22. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2019

Den Offenen Himmel schließen?

von Hubert Thielicke

Überraschung in Washington an einem schönen Augusttag 2017: Ein niedrig fliegender Jet drang in den seit 9/11 hoch gesicherten Luftraum über wichtigen Regierungsgebäuden ein – Weißes Haus, Capitol, Pentagon. Die Überraschung verwandelte sich in Verdacht, als Nachrichtenberichte enthüllten, dass es sich um ein russisches Militärflugzeug gehandelt hatte, das zudem noch Luftaufnahmen machte. Bald wurde jedoch klar: Die russische Tupolew TU-154 hatte die Erlaubnis der USA, Washington zu überfliegen, auf der Basis eines 1992 abgeschlossenen Vertrages. So war jedenfalls Anfang 2019 in der US-amerikanischen Zeitschrift Arms Control Today zu lesen.
Es handelt sich um den in der Öffentlichkeit bisher wenig bekannten Vertrag über den Offenen Himmel (Open Skies Treaty). Angesichts jüngster Drohungen der Trump-Administration, den Vertrag zu verlassen, trat er nun ins internationale Rampenlicht. 2002 in Kraft getreten, gehören ihm derzeit 34 Länder der euro-atlantischen Region an; Kirgistan ist 35. Unterzeichnerstaat, hat jedoch noch nicht ratifiziert. Ziel des Vertrages ist die Sammlung von Daten über Streitkräfte und militärische Aktivitäten. Damit erhöht er die gegenseitige Transparenz und stärkt Vertrauen und Sicherheit.
Auch Rüstungskontrollabkommen kann die so geschaffene Transparenz nützen. Wie eine Studie des UN-Instituts für Abrüstungsforschung UNIDIR 2004 feststellte, ist der Open-Skies-Vertrag „das erste Abkommen, das die veränderten politischen Bedingungen in Europa widerspiegelt. Es verleiht der Idee einer neuen kooperativen Perzeption von Sicherheit und Stabilität in Europa reale Bedeutung.“
Die Wirkung des Vertragsregimes erstreckt sich auf die Hoheitsgebiete der Teilnehmerstaaten, den Raum von Vancouver bis Wladiwostok. Jeder Vertragspartner hat das Recht, jährlich eine festgelegte Anzahl („Quote“) kurzfristig angekündigter Beobachtungsflüge im Luftraum anderer Vertragsstaaten durchzuführen und ist verpflichtet, solche Flüge über seinem Hoheitsgebiet zuzulassen. Eingesetzt werden Sensoren für Foto-, Radar- und Infrarotaufnahmen, in den letzten Jahren auch immer mehr digitale Sensoren. Alle Vertragsstaaten erhalten Kopien der gesammelten Daten. Zuständig für die Umsetzung des Abkommens ist die in Wien basierte Beratungskommission (Open Skies Consultative Commission – OSCC), der Vertreter der Vertragsstaaten angehören. In Abständen von jeweils fünf Jahren finden Konferenzen zur Überprüfung der Wirkungsweise des Vertrages statt.
Die Idee des „Offenen Himmels” ist durchaus nicht neu. Bereits 1955 hatte US-Präsident Eisenhower vorgeschlagen, dass die USA und die Sowjetunion gegenseitige Beobachtungsflüge über ihren Territorien zulassen. Moskau lehnte das damals als „Kontrolle ohne Abrüstung“ und damit Spionage ab. Doch die Zeiten änderten sich. Nachdem der damalige US-Präsident George H. W. Bush im Mai 1989 Eisenhowers Idee aufgegriffen hatte, starteten Verhandlungen zwischen NATO und Warschauer Vertrag im Februar 1990. Die Lage war nun eine andere: Zwischen den USA und der UdSSR hatte sich ein relatives strategisches Gleichgewicht herausgebildet, ein Geflecht von vertrauensbildenden und Rüstungskontrollmaßnahmen entstand, der Kalte Krieg ging seinem Ende zu. Auf der technischen Seite hatte seit einigen Jahrzehnten die Fernbeobachtung der Erde mittels Satelliten wesentlich zu Transparenz und Rüstungskontrolle beigetragen.
Nun wurde berichtet, dass Präsident Trump intern bereits ein Dokument über den Austritt unterzeichnet hätte. Schon der ehemalige Sicherheitsberater John Bolton soll darauf gedrungen haben, auch dieses Rüstungskontrollabkommen zu liquidieren. Demgegenüber hatte der damalige Pentagonchef James Mattis erklärt, die Vereinbarung sei im „besten Interesse“ der USA. Von der BBC zitierte Statistiken scheinen das zu belegen. Danach gab es bisher dreimal so viele jährliche US-Flüge über Russland als russische über den USA: Zwischen 2002 und 2016 wurden 196 US-Flüge verzeichnet, aber nur 71 russische. In den letzten Jahren flog Russland pro Jahr vier bis zehn Missionen über den USA, während es bei Letzteren 14 bis 16 über Russland waren.
Gegner des Vertrages in den USA verweisen auf angebliches Fehlverhalten Moskaus, das Beschränkungen für Beobachtungsflüge über der Exklave Kaliningrad sowie Tschetschenien, Abchasien und Süd-Ossetien festgelegt hätte. Allerdings führten auch die USA Begrenzungen hinsichtlich Teilen von Alaska und Hawaii ein. Nach Meinung von US-Kritikern könnte zudem Russland mithilfe digitaler Sensoren mehr Informationen als nötig sammeln; zudem sei nicht auszuschließen, dass russische Transitflüge nach Deutschland für die Beobachtung von US-Truppen in Polen missbraucht würden. Allerdings schreibt der Vertrag vor, dass bei derartigen Flügen die Kameras abzudecken sind. Alles eigentlich Fragen, die – guten Willen vorausgesetzt – auf diplomatischem Wege lösbar sind.
Den Unwillen Washingtons zog sich nun auch Deutschland zu, das plant, einen neuen Infrarot-Sensor 2020 über den USA zu testen. Das könne laut Washington doch Russland veranlassen, ähnliches zu tun, zumal es bereits 2017 einen digitalen elektro-optischen Sensor eingeführt habe, was ebenfalls nicht nach dem Geschmack von Pentagon und US-Geheimdiensten war.
Bei allem Disput über angebliche Vertragsverletzungen darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das Abkommen allen Seiten Vorteile bringt. Es wäre aber auch nicht das erste Rüstungskontrollabkommen, das von der Trump-Administration unter Verweis auf angebliche Vertragsverletzungen verlassen wird. Vor kurzem kündigte sie den INF-Vertrag, und bisher ist nicht auszuschließen, dass das auch mit dem New-START-Vertrag geschehen könnte, der – falls nicht verlängert – 2021 ausläuft.
Bei den Verbündeten stößt das Vorhaben der Trump-Administration – im Unterschied zum INF-Vertrag – keineswegs auf Unterstützung. Im Gegenteil, hinter den Kulissen scheint eine heftige Auseinandersetzung im Gange zu sein. Wie Joe Gould und Aaron Mehta in der US-amerikanischen Zeitschrift Defense News berichteten, hätten US-Vertreter in Brüssel Mitte November erstmals darüber informiert, dass ernsthaft über den Austritt nachgedacht werde. Das wäre für die Verbündeten eine „kalte Dusche” gewesen. Zu einer Einigung kam es nicht. Mit einer Entscheidung werde nicht vor Januar gerechnet. Inzwischen hätten die USA die Verbündeten auf diplomatischem Wege um ihre Meinung gebeten. Die Absicht der USA sei auf „ungewöhnlich starken und koordinierten Druck seitens der europäischen Alliierten auf Administration und Kongress in- und außerhalb der NATO gestoßen, im Vertrag zu bleiben“, berichtete Defense News.
Das Argument der Verbündeten: Der Vertrag sei ein wertvoller Kanal für Transparenz und Dialog zwischen Russland und den USA. Mehrere nordische Länder hätten sich gemeinsam in Washington für den Vertrag eingesetzt, wie auch Deutschland, Großbritannien und Frankreich in einer gemeinsamen Demarche. In einem Brief an seinen US-Kollegen brachte auch der schwedische Verteidigungsminister seine „tiefe Sorge“ zum Ausdruck. Wie aus dem Auswärtigen Amt verlautete, hätte sich Minister Maas in einem Brief an seinen US-Amtskollegen für die Erhaltung von „Open Skies“ eingesetzt. Denn das sei „einer der letzten funktionierenden Mechanismen zur Vertrauensbildung zwischen Europa und Russland“.
US-Vertreter argumentieren zwar, dass doch eigentlich Satellitenbeobachtung völlig ausreichend wäre, der Vertrag also eigentlich nicht nötig sei. Andere Staaten sehen hier aber vor allem zwei Probleme: Erstens bezweifeln sie die Bereitschaft der USA und anderer Satelliten besitzender Staaten, alle relevanten Informationen zu teilen. Zweitens sind Flugzeuge flexibel und schnell einsetzbar, können zudem unter einer Wolkendecke fliegen. Für Deutschland gibt es dazu noch ein besonderes Problem: Mitte des Jahres erhielt die Bundeswehr die neue Beobachtungsplattform Airbus A-319 „Offener Himmel“, die ab Ende 2020 eingesetzt werden soll. Wie aus Berlin verlautete, sei sie „ein deutliches Signal zur Stärkung der Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in schwierigen sicherheitspolitischen Zeiten“. Die Austrittsambitionen Washingtons stehen dem wohl entgegen.
Aber auch in der US-Hauptstadt läuft die Auseinandersetzung. Im Oktober kritisierte Eliot Engel, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Repräsentantenhauses, in einem Brief an Trumps Nationalen Sicherheitsberater Robert O´Brien, dass ein Austritt die NATO spalten könnte. Trotz aller Umsetzungsprobleme sei der Vertrag im Interesse der USA. Wenig später legte der Demokrat Jimmy Panetta im Repräsentantenhaus einen parteiübergreifenden Gesetzentwurf vor, der die Administration auffordert zu bestätigen, dass der bestehende Vertrag im besten Interesse der nationalen Sicherheit der USA sei. Die vom Repräsentantenhaus verabschiedete Version des 2020 National Defense Authorization Act sieht jedenfalls die Unterstützung des Vertrages und ein Verbot des Austritts vor, es sei denn, die Administration kann belegen, dass Russland ihn gebrochen habe oder dass ein Austritt im besten Interesse der USA sei und dass andere Vertragsparteien konsultiert wurden. Auch in Anhörungen des Senats sprachen sich mehrere Senatoren, sowohl Demokraten als auch Republikaner, für den Vertrag aus. Dagegen steht der Gesetzentwurf der republikanischen Senatoren Tom Cotton und Ted Cruz, der den Vertragsaustritt fordert. Angesichts dieser Lage erklärte Wladimir Jermakow, Leiter der Abteilung für Rüstungskontrolle des russischen Außenministeriums, dass ein Austritt der USA ein schwerer Schlag gegen die globale Sicherheit wäre. Moskau habe jedoch Gegenmaßnahmen parat.