22. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: diesmal ein großer Wüstling, ein elend Gottbegnadeter …

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Ein kleines freches, dabei einfühlsam herzbewegendes, also überraschend großartiges Mozart-Fest hoch über den Dächern von Berlin-Kreuzberg schenkte uns jetzt die unverschämt mutige, so verrückt innovative Neuköllner (Off-) Oper ausgerechnet mit einer Neufassung des wohl wundersamsten menschlich-fantastischen Werks des musikalischen Theaters: mit „Don Giovanni“.
Mozarts kongenialer Librettist Lorenzo da Ponte nannte das lustige Drama (Dramma giocoso) im Untertitel „Der bestrafte Wüstling“; Regisseurin Ulrike Schwab titelte „Giovanni. Eine Passion“. Das entspricht – wie alles bei dieser kühnen Klassiker-Adaption – dem Geist dieser genialen Geschichte aus Verzweiflung und Glückseligkeit, aus Verführung, Verbrechen, Lust, Leid und Strafe, aus Opferbereitschaft und freiheitlich emanzipatorischer Entgrenzung sowie zugleich hemmungsloser Gier nach Selbstverwirklichung, nach rücksichtsloser Macht – vornehmlich männlicher Macht.
So wird denn gleich am Anfang der mit dem Höllentod bestrafte, mörderische Wüst- und Lüstling zu Grabe getragen und am Schluss ein grotesk ins Übermenschliche aufgeblasener Phallus lustvoll zerfleddert, dass die derart „ejakulierten“ Schaumstoffwolken den Frauen und dem Publikum nur so um die Ohren fliegen.
Frauen an die Macht, das klingt so auch bei Mozart und da Ponte. Aber auch in der Neuköllner Oper leiden beide Geschlechter unterm herrlich-schrecklichen Krieg der Triebe, unter den schon bei Mozart-da Ponte nicht unkritisch gesehenen diktatorischen Rollenzuschreibungen im Sozialen. Gerade deshalb ist das dunkel-grell, frivol und bitterernst schillernde Werk so unsterblich, weil es, ja doch, auch politisch ist – sein Aufrührerisches (auch das eine Passion!) verkleidet im Komischen. Dramma giocoso…
Im Mittelpunkt der ziemlich korrekt nacherzählten Geschichte steht also ein Frauenversteher und Frauenvernichter im Clinch mit der Konvention, der Moral, die freilich auch seine Frauen wie überhaupt alle Frauen nicht gepachtet haben. Komplexe Sachlage, die allerdings nicht durchweg derart komplex gezeigt wird in der geschickt auf zwei Stunden gerafften Fassung. – Doch im Prinzip stimmt alles.
Was hier aber sonderlich fasziniert ist der kollektiv erarbeitete Umgang mit dem musikalischen Material – diesem Reichtum! – durch das einzigartige, hinreißende, unglaublich kreative und spielwütige, seit vier Jahren Furor machende Berliner STEGREIF.orchester. Das vom fabelhaften Juri de Marco dirigierte Solisten-Ensemble mit dreißig jungen Menschen aus aller Welt, die ihre Instrumente beherrschen, die singen und spielen können und ohne sichtbaren Dirigenten und ohne Stühle auskommen und in der dadurch gewonnenen Freiheit sich den Raum schaffen für bildnishafte Bewegung. Der ganze Saal wird so zur Bühne, auf der Akteure und Zuschauer sich bedrängend nahekommen.
Doch neben der auch im performativen Schauspiel nicht unüblichen szenischen Entgrenzung betört eben die geradezu sensationell musikalische: Da ist zum einen die originelle kammermusikalische Neu-Instrumentation, zum anderen die frappierende Verwandlung der Mozartschen Erfindungen in zeitgenössische Formen wie Folk, Jazz, Blues oder Rock und wieder zurück zu Mozart. Unerhört!
Das Wolferl hätte sich diebisch gefreut über die Unverwüstlichkeit, über die Macht seiner Musik, die noch nach mehr als zwei Jahrhunderten durch gekonnt heutige Verfremdungen ganz neuartige, teils sogar seltsam gesteigerte, dabei zutiefst unser Gemüt bewegende Wirkungen entfesselt. Was für eine faszinierende Sache. Was für ein spannendes, singuläres Unterfangen. Was für ein zwar aufwändiges und kompliziertes (man vermutet: schwerste Probenarbeit!), im Grunde jedoch ingeniös-demütiges, hoch artifizielles „Bearbeiten“, frei von banaler Besserwisserei. Eine Feier Mozarts, und wir feiern seine Brüder und Schwestern im Geiste: Das unvergleichlich passionierte Ensemble STEGREIF.orchester mit ihrem jüngsten Coup: Giovanni. Eine Passion.

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Den „Jud Süß“ hat er nicht gespielt. Doch statt der Hauptrolle in Veit Harlans NS-Hetzfilm gleich fünf Nebenrollen auf einmal. Alles Juden, und jeder bösartig als niederträchtige Type verzeichnet. Werner Krauß hat sich gedrängt danach; sein Kollege Fritz Kortner hat ihm das nie verziehen.
Später schämte sich Krauß für sein antisemitisches „Jud Süß“-Mittun. Und entschuldigte sich beständig damit, keinerlei Sinn „für Politik“ gehabt zu haben. Bei den „Entnazifizierungsprozessen“ kam er, wenn auch mit knapper Not, damit durch als „Minderbelasteter“. Seine „Sühne“: Ein „Sonderbeitrag“ von 5000 Reichsmark, was etwa zehn Prozent der Gage für „Jud Süß“ entsprach.
Als der Schauspieler Werner Krauß zehn Jahre später, 1959, starb – am 20. Oktober war sein 60. Todestag – delirierten die Nachrufe: Singulärer Epochenkünstler; sein Spiel sei ein Ausdruck gelebter Naivität gewesen, sei einer aufrichtigen, seltsam hintergründigen Einfalt sowie unablässiger Phantasie entsprungen.
Werner Krauß (1884-1959) galt unisono als einer der größten Schauspieler seiner Zeit, als erster Spieler deutscher Zunge, dessen Tod die Medien europaweit beklagten. Noch ein Halbjahrhundert danach findet man hunderttausende Internet-Seiten über diesen Mann von „nüchterner Blondheit“; den „Faun mit Bratschenstimme“. Nein, er zählte nicht zu den „Gutaussehenden“ und fand sich selbst äußerlich „eher ausdruckslos“. Umso intensiver deshalb seine scheinbar ganz natürlichen Kraftakte für die Wirkung, für die Publikumsüberwältigung durch Einfühlungsartistik.
Krauß – der klassische Aus-dem-Bauch-Spieler. Der bewunderte Magier einer völlig eigenständigen, stücktragenden Rollendarstellung von riesiger Spannweite. Weshalb er mit diktatorischen Regisseuren wie Max Reinhardt quer lag. Krauß konnte man nichts vorspielen, was Reinhardt so gern tat, der das „bunte Talent“ Krauß dennoch (allerdings in Maßen) schätzte. Man vermochte nicht, es auf die Ideen eines Regisseurs umzustilisieren. Einem derart phänomenalen Verwandlungsvirtuosen, der alle großen, alle Hauptrollen des Repertoires gespielt hat, galt es folglich als vollkommen suspekt, wenn ein Schauspieler „ich sein will“. Das Schlimmste sei, sich selber zu spielen – eine sagenhaft autosuggestive Selbstaufgabe durch Spiel…
Als Künstler fing er, jenseits einer seriösen Ausbildung, ganz klein an; noch als fahrender Gesell an widrigsten Schmieren. Dann spielte er sich ziemlich rasch über diverse Provinzbühnen steil empor nach Berlin ans Deutsche Theater sowie ans Preußische Staatstheater am Gendarmenmarkt, nach Wien an die Burg sowie nach Salzburg zu den Festspielen. – Ein heutzutage geradezu unglaublich ruhmreiches Künstlerleben, von der Kritik monumental dokumentiert. Alles lag ihm zu Füßen. Carl Zuckmayer beispielsweise, dessen Wilhelm Voigt im „Hauptmann von Köpenick“ Krauß uraufführte, schrieb: „Aus der Einheit von Geistigem und Natürlichem, von Begnadung und Arbeit, Sein und Streben, ,Zauberei’ und exakten Stilmitteln“ sei die „ungeheure Wirkung“ auf der Bühne zu erklären, was wohl das Wesen des Genies sei.
Befremdlich steht man solchen Huldigungen gegenüber angesichts der Verführbarkeit des Privilegierten, dem immerhin bevorzugte Informationsmöglichkeiten offen standen. Werner Krauß blieb dennoch schwer beeindruckt vom Nazibrimborium, das er auch, elegant zivil, auf dem Obersalzberg genoss, wo ihm Hitler als „Jesus unter den Jüngern“ vorkam. – Krauß, der reine Tor, der reine Künstler, das reine Genie inmitten politischer Explosionen und Katastrophen und von denen gespenstisch unberührt. Die klassische Misere – geprägt durch kaltes Wegschauen, raffinierte Selbsttäuschung, geniale Dummheit. Also weg von den verbrecherischen Zeitläuften und hinein in ein musisches Elysium, das bleibt letztlich als das Widerliche an diesem „Gottbegnadeten“.