22. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2019

Wieder etwas Propädeutik

von Waldemar Landsberger

Nachdem sich im „Forum“ des Blättchens eine gesinnungsethische Debatte um das Thema „bürgerliche Parteien“ ausgerollt hatte (die gewiss zu befürchten war), will ich ein paar propädeutische Marginalien beisteuern. Zunächst einmal wurde das Bürgerliche mit „Begriffen wie Anstand, Rücksicht, Freiheit, Aufklärung et cetera. assoziiert“. Das ist eine essentialistische Interpretation des Begriffs, der sehr nach Biedermeier klingt – oder nach der Selbstdarstellung der deutschen Christdemokratie. Aber so anständig ist sie ja am Ende doch nicht, wie andere Beobachter aus den Jahrzehnten ihres Regierungshandelns wissen.
Hier bleibt anzumerken, dass das „Faschismus“-Verdikt der CSU und der CDU gegenüber der AfD zunächst parteitaktischem Kalkül entspringt, als Wertaussage, nicht als Tatsachenfeststellung zu vermerken ist. Die Christdemokraten haben den Sozialdemokraten stets vorgeworfen, sie hätten es zugelassen, dass links von ihnen die PDS fortbestehen beziehungsweise die Linkspartei sich etablieren konnte. Das will die Christdemokratie rechts von sich nach Möglichkeit verhindern. So geht es in erster Linie um eine Verunmöglichung der AfD aus Sicht der Christdemokraten – was ihnen offensichtlich nicht mehr gelingen wird. Das sagt aber nichts darüber aus, ob es – die Verstetigung der AfD im politischen Feld vorausgesetzt – am Ende nicht eine Mehrheit in der Christdemokratie geben wird, die sich dafür ausspricht, schließlich doch lieber mit der AfD zu kooperieren, als sich auch künftig unbürgerliche Verrenkungen in Koalitionen mit den Sozialdemokraten oder den Grünen zuzumuten. Die Interventionen christdemokratischer Politiker in Thüringen nach der Landtagswahl für eine Zusammenarbeit mit der AfD haben genau dies gezeigt, auch wenn sie angesichts der politisch-programmatischen Dominanz von Angela Merkel und Annegret Kramp-Karrenbauer der noch zu frühe Vogel waren.
Meine Interpretation der politischen Lage und der Parteien-Konstellation hat an die „Cleavage-Theorie“ erinnert. Das ist eine historisch arbeitende politikwissenschaftliche oder parteisoziologische Analyse-Hilfe, im Sinne von Max Weber ein „idealtypischer“ Theorieansatz. Hinsichtlich der Unterschiedlichkeit von Naturwissenschaften und Sozial- oder Gesellschaftswissenschaften (auf Englisch: Science versus Humanities) ist im Grunde unbestritten, dass es harte Gesetze, wie in den Naturwissenschaften, in den Humanities nicht gibt. In der DDR-Philosophie wurde das unter der Überschrift „statistische Gesetze“ diskutiert. Das meinte, dass sich in der Gesellschaft bestimmte Tendenzen mit einer gewissen statistischen Wahrscheinlichkeit durchsetzen, aber eben nicht mit einer gesetzmäßigen Naturnotwendigkeit.
Der „Idealtypus“ ist als ein zielgerichtet konstruierter Begriff zu verstehen, der Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit ordnet und erfasst, indem er wesentliche Aspekte der (sozialen) Realität heraushebt und zuweilen absichtlich überzeichnet. Die „Cleavage-Theorie“ (englisch cleavage = Kluft, Spaltung). bringt unterschiedliche Bruchlinien in der Geschichte des Parteiensystems in Ansatz. Hier sind „bürgerliche“ Parteien und „sozialistische“ an der Bruchlinie „Kapital – Arbeit“ angelagert. Das meint, bürgerliche Parteien sind alle die, die das Kapitalinteresse vertreten: also CDU/CSU, FDP und AfD, während an der Seite „Arbeit“ im Grunde nur die beiden „roten“ Parteien liegen. Die Grünen, die sich einst ebenfalls als eine im Kern linke Partei verstanden, sind am Cleavage „Moderne – Postmoderne“ beim Thema Klima angelagert und verhalten sich insofern am Cleavage „Kapital – Arbeit“ eher neutral – sie agieren folglich CDU-mäßig in Hessen und Baden-Württemberg „bürgerlich“ und in Berlin in der „rot-rot-grünen“ Konstellation vergleichsweise „sozial“, sind also sozialpolitisch real neutral.
Die Analyse der Wahlprogramme von CDU/CSU, FDP und AfD zur Bundestagswahl 2017 hatte gezeigt, dass die wirtschaftspolitischen Teile völlig übereinstimmten und gleichermaßen neoliberal waren. In diesem Sinne könnten sie – vom Cleavage „Kapital – Arbeit“ ausgehend – sofort gemeinsam regieren. Da am neuen Cleavage „Globalisierung – Nationalstaat“ CDU/CSU und FDP einerseits und AfD andererseits jedoch auf unterschiedlichen Seiten liegen, ist es eine Frage der politischen Konstellation und der politischen Auseinandersetzung, ob sie besser gemeinsam oder gegeneinander agieren. Das ändert jedoch nichts daran, dass es sich um eine Widersprüchlichkeit innerhalb des „bürgerlichen Lagers“ handelt, während sie aus der Sicht „Kapital – Arbeit“ auf derselben Seite stehen. In der Frage einer besseren Ausstattung und Ausrüstung der Bundeswehr beispielsweise ist die AfD jene Partei, die das CDU/CSU-Konzept der „Zwei Prozent“ am klarsten unterstützt.
Hier kommen wir auf das ebenfalls mit idealtypischen Gestalten arbeitende Konzept der „politischen Lager“, wie es der Politikwissenschaftler Karl Rohe entwickelt hatte: „Ein politisches Lager lebt in seinem Zusammenhalt im Unterschied zu einem Milieu stärker von der Abgrenzung gegen andere als von eigenen Gemeinsamkeiten und kann deshalb im Prinzip sogar sehr heterogene Milieus enthalten […]. Ein Milieu trägt sich u.U. aus sich heraus, ein Lager dagegen bedarf des Gegenüber. Ein politisches Lager kann nicht nur verschiedene Parteien, sondern auch unterschiedliche sozialmoralische Milieus umschließen.“ Insofern spricht die derzeitige politische Differenz nicht dagegen, dass Christdemokraten und AfD demselben „bürgerlichen Lager“ angehören.
Von hier aus erklärt sich beispielsweise auch das Wahlergebnis in der DDR 1990, weshalb die Bürgerbewegungen keine wirkliche Chance hatten. Wer unterstellt, die „Ossis“ hätten 1990 nur die Banane gewählt, unterschätzt den Faktor „politische Lager“. Nicht zufällig entstanden nach 1945 in allen Besatzungszonen Deutschlands die gleichen Partei-Formationen: die Sozialdemokraten, die Liberalen (unter unterschiedlichen Namen zunächst, dann im Westen als „Freie Demokraten“, im Osten als „Liberaldemokraten“), die Christdemokraten (mit Herkunft vom katholischen Zentrum, aber konfessionsneutral, letztlich an christlichen Werten orientiert) und die Kommunisten als zunächst deutschlandweit organisierte Partei. Diese Formationen entsprachen den in der deutschen Parteiengeschichte seit 1848 herausgebildeten politischen Lagern – unter der Voraussetzung des Verschwindens des ursprünglichen national-konservativen Lagers, das in die Naziherrschaft eingeflossen war. So blieben das liberale, das Zentrums-Lager, nun in Gestalt der Christdemokraten, und das sozialistische Lager, seit 1918 gespalten in Kommunisten und Sozialdemokraten, nach dem Kriege im Osten dominiert von den Kommunisten, im Westen nach Wahlniederlage der Kommunisten 1953 und Verbot 1956 dominiert von den Sozialdemokraten.
Nachdem dieses System nach 1968 durch die „postmodernen“ Grünen erweitert wurde, ist mit der AfD jetzt eine neue national-konservative Partei entstanden. Das passt allen anderen Parteien nicht, weil ein neuer Konkurrent am Trog der Parteienfinanzierung aufgetaucht ist. Das ändert aber nichts daran, dass der zum „bürgerlichen Lager“ gehört.