22. Jahrgang | Nummer 22 | 28. Oktober 2019

Der Tucholsky-Burger

von Bettina Müller

Rheinsberg im Herbst 2019. Eines Abends sind alle Einwohner punkt 20 Uhr mühsam damit beschäftigt, die tonnenschweren Bürgersteige hochzuklappen. Dunkle Gewitterwolken lauern über dem märkischen Städtchen. Der Himmel reißt plötzlich auf, Wassermassen ergießen sich auf den Asphalt und auf die Menschen. Engelschöre jubilieren. Dann stört auch noch ein Tumult im „Ratskeller” den regengebeutelten Ort. „Aber guter Mann”, sagt der unterbezahlte Kellner verstört zu seinem Gegenüber, einem auffallend altmodisch gekleideten Herrn, „ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, an welchem Tisch Herr – wie hieß er noch? – ach ja, Tucholsky 1911 gesessen hat und warum da kein goldenes Namensschildchen zur Erinnerung steht. Wer ist denn das überhaupt?” Schnell bildet sich um die beiden Männer eine große Traube Neugieriger, die sich die erhitzte Diskussion zwischen dem Kellner und dem unzufriedenen Gast genüsslich zu Gemüte führen. Letzterer produziert daraufhin wortlos einen vergilbten Presseausweis, auf dem der Name „Kurt Tucholsky“ geschrieben steht. Daraufhin bricht das Publikum in entfesseltes Gelächter und tosenden Applaus aus. Der Kellner schüttelt verstört den Kopf und holt erst mal seinen Chef. Als der jedoch wie der geölte Blitz aus den Tiefen des Kellers gestürmt kommt, ist der rätselhafte Mann verschwunden. Allgemeine Heiterkeit, Abspann und Abendruhe. Ein Regenbogen illuminiert den „Ratskeller“.
Einen Tag später kommt es im „Café Tucholsky“ am Seeufer zur gleichen Zeit erneut zu einer Diskussion. Es ist derselbe Störenfried, der sich diesmal über den soeben von ihm nur zur Hälfte verzehrten „Tucholsky-Burger“ beschwert. Der schmecke überhaupt nicht, und was solle das überhaupt sein, ein „Böörger“? Außerdem möge er keine Gurken und habe auch niemals nie! die Erlaubnis dazu gegeben, seinen Namen für dieses komische Etwas zu verwenden, bei dessen Verzehr man fast eine Maulsperre bekomme. Darüber aufgeklärt, dass der „Burger“ eine amerikanische Erfindung sei, die man durchaus auch mit Messer und Gabel essen könne, lässt sich der Mann das Objekt, oder das was noch davon übrig ist, als Beweismaterial einpacken und versiegeln. „Ich bin Jurist, Sie werden von mir hören!“, ruft er dem ratlosen Kellner zu, der keine Ahnung hat, wie ihm geschieht. „Für diesen amerikanischen Fraß gebe ich meinen guten Namen nicht her! Ich bin Kurt Tucholsky!“ Er wedelt noch eine Weile mit der Tüte und murmelt noch etwas von „schauerlicher Bande“ und „hätte ich mir ja denken können, dass die in Amerika nicht kochen können“. Der Kellner versucht tapfer, die Wogen ein wenig zu glätten: „Guter Mann, Sie sind jetzt (grinst innerlich, behält aber souverän die Contenance, der Kunde ist schließlich König) 129 Jahre alt, da können die Geschmacksknospen schon mal ein wenig verrücktspielen. Wir haben auch noch andere Leckereien, möchten Sie vielleicht von der hausgemachten Prinz-Heinrich-Brühe mit Fleischeinlage kosten? Oder von den König-Friedrich-Semmelknödeln (XXL) in Sherrysahne?“ Er macht es aber nur noch schlimmer. Der rebellische Mann zieht schließlich mit seinem Burgerfragment von dannen. Zwei Tage später erhält das Café eine Klageschrift und muss nach kurzem Prozess Insolvenz anmelden.
Inzwischen hat die Presse Wind bekommen, dass sich jemand in Rheinsberg herumtreibt, der sich als Kurt Tucholsky ausgibt. Überall mieten sich Journalisten ein, die sich beherzt auf die Suche nach dem Phantom machen. Die einen wollen ihn im Park gesehen haben, wo er angeblich den Schlosskater Sheldon streicheln wollte, der aber sofort einen Katzenbuckel machte und fauchend die Flucht ergriff. Die anderen glauben ihn im Morgengrauen beim Joggen im Schlosspark entdeckt haben, wo er überhaupt keine gute Figur machte und die sportliche Betätigung keuchend nach 50 Metern abbrechen musste. Eine junge Frau im Ort behauptet schließlich sogar, ein ihr unbekannter Mann, auf den die Beschreibung passt, habe sie zu einem „Glas Sekt in der Bibliothek“ einladen wollen. Als sie dankend ablehnte, sei der Mann wie von Zauberhand verschwunden gewesen.
Am siebten Tag kulminiert die ganze Angelegenheit, als der angebliche Kurt Tucholsky „sein Museum“ besucht, der Mann an der Kasse sofort den Notfallknopf drückt, woraufhin alle anderen Mitarbeiter eiligst angelaufen kommen und kollektiv kollabieren, als sie den Besucher erblicken. Seitdem sind sie vernehmungsunfähig, das Museum verwaist.
Deutschland ist in Aufruhr, die Pressemeldungen überschlagen sich, sie reichen von „Rheinsberg! Eine Stadt im Wahnsinn!“ (Express) über „Paranormales Phänomen in Rheinsberg, der hat uns gerade noch gefehlt!“ (Junge Freiheit) bis zu „Er ist wieder da! Hoffnung für Deutschland!“ (neues deutschland). Aber auch die Beauty-Industrie mischt mit und will Kasse machen: „Weizenkleie: Der unterschätzte Jungbrunnen. 129-Jähriger sieht aus wie 43!“ (Lisa). Ein ARD-Brennpunkt informiert die staunende Nation schließlich über das „paranormale Phänomen“. Hellseher laufen mit Wünschelruten durch den Park, nachts treffen sich verschwörerische Mondanbeter, Hexen tanzen Polka um ein Freudenfeuer. Die Polizei wird mit Anrufen bombardiert. Alle wollen Kurt Tucholsky gesehen haben, und zwar zur gleichen Zeit, aber an verschiedenen Stellen.
Millionen Fernsehzuschauer verfolgen schließlich die Diskussionsrunden bei Anne Will und anderen üblichen Fernseh-Verdächtigen. Alexander Gauland hält die ganze Sache für „Mumpitz“, und fast kommt es vor laufender Kamera zu einer Prügelei im Studio, als daraufhin Angela Merkel murmelt: „Der ist ja noch blöder als die Dackel auf seiner Krawatte.“ Da stürzt sich Alice Weidel wutentbrannt auf Merkel, deren Bodyguards im Hintergrund schon auf ihren Einsatz lauern und ihre massigen Körper und rauchenden Colts nun begeistert einsetzen, während Anne Will im Hintergrund „Abspann! Abspann!“ kreischt. Allgemeiner Tumult, schwarzer Bildschirm, dann ein lustig blinkendes Spruchband „Entschuldigung. Es war ein bisschen laut.“
Der vermeintlich ganz große Coup gelingt einem Journalisten von der Bäckerblume. Er macht ein Foto von Kurt Tucholsky, als der gerade aus dem Geschäft von Bäcker Jahnke kommt, wo er sich ein paar große Tortenstücke zum 5-Uhr-Tee gekauft hat. Der Rheinsberger Bürgermeister beruft sofort eine Pressekonferenz ein. Fernsehkameras aus der ganzen Welt sind auf ihn gerichtet, als er der staunenden Menschheit stolz auf einer riesigen Leinwand das Sensationsfoto präsentieren will. Die Spannung ist kaum auszuhalten. Spot an. Man sieht den Bäckerladen, doch kein Mensch ist zu sehen, nur ein Paket mit Tortenstücken steht auf der Erde. Daneben liegt eine schnell dahingekritzelte Notiz auf einem Blatt Papier mit Weltbühne-Briefbogen: „Mit uns zwee hätt et können werden, et is man leider wieda nischt geworn. PS: Die Windbeutel sind zu mächtig.“ (Trauerchoral und Abspann).