von Gabriele Muthesius
„Die Aufklärung ist nicht abgeschlossen
– wir ziehen keinen Schlussstrich!“
Fazit des Abschlussberichtes
des 2. Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses
In der Blättchen-Berichterstattung zum NSU-Komplex bestand zu wiederholten Malen Veranlassung, sich kritisch mit der Arbeit der beiden NSU-Untersuchungsausschüsse des Thüringer Landtages auseinanderzusetzen (so in etwa in Sonderausgaben vom 05.09.2016, vom 14.11.2016 und vom 06.08.2018 sowie in den Ausgaben 25/2016, 3/2017, 8/2017) und insbesondere auch mit der Rolle der Obfrau der Fraktion Die Linke in beiden Ausschüssen, Katharina König, jetzt König-Preuß (Ausgabe 26/2018).
Vor diesem Hintergrund hatte sich die Redaktion am 10. September 2018 mit folgendem Auskunftsersuchen an die Vorsitzende der beiden Thüringer Ausschüsse, die SPD-Abgeordnete Dorothea Marx, gewandt:
Sehr geehrte Frau Marx,
wir wenden uns an Sie als Vorsitzende der beiden NSU-Untersuchungsausschüsse des Thüringer Landtages. Wir möchten in Vorbereitung weiterer Beiträge zum NSU-Komplex einige Fragen an Sie richten – konkret zu folgenden drei Schwerpunkten:
1. zum Todeszeitpunkt von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt,
2. zu den Totenflecken der Leichen und
3. zu Aussagen des Ermittlungsleiters in Eisenach-Stregda, Michael Menzel, vor den beiden Thüringer Ausschüssen.
Zu 1.: Am 25. Juni 2016 erklärte Katharina König in einer Podiumsveranstaltung zum NSU-Komplex im Grünen Salon der Berliner Volksbühne, der Thüringer Ausschuss verfüge neben den Obduktionsbefunden von Mundlos und Böhnhardt über ein weiteres „offizielles, von der Gerichtsmedizin ausgestelltes Schreiben, nämlich dass der Todeszeitpunkt von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am Freitag, am Freitagvormittag, im Zeitraum circa acht bis elf Uhr stattgefunden hat. […] Freitagvormittag, ich glaube, acht bis elf steht drinne“. (Diese Veranstaltung wurde offiziell mitgeschnitten. Die Tonspur dieses Mitschnittes, auf der Frau Königs Aussage ab Minute 1:02:08 dokumentiert ist, stellen wir Ihnen über WeTransfer zum Download bereit.)
Mithin weiß Ihr Ausschuss seit dem Zeitpunkt des Zugangs dieses Schreibens,
a) dass die exakte Todeszeitpunktangabe auf den Totenscheinen von Mundlos und Böhnhardt (4.11.2011, 12:05 Uhr) falsch ist;
b) dass auch die offizielle Ablaufdarstellung der Bundesanwaltschaft für den Tatort Stregda („Uwe Mundlos erschoss […] Uwe Böhnhardt mit einer Flinte Winchester und legte in dem Wohnmobil Feuer, bevor er sich selbst […] erschoss.“) unzutreffend ist und dass
c) im Falle von Mundlos und Böhnhardt kein erweiterter Suizid vorliegt.
Frage: Seit welchem exakten Zeitpunkt liegt das in Rede stehende offizielle Schreiben der Gerichtsmedizin dem Ausschuss vor und von wem ist es verfasst, respektive unterzeichnet?
zu 2.) Die Lage der Totenflecken der Leichen von Mundlos und Böhnhardt wurden in der Gerichtsmedizin Jena fotografisch dokumentiert. Daraus ist für Forensiker erkennbar, dass diese Totenflecken nicht in der Positionierung entstanden sein können, in der die Leichen aufgefunden wurden. Eine gestraffte Darstellung dieser Zusammenhänge von unserer Autorin G. Muthesius hatten wir Ihnen zum Zeitpunkt des Erscheinens übermittelt. […]
Frage: Sind diese Sachverhalte in Ihrem Ausschuss thematisiert worden? Und wenn nicht, warum nicht bzw. soll das noch geschehen?
zu 3.) Vor dem 1.Thüringer NSU-Ausschuss hatte Michael Menzel am 31. März 2014 im Dialog mit Ihnen, Frau Marx, ausführlich erläutert, warum er am Nachmittag des 4.11.2011 von der Kiesewetter-Waffe im Camper wusste und überhaupt nur von dieser Waffe und nicht von der des Kiesewetter-Kollegen Arnold gewusst haben konnte, die ebenfalls im Camper lag. Laut polizeilichem Einsatzverlaufsbericht zum 4.11.2011 wurde die Kiesewetter-Waffe aber erst um 23:11 Uhr an diesem Tage im Wohnmobil sichergestellt und anschließend identifiziert. Trotzdem informierte Menzel schon am Nachmittag des 4.11. Kollegen in Baden-Württemberg über das Auffinden der Kiesewetter-Waffe und erklärte sich später Ihnen gegenüber in der erwähnten Weise. Als er dann am 28. April 2016 vor dem 2. Thüringer Ausschuss nochmals einvernommen wurde, tat er seine frühere Einlassung en passant mit der Bemerkung ab: „[…] ich hatte damals, glaube ich, gesagt Kiesewetter, aber es war Arnold“.
Der Ausschuss ließ dies unbeanstandet passieren.
Und Frau König erklärte zwei Tage später unter ausdrücklichem Bezug auf Menzels Einvernahme: „Na, ich glaub‘, das Entscheidende, was man sagen kann, ist, dass die großen Fragen und vor allem die großen Theorien und Möglichkeiten, was da am 4.11. nun alles hätte passieren können oder vielleicht passiert ist, durch den Thüringer Untersuchungsausschuss ausgeräumt sind.“ (König erklärte dies auf Radio FSK 93,0: Ein Prozess – Ein Land – Keine Gesellschaft – Viel NSU, 30.04.2016, http://www.freie-radios.net/76977; ab Minute 00:45. Einen Mitschnitt stellen wir Ihnen ebenfalls über WeTransfer bereit.)
Frage: Warum wurde Menzel am 28. April 2016 im Ausschuss nicht mit seiner Darstellung vom 31. März 2014 konfrontiert, die offensichtlich keine auf einem versehentlichen Versprecher beruhende irrtümliche Aussage, sondern entsprechend den polizeilichen Ermittlungsunterlagen eine bewusste Falschaussage gewesen ist?
Quellen und Belege zu den genannten Sachverhalten und Zitaten finden sich in drei weiteren Muthesius-Beiträgen, die wir Ihnen ebenfalls zum Zeitpunkt der Veröffentlichung übermittelt hatten […].
Mit freundlichen Grüßen,
Dr. Wolfgang Schwarz (V.i.S.d.P.)
Redaktion DAS BLÄTTCHEN
Da seitens der Adressatin auch nach einer Erinnerung vom 29. Oktober 2018 keine Reaktion erfolgte, wandte sich die Redaktion am 12. Februar 2019 an die Thüringer Landtagspräsidentin:
Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin,
sehr geehrte Frau Diezel,
das 14-tägig erscheinende Online-Magazin DAS BLÄTTCHEN (https://das-blaettchen.de/) hat sich in seiner Berichterstattung zum NSU-Komplex wiederholt mit der Arbeit der beiden NSU-Untersuchungsausschüsse (UA) des Thüringer Landtags befasst. Kritisch aufgefallen sind uns dabei:
- Ungereimtheiten in den Aussagen des (am 4. November 2011 am Tatort Eisenach-Stregda) leitenden Polizeibeamten Michael Menzel im Zusammenhang mit dem Auffinden der Heilbronner Polizistenwaffen im Camper von Mundlos und Böhnhardt;
- Befragungsversäumnisse des UA im Zusammenhang mit den am Gerichtsmedizinischen Institut in Jena dokumentierten Totenflecken der Leichen von Mundlos und Böhnhardt sowie den daraus sich ergebenden Schlussfolgerungen für deren Todeszeitpunkt und
- eine gravierende Diskrepanz zwischen einer öffentlichen Äußerung der Obfrau der Linkspartei im UA, Katharina König, zum Todeszeitpunkt von Mundlos und Böhnhardt sowie dem Sachverhalt, dass der UA, ebenfalls nach öffentlicher Aussage von König, sich offenbar die offizielle BKA-Version zum Todeszeitpunkt zueigen gemacht hat.
Bevor wir diese Gegebenheiten zum Gegenstand einer weiteren NSU-Berichterstattung machen, haben wir uns am 10.09.2018 mit einem entsprechenden Auskunftsersuchen an die Vorsitzende der beiden NSU-Untersuchungsausschüsse, Frau Dorothea Marx (SPD), gewandt (siehe unten) und dieses Ersuchen am 29.10.2018 wiederholt. In beiden Fällen – ohne Reaktion.
Wir möchten daher Sie, sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin, ersuchen, unser Auskunftsbegehren mit Ihren Mitteln zu unterstützen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Dr. Wolfgang Schwarz (V.i.S.d.P.)
Redaktion DAS BLÄTTCHEN
Am 26. Februar 2019 erreichte uns dieser Bescheid:
Sehr geehrter Herr Dr. Schwarz,
vielen Dank für Ihr Schreiben an Frau Landtagspräsidentin Diezel. Sie hat Ihr Anliegen nochmals an Frau Marx herangetragen, die Ihnen antworten wird.
Mit freundlichen Grüßen
im Auftrag
Dr. Rainer Kipper
Da Dorothea Marx bis 3. Juni nicht hatte von sich hören lassen, fassten wir über das Büro der Landtagspräsidentin nochmals nach, woraufhin uns am 26. Juni dann doch noch folgendes Schreiben erreichte:
Sehr geehrter Herr Dr. Schwarz,
zuletzt baten Sie mit Ihrer E-Mail vom 3. Juni 2019 um Beantwortung mehrerer Fragen, die im Zusammenhang mit dem Todeszeitpunkt von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, den Totenflecken der Leichen sowie den Aussagen des Ermittlungsleiters in Eisenach-Stregda stehen. Für Ihr Interesse an der Arbeit der mit dieser Thematik befassten Untersuchungsausschüsse danke ich Ihnen. Gestatten Sie mir gleichwohl, auf folgende Umstände hinzuweisen.
Der Untersuchungsausschuss wird nach Abschluss der Untersuchung dem Landtag gemäß § 28 Abs. 1 ThürUAG einen schriftlichen Bericht über den Verlauf des Verfahrens, die ermittelten Tatsachen und das Ergebnis der Untersuchung erstatten. Über die endgültige Abfassung des Berichts hat der Untersuchungsausschuss mit der Mehrheit seiner Mitglieder zu entscheiden, § 28 Abs. 3 S. 2 ThürUAG. Des Weiteren sind die Mitglieder und Ersatzmitglieder des Untersuchungsausschusses gemäß § 25 Abs. 2 ThürUAG gehalten, sich vor Abschluss der Beratung über die Abfassung des schriftlichen Berichts einer öffentlichen Beweiswürdigung zu enthalten. Im Hinblick auf die demokratische Mehrheitsentscheidung im Untersuchungsausschuss bitte ich um Verständnis, dass von der Beantwortung der Fragen abgesehen wird, um nicht dem mehrheitlichen Votum des Gremiums im Abschlussbericht zuvorzukommen.
Für die Beantwortung Ihrer Fragen muss ich daher auf den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses verweisen. Ein Termin für die beabsichtigte Veröffentlichung des Berichts ist bislang noch nicht bestimmt worden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist davon auszugeben, dass der Bericht zum Ende der 6. Legislaturperiode des Thüringer Landtags im Oktober 2019 vorgestellt und veröffentlicht wird.
Mit freundlichen Grüßen
Dorothea Marx
Vorsitzende
Daraufhin wandte sich die Redaktion am 25. August 2019 – unmittelbar nach Abschluss der parlamentarischen Sommerpause – erneut an Dorothea Marx:
Sehr geehrte Frau Marx,
vielen Dank für Ihr Schreiben vom 26.06.2019, mit dem Sie – nach zwiefachem Hilfeersuchen meinerseits an die Präsidentin des Thüringer Landtages – nun doch auf meine Auskunftsbegehren vom 10.09.2018 und vom 29.10.2018 reagiert haben.
Ihrem Schreiben liegt allerdings ein fundamentales Missverständnis zugrunde, denn Sie verweigern die Beantwortung meiner Fragen mit folgender Begründung: „Im Hinblick auf die demokratische Mehrheitsentscheidung im Untersuchungsausschuss bitte ich um Verständnis, dass von der Beantwortung der Fragen abgesehen wird, um nicht dem mehrheitlichen Votum des Gremiums im Abschlussbericht zuvorzukommen.“ (Hervorhebung – W.S.)
Aber, sehr geehrte Frau Marx, ich hatte keinerlei Fragen gestellt, die Gegenstand für ein „Votum des Gremiums im Abschlussbericht“ sein könnten, geschweige denn müssten!
Ich wiederhole daher meine Fragen (kurzgefasst) nochmals und ersuche erneut um Beantwortung:
· Laut Ausschussmitglied Katharina König liegt dem Ausschuss ein „offizielles, von der Gerichtsmedizin ausgestelltes Schreiben, nämlich dass der Todeszeitpunkt von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am Freitag, am Freitagvormittag, im Zeitraum circa acht bis elf Uhr stattgefunden hat. […] Freitagvormittag, ich glaube, acht bis elf steht drinne“ (O-Ton König).
Frage: Seit welchem exakten Zeitpunkt liegt das in Rede stehende offizielle Schreiben der Gerichtsmedizin dem Ausschuss vor und von wem ist es verfasst, respektive unterzeichnet?
· Aus der Lage der Totenflecken der Leichen von Mundlos und Böhnhardt ist für Forensiker erkennbar, dass diese Totenflecken nicht in der Positionierung entstanden sein können, in der die Leichen aufgefunden wurden.
Frage: Sind diese Sachverhalte in Ihrem Ausschuss thematisiert worden? Und wenn nicht, warum nicht?
· Michael Menzel hat bei seinen Einvernahmen im Ausschuss am 31. März 2014 sowie am 28. April 2016 sich (ausweislich der Ausschussprotokolle) diametral widersprechende Aussagen zur Auffindung der Kiesewetter-Waffe am 4.11.2011 gemacht.
Frage: Warum wurde Menzel am 28. April 2016 im Ausschuss nicht mit seiner Darstellung vom 31. März 2014 konfrontiert, die offensichtlich keine auf einem versehentlichen Versprecher beruhende irrtümliche Aussage, sondern entsprechend den polizeilichen Ermittlungsunterlagen eine bewusste Falschaussage gewesen ist?
Angeregt durch Ihren jetzigen Hinweis („Des Weiteren sind die Mitglieder und Ersatzmitglieder des Untersuchungsausschusses gemäß § 25 Abs. 2 ThürUAG gehalten, sich vor Abschluss der Beratung über die Abfassung des schriftlichen Berichts einer öffentlichen Beweiswürdigung zu enthalten“) möchte ich zwei weitere Frage hinzufügen:
· Wie vertragen sich die zahllosen öffentlichen Auftritte von Katharina König zum NSU-Komplex und insbesondere zu Details aus den beiden von Ihnen geleiteten Thüringer NSU-Ausschüssen, die in den Ihnen von mir übermittelten Materialien ausführlich dokumentiert sind, mit § 25 Abs. 2 ThürUAG?
· Was haben Sie als Ausschussvorsitzende unternommen, um öffentliche Beweiswürdigungen von Frau König zu unterbinden?
Da Ihr Schreiben, wie bereits erwähnt, ohne Anrufung der Landtagspräsidentin wohl nicht zustande gekommen wäre, hoffe ich auf Ihr Verständnis, dass ich deren Büro bei dieser Mail gleich in „cc“ setze.
[…]
Mit besten Grüßen,
Dr. Wolfgang Schwarz (V.i.S.d.P.)
Redaktion DAS BLÄTTCHEN
Bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe ging keine weitere Nachricht von Dorothea Marx zu.
*
Aus dem inzwischen veröffentlichten Abschlussbericht des 2. Thüringer NSU-Untersuchungsausschusses geht hervor, dass in der Ausschussarbeit Fragen zu den Totenflecke an den Leichen von Mundlos und Böhnhardt intensiv thematisiert worden sind – inklusive der Diskrepanz zwischen der Positionierung der Totenflecke an den Leichen und der Auffindesituation derselben.
So ließ sich der Ausschuss von der Leiterin der Jenenser Rechtsmedizin, Prof. Dr. Gitta Mall, in deren Institut Mundlos und Böhnhardt obduziert worden sind, über Genese und Veränderbarkeit von Totenflecken im Detail ins Bild setzen. Im Abschlussbericht heißt es: „Gefragt, ob sich die Totenflecke bei einem Verbringen der Leiche verändern, trug die Zeugin Prof. Dr. M. […] vor, dass sich die Totenflecke innerhalb einer gewissen Zeit entsprechend der neuen Position vollständig verlagern würden […], wenn man die Leiche innerhalb von sechs Stunden nach Todeseintritt wendet […]. Wenn die Leiche nach ungefähr sechs bis 12 Stunden gewendet werde, würden sich die Totenflecke nur partiell verlagern, d. h. man habe doppelte Totenflecke. […] Nach 12 Stunden […] würden sich die Totenflecke gar nicht mehr verlagern. Im vorliegenden Fall habe man keine doppelten Totenflecke gesehen, wobei die Totenflecke bei Böhnhardt spärlich gewesen seien.“[1]
Von Bedeutung für diese Fragen ist ferner der Sachverhalt, dass es im Inneren des Campers, in dem die Leichen gefunden wurden, zuvor gebrannt hatte. Dabei war ein Teil der Dachkonstruktion auf Böhnhardts Leiche gefallen. Diese sei „durch die verschmolzene Decke fast komplett abgedeckt gewesen, nur ein Fuß und eine Hand hätten herausgeguckt“[2], so der Zeuge KOK Hoffmann gegenüber dem Untersuchungsausschuss.
In welcher Beziehung das Brandgeschehen zur Veränderbarkeit von Totenflecken steht, erläuterte Malls Mitarbeiter Dr. Reinhard Heiderstädt, zugleich Hauptobduzent von Mundlos und Böhnhardt, vor dem Untersuchungsausschuss. Zu dessen Aussage heißt es im Abschlussbericht: „Prinzipiell könnten sich innerhalb der ersten zwölf Stunden bei ungefähr 18 Grad Umgebungstemperatur die Totenflecke ändern und in den ersten sechs Stunden vollständig ändern, also vollständig verschwinden und neu bilden. Weiter gefragt, welche Auswirkungen es habe, dass […] der Innenraum des Wohnmobils für einen gewissen Zeitraum eine Temperatur von mehr als 18 Grad aufwies, führte der Zeuge aus, dass es dann schneller gehe, man dies aber schlecht eingrenzen könne. Wärme beschleunige diese Vorgänge.“[3]
Was Dr. Heiderstädt dem Untersuchungsausschuss damit angedeutet hat, ist die grundsätzliche rechtsmedizinische Erfahrung, wie sie auch in Lehrbüchern zu finden ist: „Die zeitlichen Abläufe beim Auftreten aller Leichenerscheinungen […] sind deutlich temperaturabhängig. Bei hohen Temperaturen bilden sie sich früher aus, bei niedrigen Temperaturen, finden die Abläufe verzögert statt […].“[4] Früh einsetzende postmortale Zersetzungserscheinungen von Gewebe- und Gefäßstrukturen durch körpereigene Enzyme, also durch die sogenannte Autolyse, sind temperaturabhängig, wodurch sich unter anderem der Zeitpunkt, ab dem ursprüngliche Totenflecke bei Umlagerung einer Leiche nicht mehr vollständig verschwinden und wenigstens mit doppelten Totenflecken zu rechnen ist, nach vorn verschieben kann – also auf einen Zeitpunkt früher als sechs Stunden nach Todeseintritt.
Laut Sektionsprotokoll wies Böhnhardts Leiche „Totenflecke an der linken Körperrückseite“[5] auf, wozu Prof. Mall erklärte, „dass dieser Umstand damit zu tun habe, dass die Leiche innerhalb eines gewissen Zeitraums umgedreht worden sei“[6].
In diesem Zusammenhang relevant und dem Untersuchungsausschuss durch vorliegende Dokumente durchaus bekannt sind der (durch Dr. Heiderstädt auf den Totenscheinen für Mundlos und Böhnhardt) offiziell attestierte Todeszeitpunkt (12:05 Uhr am 4.11.2011[7]) und der Bergungszeitpunkt der ersten Leiche aus dem Camper, nämlich derjenigen Böhnhardts, die dem Campereingang am nächsten lag, 18:00 Uhr am 4.11. (dokumentiert im polizeilichen Einsatzverlaufsbericht für den 4.11.2011[8]).
Diese Uhrzeit und auch die Schwierigkeiten des Bergens der Leiche von Böhnhardt wurden dem Untersuchungsausschuss von Mitgliedern der LKA-Tatortgruppe ausführlich mitgeteilt und beschrieben.[9]
Angenommen, Böhnhardt wäre tatsächlich am 4.11., um 12:05 Uhr, zu Tode und in Bauchlage im Camper zu liegen gekommen, dann hätte seine Leiche bis wenigstens zur siebten Stunde in dieser Stellung verharrt und wäre anfänglich überdies einer die Leichenerscheinungen beschleunigenden Hitzeeinwirkung durch das Brandgeschehen ausgesetzt gewesen. Dass seine Leiche nach der komplizierten Bergung aus dem Camper in Rückenlage abgelegt worden ist, belegt ein Foto im Tatortfundbericht Stregda des LKA Thüringen.[10] Mithin hätten sich in der siebten Stunde und später die ursprünglichen Totenflecke zwar noch zum Teil verlagern können, aber es hätten nach über sechs Stunden doppelte Totenflecken an der Leiche Böhnhardts vorhanden sein müssen. Man hat aber bei der Obduktion an beiden Leichen, wie Mall vor dem Untersuchungs-ausschuss ebenfalls erklärt hat, eben „keine doppelten Totenflecke gesehen“[11].
Der Untersuchungsausschuss hätte also allen Grund gehabt, der Frage weiter nachzugehen, ob Mundlos und Böhnhardt nicht schon vor dem 4.11.2011, 12:05 Uhr, und damit entgegen dem offiziellen Narrativ des Bundeskriminalamtes und der Bundesanwaltschaft vom erweiterten Suizid in Stregda, wie es auch in die Klageschrift für den Münchner NSU-Prozess eingegangen ist, tot waren.
Stattdessen wollte der Untersuchungsausschuss offenbar auf Biegen und Brechen am 4.11., 12:05 Uhr, als Todeszeitpunkt festhalten und versuchte, auch Prof. Mall auf eine entsprechende Aussage festzulegen. Mall äußerte sich jedoch nicht definitiv. Im Abschlussbericht liest sich das folgendermaßen: „[…] gefragt, ob ausgehend von den Leichenflecken festgestellt werden könne, dass die beiden nicht (Hervorhebung im Original – G.M.) vor dem 4. November 2011 umgekommen sind, bekundete die Zeugin […], dass in diesem Fall die Totenstarre in allen Gelenken kräftig ausgebildet gewesen sei und dies [hier] (Einfügung im Original – G.M.) passen würde, wenn ein knapper Tag vergangen sei, nach zwei bis drei Tagen würde sich die Totenstarre auflösen“[12].
Die erste Obduktion, die von Böhnhardt, das war dem Untersuchungsausschuss ebenfalls bekannt, hatte am 5. November 2011 um 10:30 Uhr begonnen.[13] Da war die Totenstarre Mall zufolge „kräftig ausgebildet“. Das ist sie üblicherweise 8 bis 12 Stunden nach Todeseintritt auch und löst sich, so wiederum Mall, „nach zwei bis drei Tagen“[14] wieder auf. Am 5.11., 10:30 Uhr, 22,5 Stunden nach Auffinden der Leichen, hätte Böhnhardt also genauso gut schon um die 48 Stunden lang tot gewesen sein können.
Warum der 2. Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss in diesen Fragen so inkonsequent im Hinblick auf die Fakten und Zusammenhänge agiert hat, mag man ungenügender forensischer Kompetenz der Ausschussmitglieder zugutehalten. Warum aber die Chefin der Jenenser Rechtsmedizin und ihr Mitarbeiter Heiderstädt ihre Ausführungen so unscharf und dadurch gegenüber Laien mit dem Risiko der Fehlinterpretation behaftet hielten, kann mit forensischer Inkompetenz sicher nicht erklärt werden.
Ominös bleibe auch, so der Wissenschaftsjournalist Ekkehard Sieker, der seit langem zum NSU-Komplex recherchiert, was im Untersuchungsausschuss ebenfalls thematisiert wurde, dass nämlich im Sektionsprotokoll von Mundlos jegliche Informationen über Totenflecke fehlen.[15]
Darauf vor dem Ausschuss hingewiesen, zeigte sich die Zeugin Dr. Höfig, Mitarbeiterin der Jenenser Rechtsmedizin und an der Obduktion von Mundlos und Böhnhardt beteiligt, verwundert: „Gar kein Part vermerkt? – Ich muss dazusagen, dass Herr Mundlos als Patient wirklich aufgrund der besonderen Verletzung sehr, sehr stark ausgeblutet war. Wir kennen das natürlich, umso mehr Blutverlust vorhanden ist, umso geringer und dezenter sind natürlich auch die Totenflecke und können teilweise also nur noch schemenhaft auftreten. Aber eigentlich gehört dieser Passus […] dazu. Der Punkt kommt eigentlich immer ins Obduktionsgutachten – ‚Zeichen des Todes‘ Doppelpunkt. So diktiere ich es zumindest. Dann ist das auch zwingend drin. Dann würde ich eben schreiben ‚Keine‘. Aber dass gar keine da sind, das ist nicht denkbar.“[16]
Dann jedoch gab die Zeugin noch folgenden Hinweis: „Aber es gibt ja Bilder. Man müsste es an den Fotos nachvollziehen können.“[17] (Dieser Befragungspart ist verkürzt auch im Abschlussbericht enthalten.[18])
Dem Hinweis sei, so Sieker, der Untersuchungsausschuss jedoch offenkundig nicht gefolgt, denn anderenfalls wäre man im Tatortfundbericht Stregda unter den Obduktionsfotos auf jene „Nahaufnahme Rücken“ von Mundlos gestoßen, die Totenflecke dokumentiere[19] – „und zwar nicht nur spärliche wie bei Böhnhardt, sondern gut sichtbare“.
Aufgefunden wurde Mundlos bekanntermaßen in sitzender Position an der Rückwand des Camper-Innenraums, also in einer Stellung, in der Totenflecke um das Gesäß sowie an den unteren Extremitäten zu erwarten gewesen wären. Dort waren aber keine Totenflecken zu finden, wie das Sektionsprotokoll (Obduktionsgutachten) von Mundlos‘ Leiche explizit unter Punkt 18 ausweist: „Gesäß und Oberschenkelrückseiten unauffällig.“[20]
Der Bergungszeitpunkt dieser Leiche ist im polizeilichen Einsatzverlaufsbericht zwar nicht vermerkt, aber da der Weg zu ihm durch Böhnhardt versperrt war, ist die Bergung in jedem Fall zeitlich noch später als bei jenem erfolgt. Die LKA-Beamtin Sylvia Michel teilte dem Untersuchungsausschuss mit, dass „gegen 22.00 bis 22.30 Uhr die zweite Leiche geborgen“[21] worden sei.
Mit Totenflecken auf dem Rücken.
Und auch bei Mundlos – siehe Mall oben – keine doppelten Totenflecke. Die hätten aber bei ihm – über zehn Stunden nach dem auf 12.05 Uhr attestierten Tod – gefunden werden müssen.
Fazit: Zum Zeitpunkt der Bergung der Leichen von Böhnhardt und Mundlos sechs, respektive über zehn Stunden nach deren Auffinden – kurz nach 12.00 Uhr am 4. November 2011 in Eisenach-Stregda – waren die Totenflecken auf beiden Körpern nicht mehr verlagerbar. Mehr noch: Nicht mehr verlagerbar waren die Totenflecken offensichtlich auch schon, als Mundlos und Böhnhardt in die Positionen gebracht wurden, in denen man sie auffand.
Es bleibt daher bei der schon 2017 getroffenen Feststellung, dass beide zum Zeitpunkt ihres Auffindens „bereits mindestens zwölf Stunden tot gewesen sein“[22] müssen.
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[1] – Thüringer Landtag. 6. Wahlperiode. Bericht des Untersuchungsausschusses 6/1 „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“. Drucksache 6/7612, zu Drucksache 6/314 zu Drucksache 6/232 – Neufassung – 29. August 2019 (im Weiteren Abschlussbericht genannt), S. 586; http://www.parldok.thueringen.de/ParlDok/
dokument/72378/fortsetzung_der_aufarbeitung_der_dem_nationalsozialistischen_untergrund_nsu_
sowie_der_mit_ihm_kooperierenden_netzwerke_zuzuordnenden_straftaten_unte.pdf – aufgerufen am 01.10.2019.
[2] – Ebenda, S. 373.
[3] – Ebenda, S. 573.
[4] – Randolph Penning et al.: Rechtsmedizin systematisch; 2. Aufl., Bremen 2006, S. 28.
[5] – Abschlussbericht, S. 573.
[6] – Ebenda, S. 573.
[7] – Zur Kopie des Totenscheines hier klicken.
[8] – Kriminalpolizeistation Eisenach, Aktenzeichen TH1309-023340-11/9, Sachbearbeitung durch Möckel, KHM: Einsatzverlaufsbericht, S. 1 (im Weiteren Einsatzverlaufsbericht genannt; zur Kopie hier klicken).
[9] – Siehe Abschlussbericht, Seite 372 ff.
[10] – Siehe Tatortbefundbericht Stregda TH 1309-023340-11/9 des LKA Thüringen vom 27.12.2011, S. 40 ff. (im Weiteren Tatortbefundbericht genannt).
[11] – Abschlussbericht, S. 586.
[12] – Ebenda, S. 586.
[13] – Vgl. Tatortbefundbericht, S. 54.
[14] – Abschlussbericht, S. 586.
[15] – Vgl. ebenda, S. 575.
[16] – Untersuchungsausschuss 6-1, „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“, 12, Sitzung am 3. März 2016, Wortprotokoll der öffentlichen Beweisaufnahme, S. 146.
[17] – Ebenda, S. 146.
[18] – Siehe Abschlussbericht, S. 575.
[19] – Siehe Tatortbefundbericht, S. 189 (zum Foto hier klicken).
[20] – Universitätsklinik Jena. Institut für Rechtsmedizin, Zeichen 7182-11-1 Hei/sei: Sektionsprotokoll, Sektionsfall Mundlos, Uwe […], S. 3; zum Ausriss hier klicken.
[21] – Abschlussbericht, S. 374.
[22] – Gabriele Muthesius: NSU. Wann, wie und wo starben Mundlos und Böhnhardt?, Das Blättchen, 8/2017; https://das-blaettchen.de/2017/04/nsu-wann-wie-und-wo-starben-mundlos-und-boehnhardt-39577.html – aufgerufen am 09.10.2019.
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