22. Jahrgang | Nummer 21 | 14. Oktober 2019

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

In der aktuellen Ausgabe der vom Londoner Institut für strategische Studien herausgegebenen Zeitschrift Survival findet sich ein Beitrag mit dem Titel „Decisive Response: A New Nuclear Strategy for NATO“ („Entschlossene Reaktion: Eine neue Nuklearstrategie für die NATO“). Darin erinnern Hans Binnendijk, früher unter anderem leitender Mitarbeiter im Nationalen Sicherheitsrat der USA, und David Gompert, ein ehemaliger stellvertretender US-Außenminister, daran, warum die NATO im Kalten Krieg militärisch auf taktische Kernwaffen angewiesen war – wegen der konventionellen Stärke, ja Überlegenheit der Sowjets in Zentraleuropa, wegen deren „Fähigkeit […] zu einer gewaltigen mechanisierten Offensive gegen die NATO“. Daher drohte diese mit dem Ersteinsatz taktischer Kernwaffen, „wenn konventionelle Verteidigung versagen würde“, um dann so lange zu eskalieren, „bis die Sowjets ihre Aggression beendeten“. Das war die NATO-Nuklearstrategie der so genannten Flexible Response.
Inzwischen hat sich das militärische Kräfteverhältnis grundlegend gewandelt, was auch den Autoren nicht verborgen geblieben ist: Sehr zutreffend konstatieren sie, dass Russlands „schwache Wirtschaft bewirkt hat, dass es militärisch weit hinter die NATO zurückgefallen ist“. Russlands Verteidigungsausgaben betragen „ein Zehntel der NATO-Ausgaben […]. Mehr noch, Russland kann bei digitaler Technologie, die derzeit der Hauptfaktor zur Erhöhung der militärischen Stärke ist, nicht mit dem Westen mithalten.“ Überdies seien „die USA Russland überlegen bei der Abwehr ballistischer Raketen, weltweiter Spionage, Überwachung und Aufklärung, im Hinblick auf schnelle konventionelle globale Schläge und Anti-Satelliten-Kapazitäten“.
Wer nun im Umkehrschluss allerdings meinte, damit dürfte sich die Abhängigkeit der NATO von taktischen Kernwaffen für den Fall eines militärischen Konfliktes mit Russland drastisch verringert haben, der wird – und das ist das eigentliche Anliegen des Beitrages – umgehend eines Besseren belehrt. Denn nun ist es gerade die ausgemachte militärische Schwäche Russlands, derentwegen die NATO (nach Anzahl und Einsatzmöglichkeiten) genügend taktische Kernwaffen in und für Europa vorhalten muss. Wegen seiner Schwäche nämlich könnte Russland versucht sein, bei einem Griff nach dem Baltikum die Drohung mit atomarem Ersteinsatz als Mittel zu benutzen, um die NATO von ernsthafter Gegenwehr abzuhalten. Mit anderen Worten, hier denen von Binnendijk und Gomper. „Warum braucht die NATO noch Kernwaffen? […] schlicht und ergreifend, um Russland vom nuklearen Ersteinsatz abzuschrecken.“
Zynisch zuspitzt: Ob stark oder schwach, völlig egal – solange die Russen einfach nur existieren, muss die NATO sie nuklear in Schach halten.
Warum aber sollten diese Russen partout dümmer sein als westliche Kenner der Materie? So hatte der damalige US-Verteidigungsminister James Mattis 2018 gewarnt: „Ich glaube nicht, dass es so etwas wie eine taktische Atomwaffe gibt. Jede zu jeder Zeit eingesetzte Atomwaffe verändert die strategische Lage.“ Seit Hiroshima und Nagasaki sind siebeneinhalb Jahrzehnte vergangen, in denen im Westen intensive militärstrategischer Debatten geführt und Hekatomben von Fachaufsätzen und Büchern – beginnend mit „The Absolute Weapon: Atomic Power and World Order“ von Bernard Brodie und anderen von 1946 – geschrieben worden sind, ohne dass zwei existenzielle Fragen je schlüssig beantwortet werden konnten:

  • Was passiert in einem kriegerischen Konflikt zwischen atomar bewaffneten Gegnern, nachdem die erste Kernwaffe gezündet worden ist? Befürchtet die nuklear geschädigte Seite zum Beispiel weitere Schläge und antwortet daher sofort massiv?
  • Wie kann ein Kernwaffenkrieg, nachdem er ausgebrochen ist, einvernehmlich beendet werden, bevor die nicht auszuschließende Eskalation von Aktion und Reaktion die Stufe der allgemeinen gegenseitigen thermonuklearen Vernichtung erreicht?

Solly Zuckermans Diktum von 1984 gilt unverändert: „Egal, was für eine Kernwaffe abgefeuert, von wo sie abgefeuert wird und auf wen sie zielt – wir sind alle, Ost wie auch West, Geiseln dessen, was als nächstes passiert.“
Als Indiz dafür, dass die Russen sich dieses Damoklesschwertes durchaus bewusst sind, könnte man beispielsweise den Sachverhalt werten, dass, worauf Pavel Lokshin kürzlich in der Welt verwies, „Russland in programmatischen Dokumenten die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen in den vergangenen Jahren […] angehoben“ hat. Als weiteres Indiz könnte gelten, dass der russische Außenminister Lawrow bei seinem Auftritt vor der UN-Vollversammlung im September den Washington bereits 2018 unterbreiteten Vorschlag erneuert hat, dass die Präsidenten beider Länder in einem gemeinsamen Statement den Atomkrieg, „in dem es weder Sieger noch Verlierer geben kann“, für unzulässig erklären sollten. Das war durch Gorbatschow und Reagan bei ihrem Gipfeltreffen in Genf im November 1985 schon einmal geschehen, ist seither allerdings nie bekräftigt worden. Heute könnte eine solche Erklärung, so meinten jedenfalls Sam Nunn, der frühere Vorsitzende des Streitkräfteausschusses im US-Senat, und Ernest Moniz jüngst in Foreign Affairs, „den Weg für wichtige praktische Schritte ebnen, wie beispielsweise eine erneute Anstrengung […] der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, die alle auch Kernwaffenstaaten sind […], um den Atomwaffensperrvertrag zu stärken und die Zusammenarbeit zu intensivieren, um zu verhindern, dass Terroristen Kernmaterial erwerben“.
Die USA haben jedoch weder 2018 noch jetzt reagiert.

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In der aktuellen Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik widmet sich Herfried Münkler der Frage „Mehr Westen oder mehr Osten wagen?“. Für ihn „die zentrale Frage der EU“, denn es stehe „eine historische Entscheidung im Raum – zwischen einer geopolitischen Ordnung, die vom Atlantik her gedacht wird, und einer, die sich wesentlich um Europa selbst dreht und in der Russland die Rolle eines strategischen Partners zufällt“.
Im Hinblick auf Moskau resümiert Münkler: „In Westeuropa, speziell in Deutschland, wird die russische Einflussnahme auf die mittel- und südosteuropäischen Staaten zumeist als ein aggressives Vorgehen Putins angesehen. In russischer Perspektive war und ist es das indes keineswegs: In dieser Sicht handelte es sich um präventive Maßnahmen Russlands gegenüber einer ihr geopolitisch immer näher rückenden Nato, die mit Hilfe von politischen Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen Einfluss zunächst auf die Meinungsbildung und Stimmungslage in der Bevölkerung und dann auf die Regierungsbildung bestimmter Länder genommen habe.“
Des Weiteren stellt Münkler die Frage, ob es nicht angezeigt sei, „Russland zu einem Bestandteil einer euro­päischen Sicherheitsordnung zu machen – wobei hinzunehmen wäre, dass die politische Ordnung Russlands auf unabsehbare Zeit nicht den politisch-liberalen Vorstellungen der Westeuropäer entsprechen wird“ – und zitiert den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der kurz nach dem sommerlichen G7-Treffen in Biarritz erklärt hatte: „Ich glaube, wir müssen eine neue Architektur des Vertrauens und der Sicherheit in Europa aufbauen, denn der europäische Kontinent wird nie stabil und in Sicherheit sein, wenn wir unsere Beziehung zu Russland nicht befrieden und klären.“ Es sei, so Macron, ein „schwerwiegender strategischer Fehler“ gewesen, Russland aus Europa „fortzustoßen“. Wenn es in Zukunft nicht gelänge, „mit Russland etwas Nützliches zu erreichen, werden wir in einer fruchtlosen Spannung verharren, werden wir weiter eingefrorene Konflikte haben und ein Europa, das der Schauplatz eines strategischen Kampfes zwischen den USA und Russland bleibt, also die Folgen des Kalten Krieges auf unserem Boden erdulden“.
Macron ist schwerlich zu widersprechen.
Das hat Angela Merkel auch nicht getan.
Zugestimmt aber hat sie leider auch nicht …
Dabei haben die USA unter Trump durch ihren „atemberaubenden Verrat an den kurdischen Kräften“, so die Diktion des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Repräsentantenhaus, des Demokraten Eliot Engel, gerade erst wieder vorgeführt, womit Verbündete Washingtons rechnen müssen, die ihre Schuldigkeit getan haben: Sie werden fallengelassen wie eine heiße Kartoffel.