Vorangestellt sei ein Geschehnis, das sich mir tief einprägte. Ich möchte es „Rückblick ohne Sonne“ nennen. – Das Jahr 1941. Kriegszeit. Jena in den Herbsttagen. Meine Mutter ging mit mir, einer Neunjährigen, in die Stadt zum Einkauf. Nach den Besorgungen stiegen wir in die Straßenbahn, die in südlicher Richtung fuhr und uns in die Zeiss-Siedlung (jetzt Ernst-Abbe-Siedlung) bringen sollte. Die Tür zum Fahrgastraum stand offen. Wir traten ein. Am gegenüberliegenden Ende stand eine alte Dame. Ganz allein. Sie stand, obgleich es freie Plätze gab. Am Mantel trug sie einen gelben Stern mit der Aufschrift JUDE in schwarzen Buchstaben. „Das ist Frau Professor Rosenthal“, sagte meine Mutter, die einige Jahre bei der Familie gearbeitet hatte. Sie nahm mich an der Hand und ging zu ihr, um sie zu begrüßen. Aber es kam nicht dazu. Als wir vor ihr standen, ich einen Knicks machte, wie es sich damals für junge Mädchen schickte, hob Frau Rosenthal abwehrend die Hände und sprach leise mit gepresster Stimme: „Gehen Sie, gehen Sie weg! Bitte gehen Sie!“ Mutter blieb einige Sekunden fassungslos. Ich verstand nichts. Dann begaben wir uns beide, nicht in der Lage, ein Wort miteinander wechseln zu können, auf den Heimweg. – Die Eltern besprachen sich. Vater, sozialdemokratisch orientiert, durchschaute sofort die Situation: „Hochachtung vor dieser Frau, die sich selbst in Lebensgefahr befindet und den Mut aufbrachte, euch zu schützen.“
Viel später erst erfuhr ich aus Erzählungen meiner Mutter einige Einzelheiten über ihre Zeit im Hause des Justizrates Prof. Dr. Dr. h. c. Eduard Rosenthal (1853–1926), Ehrenbürger der Stadt Jena. Zu Beginn der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatte sie dort eine Anstellung. – Frau Clara Rosenthal (1863–1941) wäre damals noch immer sehr schön gewesen; streng, aber gerecht. Ein großes Porträt von ihr als junge Frau habe im Musikzimmer in der Nähe des Flügels gehangen. Bei Gesellschaften, die in der großzügigen Villa stattfanden, sei sie eine glänzende Gastgeberin gewesen. An anderen Tagen wiederum von Schmerzen geplagt und niedergeschlagen. Das hätte wohl auch, so meinte meine Mutter, mit dem nie überwundenen Tod ihres einzigen Sohnes in Zusammenhang gestanden, der als Kriegsfreiwilliger 1914 gefallen war. Zu seinem Gedenken stünde im Garten ein Tempel.
Den „Herrn Professor“ verehrte sie. Ich glaube, sie hat für ihn ein wenig geschwärmt. Sie kenne ihn als bescheiden, liebenswürdig und verständnisvoll und ihre Meinung gipfelte in dem lapidaren Satz „Er war ein edler Mensch.“
Mit Erinnerungen und Auskünften beladen suche ich in Jena, Mälzerstraße 11 die Villa Rosenthal auf. Hoch oben gelegen, mit weiter Ausschau ins Saaletal und über die Stadt. Nunmehr von Neubauten bedrängt, die jedoch durch den gepflegten großen Garten auf gebührenden Abstand gehalten werden. Der stattliche Bau mit den Merkmalen der Gründerzeit und sorgfältig restauriert, gehört zum reichen musealen Angebot der Stadt und ist nun ein kultureller Begegnungsort im besten Sinne des Wortes. – In der ersten Etage ist eine Gedenkstätte für das Ehepaar Rosenthal eingerichtet. Beide sind jüdischer Abkunft, „ihr gesamter Nachlass ist verschollen“, die Grabstätten unbekannt. Ausgelöscht. – Mit dem Wissen darum trete ich ein. Und stehe erfreut, berührt und in die Vergangenheit zurückgeworfen vor dem großen Porträt Claras. Erst im Jahr 2014 kehrte es nach unermüdlichen Nachforschungen in das Haus zurück.
Welche Schönheit. Die feinen, ebenmäßigen Züge mit hellem Teint umrahmt dunkelgelocktes kurzes Haar. Ihre großen Augen zeigen einen Schimmer von Schwermut. Um den schmalen Hals legt sich eine mehrreihige Kette aus kleinen Perlen. Claras Robe möchte man fast barock nennen. Die gepufften Ärmel und der weitausgestellte Rock in Silbergrau (Taft?) sprechen dafür. In der rechten Hand hält sie einen grünen Zweig, und ihr zur Seite ruht ein bulliger Bernhardiner. Den Hintergrund füllen Wald, Wiesen und Wasser, die der Porträtierten den Vorrang einräumen. Das Gemälde entstand 1896 und ist von Raffael Schuster-Woldan signiert; die Ausmaße betragen 160 cm x 190 cm. –
Als Fanni Clara Elstaedter (der Name wird unterschiedlich geschrieben) als Frau Rosenthal nach Jena kam, bemerkte der Historiker Alexander Cartellieri: „[…] (sie) galt eine Zeitlang für die schönste Frau u. sicher erst recht für die eleganteste Frau Jenas.“
Ich schaue mich um. Fotos an den Wänden mit Einblicken in Claras Wohnräume. Eine Einladung an Elisabeth Förster-Nietzsche, die Schwester des Philosophen, in der energischen, leicht nach rechts geneigten Handschrift Claras: „Sehr verehrte gnädige Frau. Wollen Sie uns die große Freude machen, Sonnabend ¾ 5 Uhr vor Schöfflin’s Vortrag mit einigen Bekannten bei uns zu essen. Mit herzlichen Grüßen von uns Beiden Ihre ergebene C. Rosenthal, Jena 19.1.09“. – Der Ehrenbürgerbrief von 1921, fasst alles zusammen, was den Menschen Eduard Rosenthal ausmacht:
„Dem hochverehrten Staatsrechtslehrer, Menschenfreund, dem wohlwollenden und freigebigen Helfer der Armen und Bedrängten der hiesigen Stadt, dem staatsmännischen Bildner der Verfassung des geeinten Thüringer Landes, dem hervorragenden Bürger, der länger als ein Menschenalter der hiesigen Universität angehörte Herrn Geh. Justizrat Prof. Dr. jur. Eduard Rosenthal erteilen wir hiermit das Ehrenbürgerrecht der Stadt Jena.“
Biografien sind nachzulesen: Eduard R., gebürtiger Würzburger, habilitiert sich nach Studium und Promotion im Jahr 1880 in Jena. Fünf Jahre später erhält er eine außerordentliche Professur und heiratet Clara. – Im Auftrag des Physikers und Sozialpolitikers Ernst Abbe entscheidende Mitarbeit am Statut der Carl-Zeiss-Stiftung Jena. Es folgen die Berufung zum ordentlichen Professor für Rechtswissenschaft etc. und die Ehrenpromotion der alma mater jenensis zum Dr. rer. pol. h. c. – Zweimal wählt man ihn zum Prorektor – Als Landtagsabgeordneter legt er einen Verfassungsvorschlag vor, der nach geringer Überarbeitung 1921 als erste demokratische Verfassung des Landes Thüringen angenommen wird. – Sein gemeinnütziger Einsatz ist beispielhaft. Zu nennen wären neben anderen Aktivitäten: Die Mitbegründung der öffentlichen Lesehalle und der Vorsitz des Lesehallenvereins. E.R.: Die Einrichtung sei ein kultureller Ort „zur Einübung eines demokratischen Diskurses und eines daraus erwachsenden Toleranzverständnisses gegenüber Andersdenkenden.“ – Der Vorsitz des gegründeten Jenaer Kunstvereins. E.R.: „Zu wahrer Bildung gehört die Ausbildung aller Sinne, auch die des Kunstsinnes.“
Clara R. entstammt einer Kaufmanns- und Fabrikantenfamilie aus Karlsruhe. Ihr Leben in der Öffentlichkeit beginnt in Jena. Sie gilt nicht nur als schön und elegant, sie ist belesen, künstlerisch begabt, Musikliebhaberin, interessiert sich für wissenschaftliche Fragen, stellt hohe Anforderungen an sich selbst und ist nie mit sich zufrieden. Aus Briefen (1895): „Ich bin in fortwährender Tätigkeit, ich treibe eigentlich Alles, Musik und Kunstgewerbe, lese ernste Werke etc. Aber ich fühle mich nicht im Mindesten befriedigt.“ Und an anderer Stelle: „Was möchte ich nicht alles fertigbringen. Stets überragen meine Pläne meine Fähigkeiten.“ – Clara, die Interessierte und Belesene wird rasch zur geschätzten Gesprächspartnerin, der man nicht nur ihrer Schönheit wegen huldigt. In das weiträumige Haus zieht die Geselligkeit ein. Rosenthals verstehen es, Freundschaften zu begründen und zu pflegen. Daran nahm auch „die anmutige und hochgebildete Gattin Rosenthals teil, deren künstlerischer Geschmack auch ihrem Heim viel Anziehendes verlieh.“ – Der Bekannten- und Freundeskreis ist groß. Begegnung, Gespräch und Anregung bilden den kultivierten Rahmen. Man trifft sich mit Rosenthals Kollegen der Universität, den Verlegern Eugen Diederichs und Gustav Fischer, mit Nobelpreisträger Rudolf Eucken, Ernst Haeckel, Otto Schott. – Clara engagiert sich in der Gesellschaft der Kunstfreunde von Jena und Weimar. Am 14. Dezember 1905 kommt der Dichter Stefan George zu einer Lesung in die Villa Rosenthal.
Claras labiler Gesundheitszustand zwingt sie mehrfach zu Klinik- und Sanatorien-Aufenthalten. 1924 übereignen Rosenthals testamentarisch Haus und Garten der Stadt Jena; mit der Maßgabe des lebenslangen Wohnrechts für Clara. Am 25. Juni 1926 stirbt Eduard Rosenthal.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten beginnt Claras Leidensweg. Zunehmend ist sie Repressalien ausgesetzt. Ihr wird auferlegt, den jüdischen Namen Sara vor ihren Vornamen zu setzen. Eine „Sicherheitsanordnung“ greift nach ihrem Vermögen. Die Einkaufsmöglichkeiten werden eingeschränkt. Die Polizeiverordnung vom 1. September 1941 über die Kennzeichnung der Juden (RGBL. I) verpflichtet „einen gelben Judenstern sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstückes in Herznähe fest aufgenäht zu tragen.“ Das ist das Ende. Clara Rosenthal scheidet freiwillig am 11. November 1941 aus dem Leben.
Ich darf durch die Räume gehen. Da ist das Kinderzimmer mit dem wieder entdeckten Fries aus Rankenwerk, Tieren und Knaben, der an den Sohn erinnert. Der Herrensalon und seine kunstvolle Holztäfelung. Im Musikzimmer steht ein Flügel auf dem alten Podest. Und im Rokokozimmer sind die zierlichen Schmuckelemente in Gold und Weiß noch erhalten.
Im schönen Garten soll das Erlebte ausklingen, und ich verlasse das Haus. Vor den Stufen ist ein „Stolperstein“ eingelegt: „Hier wohnte Clara Fanny Rosenthal geb. Ellstätter geb. 1863 gedemütigt / entrechtet Flucht in den Tod 11.11.1941“
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