22. Jahrgang | Nummer 23 | 11. November 2019

Christine Lagarde – zwischen Skylla und Charybdis

von Jürgen Leibiger

Christine Lagarde, die jetzt die Nachfolge von Mario Draghi als Präsident der Europäischen Zentralbank antrat, war noch nicht im Amt, da wurden ihr bereits Ratschläge über Ratschläge erteilt. Abgesehen von dutzenden Artikeln und Wortmeldungen in den sogenannten Leitmedien veröffentlichten ehemals hochrangige Geldpolitiker vor wenigen Wochen ein Memorandum, in dem sie die Geld- und Zinspolitik der EZB kritisieren. Adressat war natürlich nicht Draghi, dessen Amtsperiode nur noch ein paar Tage währte, sondern die neue Chefin, die im Vorfeld erklärt hatte, am Kurs der Bank erstmal nichts zu ändern, und die übrigens kurzfristig auch nichts ändern könnte.
Worum geht es?
Mit seinem inzwischen sprichwörtlichen „Whatever it takes …“ („Die EZB ist bereit, im Rahmen ihres Mandats alles zu tun, was nötig ist, um den Euro zu retten. Und glauben Sie mir: Es wird genug sein.“) hatte Draghi am 26. Juli 2012 den Spekulationen über einen Austritt hochverschuldeter Länder aus der Euro-Zone die Spitze genommen. Die Ankündigung und die ihr folgende EZB-Politik von Niedrig- bis Negativzinsen sowie von expansiver Geldpolitik hatten daraufhin zu einem drastischen Abfall der Zinsbelastung dieser Länder geführt. Diese Politik unterstützte zudem den konjunkturellen Aufschwung, indem sie Investitionen und Konsumentenkredite verbilligte und das Beschäftigungswachstum förderte.
Dieser Teil der Geschichte wird von den Autoren des kritischen Memorandums nicht infrage gestellt. Was sie kritisieren, ist das Festhalten an dieser Politik auch in der Hochkonjunktur und zu einem Zeitpunkt, da der Verbleib der ehemaligen Krisenstaaten in der Euro-Zone nicht mehr gefährdet scheint. Insbesondere wird kritisiert, dass die expansive Geldpolitik mittels des Ankaufs staatlicher Schuldtitel erfolge, was eine Einwirkung der Zentralbank auf die Finanzpolitik der Regierungen bedeute und das Schuldenmachen erleichtere. Die niedrigen bis negativen Zinsen würden die Sparer, Versicherungen und Pensionskassen belasten und zu hochriskanten Spekulationsgeschäften verleiten. Wirtschaftliche schwache und verschuldete Banken und Unternehmen würden wegen niedriger Zinsen künstlich am Leben erhalten. Das führe zu einer „zombification of the economy“. Soziale Spannungen erhöhten sich, weil es zu einer Umverteilung von den Sparern zu den Besitzern kreditfinanzierter Realvermögen komme. Und nicht zuletzt habe die Zentralbank nun kaum noch die Möglichkeit, im Falle einer Krise mit Geldmengenexpansion und Zinssenkungen wie in den Jahren 2008/2009 zu reagieren.
Irgendwie scheint das alles richtig zu sein. Die Argumente leuchten doch ein, oder? Und die deutschen Geldpolitiker, die diese Politik schon früher kritisierten oder wie Axel Weber, Jürgen Stark und Sabine Lautenschläger von ihren geldpolitischen Posten gar zurücktraten, erscheinen in diesem Licht als besonders standhaft, weil sie für ihre Überzeugung auch mit persönlichen Konsequenzen einstanden. Trotzdem hat die Mehrheit des EZB-Rates immer für diese Politik gestimmt.
Dummheit?
Interessenvertreter der Schuldenmacher?
Dusslig gequatscht von Draghi, der seinem hochverschuldeten Heimatland Italien geldpolitische Erleichterungen verschaffen wollte?
All diese Vorwürfe kann man in der Presse lesen.
Wie so oft im Leben hat aber auch diese Sache zwei Seiten. Und manchmal haben beide Kontrahenten etwas Recht oder auch Unrecht.
Nehmen wir die Sache mit den Sparern. Es stimmt natürlich, dass niedrige Zinsen bei höherer Inflationsrate bei ihnen zu realen Verlusten führen. Solche Konstellationen kamen auch in der Vergangenheit immer wieder vor, und die Nominalzinsen sanken übrigens schon lange vor Draghi. Angesichts der Sparschwemme hat die EZB hier wenig Spielraum. Und wer sind die Sparer? Erst im April dieses Jahres hat die Bundesbank ihre Vermögensanalyse veröffentlicht, nach der das Geldvermögen sich vor allem – was auch sonst – bei den Reichen konzentriere und große Teile der Bevölkerung überhaupt nicht sparen könnten oder sogar Schulden hätten.
Die unteren Schichten können also nicht viel verlieren, aber sie können etwas gewinnen. Ein Bauarbeiter, der von niedrigen Zinsen „profitiert“, weil die Bauwirtschaft boomt, wird natürlich schimpfen, weil seine paar Spargroschen keine Zinsen mehr abwerfen, er hätte aber nichts gewonnen, wenn er ohne Beschäftigung geblieben wäre.
Natürlich: So sicher, wie er jetzt etwas gewonnen hat, so sicher wird er auch wieder verlieren. Der vom billigen Geld und spekulativen Immobilienpreisen getragene Bauboom wird zu Ende gehen, die Blase wird platzen; der Hinweis auf eine „Zombi-Wirtschaft“ ist also gar nicht so falsch. Mit einer „geeigneten“ Geldpolitik lassen sich zeitweilig positive wirtschaftliche Effekte erzielen, aber nicht jene Zusammenhänge und Widersprüche aushebeln, die im Kapitalismus zu Krisen führen.
Von allen politischen Maßnahmen profitieren die verschiedenen Interessengruppen, sozialen Schichten und Klassen in höchst unterschiedlichem Maße, und auch ihre Leiden sind völlig asymmetrisch verteilt. Oft sind kurzfristig positive Wirkungen einer bestimmten Politik mit längerfristig negativen Wirkungen verbunden. Doch, wie John M. Keynes es formulierte: „Auf lange Sicht sind wir alle tot.“ Nicht nur der Bauarbeiter bleibt in diesen Mechanismen gefangen, auch wenn es bei ihm zu Buche schlägt, dass er in seinem Job ein paar Jahre mehr verdient hat, als ihm höhere Zinsen je hätten einbringen können. Wer also heute über die „Enteignung armer Sparer“ lamentiert, blendet diese Zusammenhänge aus.
Ob Draghi an die Bauarbeiter gedacht hat, weiß man nicht, aber dass er die Lage der verschuldeten Staaten und die Konjunkturentwicklung im Auge hatte, steht außer Frage. Und um diese Länder in der Euro-Zone zu halten und den Euro in seiner jetzigen Form abzusichern, hatte er wohl keine andere Wahl. Er hat einmal geäußert, „die Geldpolitik war die einzige Politik in den vergangenen vier Jahren, die das Wachstum unterstützt hat“. Gemeint hat er damit natürlich jene Finanzpolitiker, die zur gleichen Zeit, da er, wie er es nannte, die Geld-„Bazooka“ abfeuerte, das Austeritäts-Diktat – die Sparauflagen für öffentliche Haushalte in der Euro-Zone – durchgesetzt hatten. Wenn aber mehr gespart wird, dann können die Nachfrage und die Konjunktur nur aufrechterhalten oder gesteigert werden, wenn mehr investiert oder mehr ins Ausland exportiert wird. Die Steigerung von Nettoexporten ist freilich nur möglich, wenn das Ausland mehr importiert und sich verschuldet. Da nicht alle Länder gleichzeitig außenwirtschaftliche Überschüsse erzielen können, bestünde der Ausweg innerhalb der Euro-Zone nur in höheren Investitionen. Steigen die privaten Investitionen jedoch nicht ausreichend, weil selbst für den Realsektor Finanzanlagen kurzfristig lohnender sind (also gespart wird), müsste der Staat mehr investieren und dazu – wenn er die Steuern nicht erhöhen will – gegebenenfalls weniger sparen und Kredite aufnehmen, sich also verschulden. Erfolgt das nicht, und verzichtet die Zentralbank dann auch noch auf eine expansive Geldpolitik, dann stagniert die Wirtschaft wirklich.
Dies erklärt auch, warum die Kritik der Autoren besagten Memorandums vor allem in der deutschen Mainstream-Presse positiv aufgenommen wird. Deutschland exportiert seine wirtschaftlichen Kreislaufprobleme seit langem und kaschiert sie mittels des riesigen Überschusses der Leistungsbilanz.
Nur weil es so gut passt, und nicht weil all seine Prognosen eingetroffen wären, möchte ich wie in meinem vorigen Blättchen-Beitrag auch dieses Mal mit einem Hinweis auf Karl Marx enden. Er hatte in der Wirtschaftskrise von 1857 in einem Artikel für die New York Daily Tribune darauf hingewiesen, dass angesichts dieser Krise und der Zahlungsbilanzsituation die britische Regierung gezwungen sein werde, den sogenannten Peelschen Bankakt von 1844 (Sir Robert Peel war damals Premierminister), der einer Geldmengenausdehnung mittels einer zu starren Bindung an die Goldreserven enge Grenzen auferlegte, zu suspendieren. Der Artikel war am 6. November geschrieben worden und wohl noch auf dem Schnelldampfer Richtung New York (er erschien am 21. November), als der britische Premier und sein Schatzkanzler das Parlament aufforderten, den genannten Bankakt auszusetzen. Marx wurde wegen seiner Voraussage von der amerikanischen Presse sofort kritisiert; der Dampfer mit der Nachricht, die Marx Prognose bestätigte, war einfach nicht schnell genug. Zuvor war die Regierung des Staates New York sogar aufgefordert worden, das Peelsche Bankgesetz als Vorbild zu betrachten, um eine „gesunde Geldzirkulation zu gewährleisten“.
Marx war durchaus klar, dass die Geldmengenexpansion dem Geldmarkt nur zeitweilig eine gewisse Erleichterung verschaffen würde; er beendete diesen Abschnitt seines Artikels mit dem Hinweis: „Diese Krise befindet sich außerhalb jeder Regierungsgewalt.“
Geld- und Finanzpolitik damals wie heute zwischen Skylla und Charybdis.