22. Jahrgang | Nummer 26 | 23. Dezember 2019

Slawische Brüder im Gespräch

von Klaus Joachim Herrmann

„Davon weiß ich nichts“, zeigte sich selbst der Sprecher des ukrainischen Präsidenten über das Gespräch seines Chefs mit dem Fernsehkanal Rossija 1 überrascht. „Ich habe mit denen keinerlei Interview organisiert“, versicherte Juli Mendel. Das führte der russische Journalist Pawel Sarubin Mitte Dezember mit Präsident Wolodymyr Selensky zu allem Überfluss auch noch für die Sendung „Moskau.Kreml.Putin“. Zuweilen sind es die kleinen Begebenheiten am Rande, die größere Vorgänge verblüffend offenbaren. Denn vor dem russisch-ukrainischen Gipfel unter französisch-deutscher Begleitung am 9. Dezember im Pariser Elysée-Palast wäre ein solcher Vorgang undenkbar erschienen, wenn nicht gar von Kiewer Ultranationalisten als Hochverrat eingestuft worden.
Prompt schob Maria Sacharowa, scharfzüngige Sprecherin des Außenamtes am Smolensker Platz in Moskau, die Forderung nach, der ukrainische Geheimdienst möge künftig bitte generell die Aussperrung russischer Journalisten unterlassen. Losung der vorherigen Führung unter Petro Poroschenko war stets: keinen Kontakt mit dem Aggressor. Doch nun konnte Iswestija-Reporter Alexej Lasurenko nach fünfjähriger Unterbrechung erstmals wieder direkt aus Kiew berichten. Auch Korrespondenten des im Westen gern geschmähten Fernsehkanals Russia Today hätten eine Einladung erhalten, teilte dessen Chefredakteurin Margarita Simonjan mit. Wenn dies die neue Kiewer Linie sei, frohlockte der sonst zumeist durch mürrische Kommentare auffallende russische Senator Alexej Puschkow, Vorsitzender der Kommissionen für Informations- und Außenpolitik des Föderationsrates, könne man es nur begrüßen.
Um eine gründlich veränderte Linie scheint es sich zu handeln. Denn im Gegensatz zu seinem unerbittlich-kämpferisch und trotz Leibesfülle gern im strammen Kampfanzug aufschreitenden Vorgänger bevorzugt Selensky Zivil und einen freundlichen verbalen Umgang. Durchaus unzufrieden mit der russischen Berichterstattung über sein Land, lud er Medienvertreter zum Ortstermin. Sie sollten sich „mit Händen, Füßen und eigenen Augen“ mit der Situation und eben dem, was wirklich vorgehe, vertraut machen. Die Medien hätten in den vergangenen Jahren zwar „vielfach richtig“, jedoch mit einer „vorwiegend negativen“ Tendenz berichtet, räumte die Moskauer Iswestija ein. Zudem dürfte sich das seit dem Maidan-Umsturz, der Übernahme der Krim durch Russland und dem blutigen Konflikt um den Umgang mit der mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung der Ostukraine gewachsene und geschürte Misstrauen als hartnäckig erweisen.
Der Zwang zur Entscheidung zwischen Russland oder der Europäischen Union hat die slawischen Brüder schmerzlich entzweit. Mögen sich Frankreich und Deutschland jetzt auch als Mittler gefallen – westliche Spitzenpolitiker haben den Konflikt doch kräftig gefördert. Buchstäblich anfeuernde Besuche auf dem Maidan gehörten auch zum deutschen Programm, namentlich der zwei Grünen-Frontfrauen Marieluise Beck und Rebecca Harms. Die US-amerikanische „Fuck the EU“-Vizestaatssekretärin Victoria Nuland verteilte auf dem Kampfplatz nicht nur Kekse, sondern die Macht. Denn Washington besetzte nach dem Umsturz den Posten des Premierministers mit seiner Marionette Arsenij Jazenjuk. Als durchaus realistisch gilt die strategische Überlegung, die USA hätten mit der Übernahme der Ukraine einer Annäherung von Europa und Russland geopolitisch den Riegel vorgeschoben.
Das Misstrauen zwischen Moskau und Kiew sitzt inzwischen tief. Davon zeugt eine Antwort Wladimir Putins auf die Forderung nach einer Übergabe der Kontrolle der ukrainischen Grenzen an von Kiew befehligte Streitkräfte. Auf einer Sitzung des Rates für Menschenrechte in der russischen Hauptstadt kritisierte er, dass die Ukraine „bis heute kein Gesetz über eine Amnestie angenommen hat“. Eben das sei zwar bereits 2015 vereinbart worden, „aber nichts tut sich“. Würde jedoch die Grenze durch die ukrainische Armee kontrolliert, warnte Putin nach seiner Rückkehr aus Paris, „stelle ich mir vor, was weiter passiert. Es wird ein Srebrenica“.
Da mag sich der Kremlchef an die Worte Julia Timoschenkos erinnert haben. In antirussischer Hysterie hatte die frühere Premierministerin 2014 in einem abgehörten und, nebenbei bemerkt, auch von RussiaToday veröffentlichten Telefonat gegen „die Russen“ gewettert: „Ich bin selbst bereit, eine Kalaschnikow in die Hand zu nehmen und dem Dreckskerl in den Kopf zu schießen”, sagte die Oppositionsführerin. Man müsse zu den Waffen greifen und die Russen „fertig machen, zusammen mit ihrem Anführer”. Ihre Empfehlung zum Umgang mit den acht Millionen Russen im Donbass lautete: Atombombe.
Die wollten eben nicht in den Westen ziehen, sondern im Osten nahe bei Russland bleiben. Dorther waren sie ja mit der stalinschen Grenzverschiebung nach dem Zweiten Weltkrieg gekommen und hatten ihre Sprache mitgebracht. Doch das 2012 verabschiedete Gesetz, wonach in Gebieten mit wenigstens zehn Prozent Muttersprachlern eine Sprache zur regionalen Amtssprache erhoben werden konnte, wurde nicht einmal 48 Stunden nach dem Triumph vom Maidan als erste Amtshandlung des ukrainischen Parlaments demonstrativ aufgehoben. Das wurde in der Ostukraine als Kriegserklärung verstanden. Die Formierung des Widerstands bis zur Ausrufung eigener „Volksrepubliken“ konnte als Selbstverteidigung, Moskauer Unterstützung konnte mit dem Schutz bedrohter Landsleute begründet werden. Dies umso mehr, als sie einer harten militärischen „Anti-Terror-Operation“ der neuen Macht in Kiew, Lebensmittel-, Renten- und anderen Blockaden ausgesetzt wurden.
Eine Verdächtigung des Kremls, die Ukraine würde sich eines verbrecherischen Massenmordes schuldig machen wollen, wenn sie nur die Gelegenheit dazu bekäme, hätte unter Poroschenko zweifellos zu schärfster Zurückweisung und einer weiteren Verschärfung der Beziehungen geführt. Sein Amtsnachfolger Selensky antwortete am nächsten Tag jedoch besonnen in einer Talkshow des Senders Kanal 1+1. Putin habe in den Gesprächen wohl zwei Mal auf Srebrenica verwiesen, es sei ihm jedoch erklärt worden: „Wir sind andere Menschen, völlig andere, freie, demokratische. Wir wissen, dass dort Ukrainer leben. Wir behandeln ukrainische Bürger mit Respekt, und es wird keinerlei Gemetzel geben.“ Er, Selensky, habe Putin darauf hingewiesen, dass für seine Regierung das Leben der Menschen am wichtigsten sei. „Wir haben den Dialog miteinander aufgenommen, wir können uns einigen“, resümierte der Ukrainer. „Das wird nicht schnell gehen, aber es wird geschehen.“
Nach einigem Zögern scheint sich Moskau auf eine solche Möglichkeit einstellen zu wollen. Das räumte Kremlsprecher Dmitri Peskow eine Woche nach dem Gipfel laut der offiziellen Agentur TASS ein: „Selensky möchte ehrlich diesen Konflikt lösen, was aber starken Willen erfordert, politische Autorität und Vorherrschaft in der politischen Arena der Ukraine.“
Putin hatte die Präsidentenwahl im Nachbarland und den beeindruckenden Sieg des Schauspielers mit der frischen Partei, die den Namen seiner erfolgreichen Fernsehserie „Diener des Volkes“ trägt, längere Zeit nur ungewohnt wortkarg begleitet. Da mag er sich misstrauisch zurückgehalten oder in dem Konflikt anscheinend längst eingerichtet haben.
Doch an hoffnungsvollen Zeichen des neuen Mannes an der ukrainischen Spitze hat es fortan nicht gefehlt. Schon auf seiner ersten Pressekonferenz noch am Wahlabend überraschte er mit Antworten auf Ukrainisch – und bei russisch gestellten Fragen auf Russisch. In dem Sprachenkrieg und bei antirussischer Scharfmacherei ultranationalistischer Kräfte, die sogar eigene Kampfeinheiten unterhalten, ist das alles andere als selbstverständlich. Nun sprach der ukrainische Präsident sogar mit Putin auf Russisch. Gefangene wurden ausgetauscht, Kiew holte von Moskau vor der Krim beschlagnahmte Schiffe und deren Besatzungen zurück, vereinbarte einen Waffenstillstand und manches andere. Die Wiederaufnahme von Gesprächen, was mancher als vielleicht einzigen Erfolg des Pariser Gipfels anerkennen wollte, könnte mit großen Kompromissen und noch größerer Geduld dereinst zurück zum Frieden führen.