22. Jahrgang | Nummer 24 | 25. November 2019

Sedantag

von Bernhard Romeike

Der „Sedantag“ war ein Ersatzfeiertag nach der Herstellung der deutschen Vereinigung von 1871. Gefeiert wurde der Sieg über den altbösen französischen Feind: Kaiser Napoleon III. hatte am 2. September 1870 bei Sedan nach verlorener Schlacht kapituliert. Die deutsch-nationalen Kreise aus allen Landesteilen wollten einen gemeinsamen Feiertag, um das neugeschaffene Reich zu feiern. Den Tag der Kaiserproklamation in Versailles am 18. Januar 1871 als zentralen Feiertag lehnte Kaiser Wilhelm I. ab, weil an diesem Tage 1701 sich Friedrich I. zum ersten König Preußens gekrönt hatte, und Wilhelm I. war die preußische Königswürde wichtiger als der Kaisertitel. Auch den Vorschlag, den Tag des Friedensschlusses mit Frankreich am 10. Mai 1871 als Feiertag zu begehen, verwarf der Kaiser. Am 2. September 1873 wurde in Berlin die kanonenverzierte Siegessäule mit militärischem Pomp eingeweiht.
So wurde der Sedantag zum inoffiziellen Feiertag der deutschen Vereinigung. An Schulen und Universitäten fanden Festveranstaltungen statt, es wurden Kriegerdenkmale in Städten und Dörfern eingeweiht und alljährlich mit Kranzniederlegungen bedacht sowie Militäraufmärsche veranstaltet. Am 2. September wurden die Glocken geläutet, Lobreden gehalten und Dankgottesdienste sowie Aufmärsche von Veteranen und Offizieren abgehalten, die Straßen geschmückt und Jubelfeste veranstaltet.
Im Unterschied zur DDR, die einen richtigen Gründungsakt am 7. Oktober 1949 hatte, fand die BRD nicht zu einem Gründungstag: am 23. Mai 1949 wurde das „Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland“ verkündet, am 14. August 1949 fanden die Wahlen zum ersten westzonalen Bundestag statt, am 7. September konstituierte sich dieser in Bonn. Welcher Tag der wichtigere sein sollte, blieb ungeklärt. Da eröffnete der Aufstand des 17. Juni 1953 eine neue Möglichkeit: Dieser Tag – der ja recht eigentlich ein Vorgang in der DDR, nicht in der BRD war – wurde fortan, von 1954 bis 1990 im Westen als „Tag der deutschen Einheit“ begangen. Nachdem am 3. Oktober 1990 die neue deutsche Einheit vollzogen worden war, ist nun dies der neue offizielle Staatsfeiertag.
Gleichwohl konnten wir dieser Tage den 9. November wieder als den scheinbar eigentlichen Feiertag erleben, als „Tag des Mauerfalls“. Zwar wurde nebenbei auch noch über die Nazipogrome vom 9. November 1938 geredet, doch dass am 9. November 1918 in Berlin die Novemberrevolution begonnen hatte, der Kaiser gestürzt und die Republik ausgerufen wurde, sowie am 9. November 1923 in München ein Putschversuch Adolf Hitlers und des Weltkriegsgenerals Erich Ludendorff scheiterte, wurde in den Hintergrund gedrängt. Es hätte ja das Gedenken an den „größten Glücksmoment“ in der deutschen Geschichte seit der Schlacht im Teutoburger Wald beeinträchtigen können.
Genau betrachtet scheint dieser 9. November als „Tag des Mauerfalls“ inzwischen zum zentralen nationalen Gedenktag, zum Merkzeichen der zweiten deutschen Einheit, zum neuen Sedantag geworden zu sein. Beide haben gemeinsam, dass der Sieg über einen Feind begangen wird, damals den französischen „Erbfeind“, heute den „Kommunismus“, der wiederum als sowjetisches Implantat, nicht als Hausgeselle der deutschen Geschichte dargestellt wird. Wie damals wurden die Ereignisse des 9. November 1989 in allen Städten und Dörfern erinnert, Feierstunden angesetzt und Veteranen aufgeboten. Je länger die Sache selber her ist, desto größer wird die Zahl der einstigen Widerstandskämpfer. Schülerinnen und Schüler waren aufgerufen, Geschichten aus dem Familien- und Freundeskreis über „Revolution und Mauerfall“ zu sammeln und aufzuschreiben, die dann pünktlich zum 9. November öffentlich präsentiert wurden. Einen ersten Preis im „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“ erhielt ein Schüler des Potsdamer Einstein-Gymnasiums für seine Arbeit über die Gruppenflucht einer ganzen Schulklasse der Potsdamer Einstein-Schule 1950 in den Westen.
Die Medien ließen sich nicht lumpen und wirkten wie zentral gesteuert, obwohl sie doch freiheitlich-demokratisch selbstbestimmt seien: ein Kriminalfilm stellte den „Bereich Kommerzielle Koordinierung“, der ein Spezialbereich des DDR-Außenhandels war, um entgegen den Embargo-Maßnahmen des Westens Technologie und Devisen zu beschaffen, als Truppe von lüsternen Vergewaltigern und Mördern dar. In einem anderen Film betätigte sich ein steinalter ehemaliger Richter, der der Filmhandlung nach das letzte Todesurteil in der DDR gesprochen hatte, auch im hohen Alter als Mordbube und Fremdenfeind. Der Reigen wurde abgerundet mit überalterten Stasi-Spitzeln.
Der militärische Teil wurde nachgeschoben. Da am 12. November 1955 die Bundeswehr gegründet wurde, forderte die Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer mehr Bundeswehr in der Öffentlichkeit in Gestalt von Rekrutengelöbnissen. Das zentrale fand vor dem Reichstag statt, es war gut abgeschirmt, damit linke Störer nicht zum Zuge kommen konnten.
Ein anderer Militärteil wurde unterdessen in Litauen absolviert. Seit Anfang November lief eine zweiwöchige Militärübung mit etwa 4000 Soldaten aus elf NATO-Ländern, darunter auch Einheiten der Bundeswehr. Im Zuge des „verstärkten Schutzes der NATO-Ostflanke“ hieß es, führt die Bundeswehr in Litauen ein multinationales Bataillon. Die Kennung des Manövers hieß „Eiserner Wolf“. Das war übrigens der Name eines faschistischen Kampfbundes, der 1927 in Litauen unter der damaligen autoritären Regierung gegründet wurde. Während des Zweiten Weltkrieges beteiligten sich viele seiner Mitglieder als Kollaborateure der deutschen Einsatzgruppen an der Ermordung des größten Teils der litauischen Juden – die erfolgte noch vor „Auschwitz“ weitestgehend durch Erschießen. Dass die Ministerin oder die Bundeswehrführung an der Benennung des Manövers Anstoß genommen hätten, wurde nicht bekannt. Wäre aber hinter dem Gejubel der Sedanfeiern 2019 auch nicht weiter aufgefallen.