22. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2019

Parkettplatz 23: Fontane als Theaterkritiker

von Reinhard Wengierek

Gefiel es ihm, klatschte er ungeniert Beifall. Mit schmallippigem Oberlehrergesicht kunstrichterliche Würde zu demonstrieren, das widerspräche seiner „freien Sinnlichkeit“, seinem „heiteren Geist“, so Thomas Mann über Theodor Fontane, den verehrten, kühn konservativen preußischen Freigeist, der auf sublime Art alten Adel wie neues Bürgertum repräsentierte. So einer war gefeit gegen Euphorien der Moden. Ohnehin war es noch nicht die Zeit, in den Gazetten um der Sensation (und Auflage) Willen im rasenden Takt Tops und Flops auf den Markt zu werfen und Stars steigen zu lassen, auf dass sie Tags darauf schon wieder fallen.
Das Neue, bloß als Neues, habe gar keine Berechtigung; es könne durch zurückliegend Bewährtes sehr wohl ersetzt werden, schrieb unser – wie er von sich selbst behauptete – mit „redlichem Realismus“ begabte Mann. Und schwor auf sein „leidlich feinfühliges“ Fingerspitzengefühl, mit dem er imstande sei, gut von schlecht, echt von unecht sicher zu unterscheiden.
Zugleich wusste Fontane natürlich um die Fragwürdigkeit solch fühlenden Verfahrens. Doch anderseits, dem Theater – also der Kunst überhaupt – ist mit Wissenschaft nur schwer beizukommen. So empfand sich der Rezensent oft eher als Angeklagter. „Da sitzt das Scheusal wieder“ – das, so sagt er, lese er nur allzu oft auf den Gesichtern, nachdem er sich, etwa einmal in der Woche und das zwei Jahrzehnte lang, niedergelassen hatte auf seinem „Armesünderbänkchen“, dem Parkettplatz Nummer 23 in Berlins Königlichem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt.
Als kritischer Berichterstatter der Vossischen Zeitung, dem führenden liberalen Blatt der Reichshauptstadt, schrieb er zwischen 1870 und 1890 rund 600 Urteile, deren Ausführlichkeit heutzutage jeden leitenden Redakteur die Hände überm Kopf zusammenschlagen ließe. Freilich, die Texte des „Nörglers und Querulanten“, wie Fontane sich selbst bespöttelte, die waren stets anschaulich, nie ins Belehrende abhebend, also im „unterhaltlichen“, diskret ironischen Plauderton.
Schauen wir auf die Saison im Königlichen anno 1870, die mit einem kräftigen Schuss begann – in den Ofen. Man gab den „Tell“, und der mit seinen immerhin schon 51 Jahren als Debütant im Gewerbe Antretende fand die Vorstellung „ziemlich langweilig“. So etwa blieb es das ganze erste halbe Jahr (kennen wir heutzutage auch in Berlin), was ein allzeit gültiges Bild gibt von der Leidensfähigkeit eines Theaterkritikers.
Erst am 10. Januar 71 detonierte endlich am Gendarmenmarkt ein Knaller – großer Aufriss im Vorfeld, doch dann ging auch dieser Schuss nach hinten los. Das Schauspiel „Der Gefangene von Metz“ des ruhmreichen Karl Gutzkow war ein „unerquickliches Machwerk von Grund aus“. Selten hörte man Theodor Fontane derart schimpfen wie über diesen die Geschichte klitternden Schinken, handelnd von nachreformatorischen Zeiten und verstiegenem Schmäh gegen Adel und Klerus.
Prompt ging beim Chefredakteur eine Beschwerde vom Dichter über den Verriss ein, der freilich dem skrupulösen Kritiker („lieber loben“) umso schwerer fiel, da er ansonsten den Autor schätzte. „Doch schlecht ist schlecht, und es muss gesagt werden.“
Dabei quälte es ihn geradezu körperlich, traf sein „ganz ausgebildeter Sinn für Tatsächlichkeiten“ (auf den er sich viel zugutehielt) auf Tempelkunst, hohles Pathos, Deklamation statt Spiel sowie auf Mangel an gesundem Menschenverstand – kurz: auf „großes Gelärm“.
„In dem Begreiflichen liegt auch immer das Begrenzte, während erst das Unbegreifliche uns mit dem Schauern des Ewigen erfasst“, erklärt er, Sophokles grüßend, knapp das Wesen der Kunst. Zugleich mag dieser Satz eine Begründung geben, warum er beispielsweise Kleists „Prinz von Homburg“ für vollendet hielt. Dafür bedürfe es, streng genommen, bloß zweierlei: Charakteristik und Ökonomie. Oder anders gesagt: Kenntnis des Lebens („Gefühlswahrheit“) sowie des Theaters („Kalkül“).
Zum Geheimnis des Dichtertums, zu Kleists „großartiger Unsentimentalität“, wird lakonisch bemerkt: „Er erschrak vor nichts, aber er suchte nicht diese Schrecknisse. Sie gaben sich ihm.“ Neben solch singulärer Größe rase, seit jeher schon, die Masse der Kleinen, die, „reden sie von ‚Idealen‘, nur sich selbst meinen, und während sie von Weltverbesserung sprechen, nur ihrer Eitelkeit frönen.“
Die Stücke dieser „ledernsten Kerle“ seien denn auch bevölkert von Menschen, die gar keine sind; in ihnen wucherten Handlungen, gespeist aus Willkür, Widerspruch und Konfusion. „Szenenaneinanderreihung ist keine Kunst; Unverständlichkeit und Langeweile allen Unglücks Anfang.“ – Die goldene Fontane-Formel für Stückeschreiber aller Zeiten.
Schließlich sei es Aufgabe des Theaters, uns zu erheben und zu erheitern. Das Drama müsse uns zu menschlich-herzlicher Teilnahme stimmen. Dabei solle das Neue besondere Berücksichtigung finden; wenn es denn diesen edlen Zwecken diene. Deshalb Fontanes gellender Ruf an die königliche Bühnenleitung, den wir hiermit allen Intendanten weiterleiten: „Das Echte ist immer jung, das Älteste das Neueste.“
An dieser Stelle ein Einschub von Thomas Mann, aus seinem Fontane-Essay von 1928:
„Er musste alt werden, um ganz er selbst zu werden. Wie es geborene Jünglinge gibt, die sich früh erfüllen, ohne sich selbst zu überleben, gibt es offenbar Naturen, denen das Greisenalter das einzig Gemäße ist, klassische Greise, sozusagen, berufen, die idealen Vorzüge dieser Lebensstufe als Milde, Güte, Gerechtigkeit, Humor und verschlagene Weisheit, kurz, jene höhere Widerkehr kindlicher Ungebundenheit und Unschuld, der Menschheit aufs vollkommenste vor Augen zu führen.“
In die Ära Fontane als Kritiker der Vossischen fielen die „nicht uninteressanten Jahre von der Aufrichtung des Reiches bis zum Sturze dessen, der es aufgerichtet“. Doch von dieser Zeit mit Bismarck sowie den Intendanten Hülsen und Hochberg, die – gleich den Chefs anderer Hoftheater in Deutschland – auch das Berlinische nicht eben auf den Parnass dirigierten, spiegelte sich nur wenig wider auf der königlichen Bühne, was Fontane bedauerte. Aber das Neue habe doch angeklopft, freilich ohne bei Königs vorgelassen zu werden: nämlich Ibsen und Hauptmann.
Der gealterte Meister sah Ende der 1880er Jahre „Die Wildente“, „Gespenster“ und „Vor Sonnenaufgang“ im Lessing Theater in Aufführungen des Vereins Freie Bühne. Und „Die Weber“ („ein Prachtstück; vorzüglich, epochemachend“) im September 1893 im Deutschen Theater. Im Schlesier bewunderte er den echten Dichter, „den einzig das Elementare, das Bild von Druck und Gegendruck reize“.
Am Werk des Norwegers faszinierte ihn dessen Griff ins volle Menschenleben, die kunstvolle Schlichtheit der Sprache, die konsequenteste Durchführung der Handlung – wie bei Hauptmann auch. Nur sei der, wie eben Ibsen, kein „von philosophisch-romantischen Marotten gelegentlich angekränkelter“, sondern ein „stilvoller“ Realist.
Die Klassiker-Aufführungen – „alles leblos, mechanisch zusammengeschoben“ –, so Fontane als 70-Jähriger, würden längst das Seitenstück zu den leeren Kirchen schaffen. In dieser Not sei der Realismus ins Dasein gesprungen. „Wenn es das Paradies nicht mehr sein konnte, so sollt‘ es dafür ein Garten des Lebens sein.“
Mit derart schönen, einfachen Bildern gibt Fontane ganze Lektionen im Seminar Ästhetik. Das kann man kaum erlernen. Deshalb genügten in seinem Metier, so der graue Herr mit dem widerspenstigen Schnauzer, eine gewisse literarische Bildung, eine gewisse künstlerische Generalveranlagung sowie sensible Fingerspitzen. Deshalb habe er nie ein „Theater-Habitué“ sein wollen, der die Bühne für die Welt nähme, vielmehr schwöre er aufs „Nichteingeweihtsein“, sehe in den gemeinhin mit Bedeutung beladenen Brettern bloß ein kleines Stückchen Welt. Und halte Erfahrung für besser als Studium.
Um einer gewissen Fontaneschen Frivolität die Krone aufzusetzen, fällt die Bemerkung, er könne immer geradesogut das Gegenteil sagen, was andererseits nach Weisheit klingt im Umgang mit Kunst, die letztlich immer mit Geheimnissen spielt. Deshalb sei es nie ganz leicht, zu kritisieren. „Und mitunter ist es schwer.“