22. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2019

Ermüdete Utopien

von Ingeborg Ruthe

Wieder reden die Bilder. Noch immer, nach so vielen Jahren. Weltbildhaft und bedeutungsschwer. Voller Anspielungen, Zitate, Symbole, Metaphern aus der griechischen oder biblischen Mythologie. Die besten Maler der DDR entzogen sich trickreich, listig, elegant dem Leitsystem und Dogma Sozialistischer Realismus. Das war damals, vom Oktober 1987 bis zum April 1988 im Dresdner Albertinum, auf der X. Kunstausstellung der DDR.
Seit Nachkriegszeiten gab es alle fünf Jahre die Leistungsschau der Kunst aus der DDR, das ostdeutsche Pendant zur westdeutschen Weltkunstschau Documenta in Kassel. Das gewaltige Aufgebot der Bilder, Plastiken, Skulpturen, der Grafik, Fotografie und Szenografie, des Kunsthandwerks und der Formgestaltung versammelte, was von der großen Vision von Freiheit, Demokratie, Kreativität übrig geblieben war, das, was eigentlich möglich gewesen wäre. Diese zehnte „Leistungsschau“ im Albertinum sollte die letzte sein im schon bröckelnden Staat, dem bald die Jugend, darunter auch Künstler, in Scharen weglaufen würde.
Was die Städtische Galerie Dresden jetzt als Extrakt von damals rekonstruiert, ist keine Nostalgie. Es ist ein Akt der Erinnerung, der kulturellen Vergewisserung, auch der malerischen Analyse einer Situation. Anderthalb Jahre, bevor die Mauer fiel, pilgerten über eine Million DDR-Bürger nach Dresden, ins Albertinum, um eben diese Bilder zu sehen. Die Leute wurden dazu keineswegs gezwungen. Sie kamen freiwillig, in Familie, als Brigade oder Arbeitskollektiv. Und manche lieber einzeln.
Die Bildkunst hatte in der DDR eine kuriose, die Werke und deren Macher fast überfordernde Bedeutung im Land der vielen hohlen Phrasen, der Lügen und der Sprachlosigkeit. Maler setzten oft auf die Macht der Metaphern für ihre Zeit-und Staatskritik, für das Ewig-Typisch-Menschliche, von Träumen und Ängsten, von dem, was die Welt im Innersten zusammenhält und von dem, was die Welt zerstört, weil die Menschen und die Mächtigen einfach nicht dazulernen.
In der DDR gab es ein gewisses unterschwelliges Selbstverständnis über die Rolle der Bildenden Kunst. Sie hatte der Aufklärung und dem Guten zu dienen. Und die Kunst ließ sich auch gerne in Dienst nehmen, als Dialog-Vehikel, als Ventil, wenn man so will. Es gab seit Jahrzehnten so ein Verständnis, das gerade die Malerei – zumeist verschlüsselt -thematisierte, was in den parteichinesischen DDR-Verlautbarungs-Medien tabu war, weil der vormundschaftliche Staat und die allmächtige Partei es nicht zuließen. Die Maler beherrschten meisterlich die Kunst des „Anderssagens“. Und das Publikum lernte, gut zu lesen.
34 Gemälde sind nun im Dresdner Stadtmuseum noch einmal versammelt, geliehen aus Museen, Sammlungen, aus privaten Kollektionen. Galerie-Direktor Gisbert Porstmann sagt, viele der Bilder hätten „Eingang in ein imaginäres Bildgedächtnis gefunden“, seien „mit den Gefühlen von Heimat, Verlust und Zugehörigkeit verbunden“.
Die meisten der Bilder waren seit dem Mauerfall kaum oder nie mehr zu sehen. „Das aber“, so erklärt es der Dresdner Museumsmann, „erlebten viele Leute aus der ehemaligen DDR als großes Manko. Als Ignoranz, auch Herabsetzung vor allem der figürlichen, gegenständlichen Malerei.“ Erwartet hatten die vielen Künstler in Ostdeutschland Akzeptanz und Einordnung ihrer Werke in die deutsche Kunstgeschichte.
Gerade in Dresden, ebenso in Leipzig, entluden sich beim Kunst-Publikum darob Enttäuschung, Ärger, ja Wut. Im vergangenen Jahr holten die Staaüichen Kunstsammlungen des Freistaates endlich die Bilder der wichtigsten Dresdner Meister nach 1945 bis 1989 aus dem Depot.
Dieser Bildextrakt der X. Kunstausstellung liest sich heute genauso wie damals. Ich sehe wieder das Emotionale, das Enttäuschte, Resignierende. Das Melancholische und Dystopische. Manche Motive sind trotzig, gar provozierend. Wie die expressionistische Frau mit der gleichsam brennenden Haut vorm Fernseher, mit der schwarzen Katze, die den Betrachter unverwandt anstarrt. Derart mysteriös, dass es beklemmend wirkt. Was der damals junge Berliner Trak Wendisch da so obszön aussehen lässt, war – es war so kühn wie leichtsinnig – hochpolitisch gemeint. Er stellte die klaustrophobische Enge des Landes und die ideologische Onanie dar, auch die Einsamkeit vieler Andersdenkender, di 1987/88 noch nicht auf den Straße: demonstrierten, aber schließlich an 9. November 1989 die Mauer zum Einsturz brachten.
Wendisch, Schüler von Bernhard Heisig und Meisterschüler Gerhard Kettners, sagt heute, es hätte durch aus passieren können, dass das vor einer Jury ausgewählte Bild noch in der Nacht vorm Besuch der ZK-Delegation mit dem schon schwerkranken Honecker abgehängt worden wäre. Ihm war es schon 1982 so ergangen, mit einer Grafikserie über durch den Mauerbau abgebrochene Berliner Brücken.
Nur wenige hatten damals schon seinen „Seiltänzer“ von 1984 zu sehen bekommen, jenes Bild, das seit dem 3. Oktober 2019 in der Galerie von Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, hängt. Ein Seiltänzer mit Ketzerhut über einem Abgrund. Gleichnis für das, was dann kam – der Balanceakt eines ganzen Volkes, hinüber in ein unbekanntes, teils erträumtes, teils gefürchtetes System, die Freiheit und den Kapitalismus.
Bekannt war, dass schon im Jahr 1982, in der neunten Kunstausstellung der DDR, Werke aussortiert worden waren. In der Nacht vor dem Rundgang der „Zensoren“ wurde damals Sighard Gilles „Die Gesellschaft und ihr Wächter“ – eine böse Anspielung auf die Stasi – entfernt. Das Werk bekam nie ein DDR-Bürger zu sehen. Der Sammler Peter Ludwig aus Aachen hat es noch in besagter Nacht gekauft und anderntags in sein Museum nach Oberhausen bringen lassen.
Aber Wendischs nackte Frau mit schwarzer Katze ging 1987 nicht diesen Weg. Der Aufreger blieb fünf Jahre später in der X. Kunstausstellung unbeanstandet hängen. War der vormundschaftliche Staat toleranter geworden? Oder krachte es längst im Gebälk? Und vermutlich hatten die Kuratoren die misstrauischen Genossen nur geschickt vor harmlosere Werke geführt. Noch bevor interessierte Sammler aus dem Westen zugreifen konnten, kaufte das Zentrum für Kunstausstellungen Wendischs Katzenfrau an. Heute gehört es – über den Zwischenbesitzer Ifa-Galerie Stuttgart – dem Brandenburgischen Landesmuseum. Streitobjekt war das Motiv damals dennoch. Angeblich „empörte Leser“ beschwerten sich nach der Eröffnung der X. Kunstausstellung in Tageszeitungen über die „unsozialistischen Bilder“. Die peinliche „Debatte“ nahm derart lächerliche Formen an, dass der Kulturminister für Kunst, Dietmar Keller, sich genötigt sah, in der Gewerkschaftszeitung Tribüne eine energische Verteidigung der Künstler und ihrer Bilder zu veröffentlichen. Zwar kamen darin nicht die Begriffe Glasnost und Perstroikja vor, aber zu lesen war davon zwischen den Zeilen.
Auch an Clemens Gröszers „Diabolospieler“, einem Selbstbildnis des Berliner Malers vor brutalistischen Mauerblöcken, stießen sich einige Möchtegern-Zensoren, die aber nicht zum Zuge kamen. Auch Harald Metzkes vielsagender „Kulissensprung“ wurde beargwöhnt. Und vor allem das publikumsmagnetische „A.P., geboren 1949“ des Leipzigers Wolfgang Peuker. Er hatte seine melancholisch schwarz gekleidete junge Frau vorm Brandenburger Tor gemalt, ernst blickend vor dem deutschen Wahrzeichen, von Ostseite her systemerhaltend verrammelt, vermauert, waffenstarrend bewacht.
Bilder wie die genannten boten nicht nur exzellente Malerei, sie waren dem Publikum auch Projektionsbild eigener Frustrationen und Sehnsüchte. Und allen Widerständen ängstlicher oder verbohrter Kunstfunktionare zum Trotz.
Manche Motive interpretieren wir heute anders. Ist ja eine Menge passiert, seit wir sie vor 32 Jahren so eng zusammen sahen. Die Welt hat sich verändert, die politische, die gesellschaftliche Landkarte. Alles ist anders. Der Kalte Krieg ist Geschichte. Aber wir haben global neue Krisen, schreckliche Kriege, Terror, Gewaltakte, Katastrophen.
Jürgen Wenzels „Schlachthaus-Serie“ von 1984, die der geschundenen Kreatur und Natur schlechthin galt, hat nichts eingebüßt von ihrer Botschaft. Vom expressiv-abstrakten Bild „Kaspar, Abwicklung eines Porträts“ lässt sich Gleiches sagen. Und Gerhard Schwarz’ „Bauwagen“, das schwermütige Porträt eines Arbeiters auf Montage, ist ein sperriger Antiheld der herrschenden Arbeiterklasse. Diagnosen des Systemverfalls in den späten Achtzigerjahren finden sich in dieser Rekonstruktion der denkwürdigen letzten DDR-Kunstschau. Doris Ziegler hat in „Selbst mit Sohn“, 1987, im Stile der Neuen Sachlichkeit zwei nackte Figuren im Atelier gemalt: angreifbar, verletzlich, das Ambiente karg. Künstlersein in einer geschlossenen Gesellschaft. Angela Hampel befragte mit „Paarungen“ Konflikte zwischen Mann und Frau im Sozialismus, Identitätssuche kollidiert mit dem Versuch, Entfremdung zu überwinden. Und Neo Rauch, heute einer der berühmtesten Maler aus Deutschland, setzte 1987 für die DDR-Kunstschau im expressiven Stil ein dystopisches Motiv auf die Leinwand, für das er mit Sonnenbrille malte: Ein Anblick der Enge, dieser Mann auf einem Metallbett, starr, hoffnungslos, umgeben von bleierner Zeit; im Sessel eine wie verzweifelt zusammengekauerte weibliche Gestalt.
Lukullische Bilder gab es damals nicht auf der X. Kunstausstellung. Wir begegnen nun wieder den Metaphern einer zerbrochenen Gesellschaftsvision und auf Utopieermüdung – den abgestürzten Ikarus, den aus dem brennenden Welttheater rennenden Prometheus, wie Wolfgang Mattheuer ihn für die letzte DDR-Kunstschau malte. Und auf den erschöpften Sisyphos. Alles Stellvertretergestalten zwischen Pflichterfüllung und Ketzerei. Honeckers Kultur-Versprechen der „Weite und Vielfalt“ wurde im Mauerland bis zuletzt als spießbürgerliches, demagogisches Korsett erlebt.
Das war auch Hauptthema auf dem Künstler-Verbands-Kongress zum Finale der letzten Kunstausstellung der DDR. Der endete im Frühjahr 1988 mit einer Verbal-Revolte im Berliner Palast der Republik, im Saal der Volkskammer. Es rumorte mächtig in der DDR-Künstlerschaft. Die Mutigsten gingen ans Mikrofon: Der Maler Trak Wendisch griff die vergreiste Staatsmacht an, verlangte im Namen aller Kolleginnen und Kollegen mehr Freiheit, Demokratie, Modernität – stilistisch – und auch beim Anschauen der Welt.
So etwas gab es noch nie! Es ging im Künstlerverband der DDR zu wie im britischen Unterhaus: Proteste gegen Starrsinn, Geschrei. Die Presse wurde auf Befehl der Kulturfunktionäre aus dem Saal gewiesen. Nichts durfte nach außen dringen. Die DDR-Medien bekamen einen Maulkorb verpasst und krampften sich eine euphemistische bis verlogene Berichterstattung ab. Und die Westmedien, obwohl subversiv mit den Manuskripten der Aufmüpfigen versorgt, schwiegen – vorerst -, um den „Reformprozess“ nicht zu stören.
Nach zähem Streit wählte die DDR-Künstlerschaft ihren zuletzt nur noch versteinert agierenden Verbandspräsidenten Willi Sitte ab. Nachfolger wurde Claus Dietel, ein der Bauhausidee zugewandter Formgestalter und Freigeist. Aber es war zu spät: Der Aufbruch auch der Kunst in eine reformierte, freie, demokratische DDR kam nicht.
Die Dresdner Erinnerung an die Schau von 1987/88 verlässt man mit der Erkenntnis, dass die Bilder dieses Finales im Jahr vor dem Fall der Mauer ein Lehrstück der hohen Kunst künstlerischer Mimikry war.

„Das Ende der Eindeutigkeit. Malerei aus der X. Kunstausstellung der DDR“, Städtische Galerie Dresden; bis 12. Januar; Di–So 10–18 Uhr, Fr 10–19 Uhr, Mo geschlossen.

Berliner Zeitung, 26./27.10.2019. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.

Anmerkung der Redaktion: Aus Rechtegründen kann auf die hier besprochenen Gemälde nicht verlinkt werden. Die meisten sind aber durch Künstler- und Titeleingabe im Internet zu finden.