homepage des SPIEGEL findet sich folgende Information: „Für unser Projekt Globale Gesellschaft berichten ReporterInnen aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa über Menschen, soziale Brennpunkte und gesellschaftliche Entwicklungen. […] Das Projekt wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt, die redaktionellen Inhalte entstehen ohne Einfluss durch die Stiftung.“
Wie viel Geld da fließt, hat das Nachrichtenmagazin nicht mitgeteilt. Dazu schrieb der Journalist Oliver Neß in Ossietzky, dass „die Förderung aus Seattle durchaus im Millionenbereich liegen soll, heißt es im Verlag in der Hafencity hinter vorgehaltener Hand“.
Neß hatte in der Publikation MMM der Gewerkschaft Verdi dem SPIEGEL mit Blick auf den jüngsten Bethge-Beitrag, so fasste es die Süddeutsche Zeitung zusammen, „mehr oder weniger explizit“ vorgeworfen, „sich inhaltlich von Bill Gates kaufen zu lassen“. Die SZ zitierte Neß: „Der neue Spiegel-Sponsor scheint im Zuge der Klimadiskussion für sein schon ein Jahrzehnt eher dümpelndes Nuklear-Start-Up Terrapower Morgenluft zu wittern. Assistiert von dem altgedienten Spiegel-Autor.“
Das Nachrichtenmagazin hat die Vorwürfe scharf zurückgewiesen. Sie seien „absurd“. Die „kritische unabhängige Berichterstattung“ des Magazins werde durch die Kooperation mit der Stiftung „an keiner Stelle beeinträchtigt“.
Ist eigentlich schon Verschwörungstheoretiker, wem an dieser Stelle wieder mal die Devise des britischen Hosenbandordens einfällt – „Honi soit qui mal y pense“ („Ein Schelm, wer Arges dabei denkt“)?
P.S.: Das geplante Endlager auf Insel Olkiluoto vor der Westküste Finnlands – ein Tunnelsystem in 500 Meter Tiefe mit einer Länge von 60 Kilometern – sei „so konzipiert, dass es die nächsten 100.000 Jahre überdauern kann“, hieß es vonseiten des federführenden finnischen Unternehmens Posiva.
Wann wird man wohl beurteilen können, ob diese Ansage der Realität entspricht?
Schlagwörter: Atomkraft, Sarcasticus, Spiegel