22. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2019

Deutsche Atomwaffen?

von Erhard Crome

Die „Intelligence Community“, der Verbund der Geheimdienste der USA, wurde im Jahre 1981 per Erlass des damals neugewählten Präsidenten Ronald Reagan geschaffen. Zu diesem gewaltigen Apparat gehören 17 Geheimdienste, die im Jahre 2010 laut Washington Post und Wikipedia 854.000 Mitarbeiter hatten. (Eine neuere Zahl gibt es offenbar nicht.) Einen zentralen Platz in der „Community“ nimmt der National Intelligence Council ein, bei dem die zentrale Untersuchung strategischer Fragen angesiedelt ist. Dort war ein Mann namens Eric Brewer von 2014 bis 2017 stellvertretender Chef der Analyse-Einheit, die sich mit Fragen der Atomwaffen, der Möglichkeiten ausländischer Mächte, nukleare Waffensysteme zu entwickeln, ihrer Weitergabe und ihren möglichen künftigen Gefahren befasst.
Danach diente Brewer im Nationalen Sicherheitsrat der USA, also einer zentralen Einrichtung der Regierung, die direkt dem Präsidenten untersteht – seit 2017 bekanntlich Donald Trump –, als „Direktor für Gegen-Proliferation“. Im militärisch-politischen Verständnis der USA bedient sich die Politik zur Nichtweiterverbreitung („Nonproliferation“) und der Rüstungskontrolle politischer, rechtlicher und administrativer Mittel, um andere Staaten daran zu hindern, gefährliche Waffen, insbesondere Massenvernichtungsmittel, Raketen größerer Reichweite oder besonders zerstörerische konventionelle Waffen, zu entwickeln oder sich zu verschaffen. „Counterproliferation“ dagegen setzt auf geheimdienstliche Maßnahmen, juristische Zwangsmaßnahmen und gegebenenfalls auch Militäraktionen, um dieses Ziel zu erreichen.
Seit kurzem nun ist Brewer „Visiting Fellow“ am „Center for a New American Security“ (CNAS – Zentrum für eine neue amerikanische Sicherheit) und seit 2018 Fellow am „Council on Foreign Relations“ (CFR), dem renommierten, bereits 1921 gegründeten „Rat für auswärtige Beziehungen“. Sucht man nach dem CNAS, so findet man, dass es erst 2007 gegründet wurde und einen „bipartisanen“ Anspruch hat, also parteiübergreifend ausgerichtet ist. Bei Wikipedia findet sich eine Liste wichtiger Personen, die mit dem CNAS verbunden sind, darunter Richard Armitage, der den republikanischen Präsidenten Reagan und George W. Bush als stellvertretender Verteidigungs- und stellvertretender Außenminister gedient hat, der ehemalige General James Clapper, der unter dem Demokraten Barack Obama viele Jahre der oberste Koordinator der „Intelligence Community“ gewesen ist, und die sattsam bekannte Victoria Nuland, unter dem demokratischen Präsidenten Bill Clinton Stabschefin des stellvertretenden Außenministers Strobe Talbott, dem republikanischen Vizepräsidenten Dick Cheney sicherheitspolitische Beraterin und unter Obama stellvertretende Außenministerin.
Am Ende ist klar: Das CNAS ist ein strategisches Zentrum der Globalisten beider Parteien. Denen ist Trumps Außenpolitik ein Gräuel. Im Mai 2016, vor der jüngsten Präsidentenwahl in den USA, hat das Zentrum „Papers für den nächsten Präsidenten“ produziert, um diesen und sein Team auf eine „starke und prinzipielle“ nationale Sicherheitsagenda einzuschwören. Nur hat Trump bekanntlich wider Erwarten, auch des außenpolitischen Establishments, die Wahlen damals gewonnen und derlei Ratschläge grundsätzlich ausgeschlagen.
Im aktuellen Heft (September/Oktober 2019) der Zeitschrift Foreign Affairs, die vom CFR herausgegeben wird, ist nun ein Artikel von Brewer platziert. Er trägt den Titel: „Werden die Atomwaffen ein Comeback erleben?“ Brewer unterstellt, das Nichtweitergabe-Regime sei umstritten. Die USA haben einen wichtigen Begrenzungsvertrag – den über das Verbot der Mittelstreckenraketen – gekündigt, das New-START-Abkommen zur Begrenzung der strategischen Waffensysteme läuft 2021 aus. China und andere Staaten haben ihre nuklearen Arsenale vergrößert, ohne dass sie durch Vertrag daran gehindert würden. Gleichwohl haben die meisten Staaten der Welt auf Atomwaffen verzichtet, kaum ein Land, das nicht bereits über Atomwaffen verfügt, scheint solche entwickeln zu wollen; nur wenige, wie Iran, haben die Kapazitäten dafür.
In der Vergangenheit, so Brewer weiter, haben die USA, auch in Übereinstimmung mit der UNO, massiven politischen und wirtschaftlichen Druck auf Staaten ausgeübt, die mutmaßlich versuchten, Atomwaffen zu entwickeln; im Falle Iraks und Libyens habe das funktioniert. Die Nichtweiterverbreitung hänge jedoch von der Führerschaft der USA, ihren Bündnissystemen und ihrer Entschlossenheit ab. Die seien unter Trump und seiner Regierung aber unter Druck geraten. Die globalen Bedrohungen durch Russland, China, Nordkorea und das Gespenst eines nicht begrenzten Iran würden einen entflammbaren Mix ergeben. Trumps Aktionen zeigten jedoch, dass er das Bündnissystem der USA eher als Belastung denn als Vorzug betrachtet. Wir wüssten heute nicht, ob Trumps „Feindseligkeit gegenüber einer US-geführten Weltordnung“ seine Präsidentschaft überdauern wird, aber etliche Grundzüge dessen würden wohl weiterleben. Auch künftige Führer der USA würden es mit dem Aufstieg rivalisierender Mächte, mit Haushaltsbelastungen und innenpolitischen Begrenzungen zu tun haben. Die Abwertung des Prinzips des freien Handels, die Skepsis gegenüber internationalen Institutionen und der geschäftsmäßige Umgang mit den Allianzen relativierten jedoch das Instrument des Drucks auf Staaten, die Atomwaffen erwerben wollen, und verbreiten Unsicherheit unter den Verbündeten der USA.
Das hatte zur Folge, dass die europäischen Staaten angesichts der trumpschen Iran-Politik danach streben, die Sanktionen der USA zu unterlaufen und Mittel zu finden, die Dominanz der USA im internationalen Finanzsystem zu untergraben. Nordkorea wurde auch durch Washingtons „maximalen Druck“ zum Paria-Staat, der ohnehin nichts zu verlieren hat. Dessen Atomwaffen führten dazu, dass Südkorea und Japan ebenfalls über Nuklearwaffen nachdenken. Einen Global Player wie Japan könnten die USA jedoch nicht mittels Sanktionen bewegen, davon abzusehen, ohne sich selbst zu schaden. Insofern könnte eine größere Betonung von „Lastenteilung“ (burden sharing) künftig auch bedeuten, die Verbündeten der USA zu ermutigen, die Kapazitäten zu schaffen, die für die Entwicklung von Atomwaffen nötig sind.
Auf die Debatten um eigene Atomwaffen in Deutschland (Das Blättchen Nr. 25/2016) verweist Brewer ebenfalls. Im nächsten Jahr sind Präsidentenwahlen in den USA. Das CNAS produziert offenbar wieder „Papers für den nächsten Präsidenten“. Zu deren Vorbereitung dient offenbar auch dieser Text. Wenn die neue Idee der Globalisten in den USA aber sein sollte, auf die Gewichtsverschiebungen auf globaler Ebene zu reagieren, indem das Ziel aufgegeben wird, eine Proliferation atomarer Waffen auch unter den Verbündeten zu verhindern, wäre das schon ein starkes Stück. Offenbar sollen sie sogar ermuntert werden, sich ihrerseits solche Waffen zu verschaffen. Der Titel des Artikels ist nicht etwa eine Warnung, sondern Ermunterung. „Counterproliferation“ gilt dann nur noch für Nordkorea und Iran, während die Verbündeten zur Proliferation ermutigt werden. Damit entfiele nach 2021 nicht nur der New START-Vertrag. Das ganze System der „Nonproliferation“ würde infrage gestellt. Im Falle Deutschlands verbietet dies der Zwei-plus-Vier-Vertrag. Der soll dann offenbar ebenfalls beiseitegeschoben werden.