22. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2019

Über die Idee, eine Mauer zu bauen

von Erhard Crome

Die DDR war eine eigene Antwort auf das Hitler-Reich. Antifaschismus und die proklamierte Lösung der sozialen Frage in ihrer realsozialistischen Gestalt sollten ihr Legitimität geben. Aufmerksame Beobachter von außen zweifelten jedoch schon früh an der Dauerhaftigkeit der deutschen Zweistaatlichkeit. So sagte der Erste Sekretär der Polnischen Staatspartei, Wladyslaw Gomulka, bereits im März 1969 zu KPdSU-Generalsekretär Leonid Breshnew, es werde letztlich „zum Verschlingen der DDR durch die BRD“ kommen, und zwar aus inneren Gründen: „Nach unserer Erkenntnis gibt es in der DDR stärkere Vereinigungstendenzen, als in der Bevölkerung der BRD. Dort spricht nur die Spitze von der Wiedervereinigung und der Bevölkerung ist es egal. Das Problem der Wiedervereinigung wird in immer schärferer Form die neue Generation in der DDR betreffen. Sie wird die Probleme lösen, aber nicht unbedingt im Geiste des Sozialismus und unserer Staatsinteressen“.
In der BRD hatten Ende der 1980er Jahre jedoch viele eine staatliche Vereinigung nicht mehr für realistisch gehalten. Der sehr kluge Autor Sebastian Haffner sah 1987 die Zweistaatlichkeit als abschließende Antwort auf die deutsche Frage an. Auch die BRD-Regierung wollte nur noch die Fassade ihrer deklarativen Politik aufrecht erhalten. So hieß es in einer geheimen Information der DDR-Staatssicherheit vom 24. November 1987 über eine interne Rede von Wolfgang Schäuble, damals Chef des Kanzleramtes von Helmut Kohl, „dass die Überwindung der Teilung Deutschlands als Bestandteil der europäischen Teilung auf absehbare Zeit nicht auf der Tagesordnung stehe. Der fortbestehende ideologische Konflikt zwischen Ost und West müsse die BRD veranlassen, ‘unverbrüchlich im Lager der Freiheit eines westlichen Europas’ zu verbleiben. Daher halte sie auch an der Präambel des Grundgesetzes fest, dass eine Lösung der deutschen Frage nur durch ‘Einheit in Freiheit’ möglich ist. Das aber sei heute und in nächster Zukunft nicht realisierbar.“
Am Ende sollte Gomulka recht behalten, es war die dritte Generation, es waren die in der DDR Aufgewachsenen, die den Ausgang des Herbstes 1989 maßgeblich bestimmten. Ohne auf eine Genehmigung der Behörden zu warten, hatten sie in der Nacht des 9. November 1989 die Berliner Mauer aufgedrückt. Erst später hieß es in offiziösen Geschichtsbüchern, das sei dem bundesdeutschen Kanzler Kohl zu verdanken gewesen.
Zu den Fehlern bei den obligatorischen Betrachtungen der DDR, die uns dreißig Jahre nach der „Wende“ wieder allenthalben umzingeln, gehört, sie von ihrem Ende her zu denken. Am Anfang stand jedoch die große Euphorie, ein neues Deutschland zu bauen, das auf den Trümmern des vom Hitler-Faschismus, seinen Verbrechen und des von ihm geführten und verlorenen Krieges errichtet wird. Beide deutsche Staaten waren Alternativen zum Nazi-Staat, die ihrerseits in Konkurrenz zueinander standen. Das entsprach der Logik der Anti-Hitler-Koalition: Die sozialistische UdSSR und die kapitalistischen USA und Großbritannien, erweitert durch Frankreich, hatten den Zweiten Weltkrieg geführt und gewonnen, waren dann aber in den Kalten Krieg gegeneinander geraten. Insofern wurden die vier Besatzungszonen in Deutschland, die nach den Treffen der drei Haupt-Siegermächte in Jalta und Potsdam 1945 eigentlich der gemeinsamen Verwaltung des besetzten Deutschlands nach seiner bedingungslosen Kapitulation dienen sollten, zu Brückenköpfen des Kalten Krieges auf deutschem Boden. Deutschland wurde zu einem der Hauptaustragungsfelder des Kalten Krieges.
Die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 war mit drei historischen Problemen belastet: Erstens war die Sowjetunion unter Stalin bestrebt, territorial die Größe Russlands wiederherzustellen und die durch Ersten Weltkrieg und Revolution verlorenen Gebiete weitestmöglich zurückzuerobern. Deshalb hatte die Sowjetunion in den Verhandlungen mit den USA und Großbritannien über die Nachkriegsordnung alles getan, um die in den Vereinbarungen mit Deutschland 1939 erreichten Gebietszuwächse zu erhalten. Das hatte zur Folge, dass Polen seine alten Ostgebiete verlor und durch ehemals deutsche Gebiete entschädigt wurde. Ergebnis war die Oder-Neiße-Grenze zwischen Polen und Deutschland, die in Potsdam 1945 zunächst als provisorische festgehalten wurde. 1950 wurde sie von der DDR als verbindlich anerkannt, 1970 beziehungsweise 1972 auch von der BRD und vom vereinigten Deutschland 1990 und 1992. Die in den östlich davon gelegenen Gebieten beheimatete Bevölkerung wurde nach Deutschland – westlich der Oder-Neiße-Grenze – ausgesiedelt. Das hatte zur Folge, dass die DDR auf das Gebiet zwischen Oder-Neiße und Elbe begrenzt war. Die früher im alten Osten Deutschlands gelegenen Kohlegruben und Stahlwerke lagen nun in Polen, während die europäisch bedeutsame westdeutsche Schwerindustrie zur BRD gehörte. Die BRD hatte bei ihrer Gründung etwa 50 Millionen Einwohner, die DDR 18,3 Millionen. Damit war das bevölkerungsmäßige und wirtschaftliche Ungleichgewicht vorgegeben.
Zweitens war die deutschlandpolitische Konzeption der Sowjetunion darauf gerichtet, eine gesamtdeutsche politische Lösung zu erreichen, das heißt nicht einen westdeutschen und einen ostdeutschen Staat zu gründen, sondern ein vereintes Deutschland, das neutral und bündnispolitisch unabhängig sein sollte. Dabei ging Stalin durchaus davon aus, dass dieses Deutschland kapitalistisch und politisch als bürgerliche Republik, wie die Weimarer Republik von 1919 bis 1933, verfasst sein sollte. Insofern war bereits mit der Schaffung der BRD 1949 auf Betreiben der USA und Großbritanniens das ursprüngliche strategische Konzept der Sowjetunion gescheitert. Die Gründung der DDR war die ungewollte Ausweichvariante, die in Moskau erst im September 1949 beschlossen wurde. Mit der Stalin-Note 1952 war nochmals der Versuch unternommen worden, zeitnah einen Friedensvertrag und ein vereintes Deutschland zu erreichen. Dafür war die Sowjetunion bereit, die „sozialistische Entwicklung“ der DDR zur Disposition zu stellen und auch die Grenzen nochmals zu verhandeln. Das wurde von westlicher Seite abgelehnt. Damit war die deutsche Zweistaatlichkeit zementiert.
Hinzu kam drittens, die UdSSR war sich jahrelang nicht schlüssig, was sie mit ihrer Besatzungszone eigentlich anfangen wollte. Zunächst war diese Grundlage für Reparationen und Demontage von Industrieanlagen. In Jalta und Potsdam hatten die Siegermächte beschlossen, dass die Reparationen vornehmlich in Sach- und Arbeitsleistungen erbracht werden sollten, aber auch in Gestalt von Demontagen. Die Forderungen der UdSSR waren mit 10 Milliarden Dollar (in Preisen von 1933) in Ansatz gebracht worden, was etwa 10 Prozent des auf ihrem Territorium durch die Deutschen angerichteten Schadens entsprach. Zugleich verpflichtete sich die Sowjetunion, 15 Prozent ihres Reparationsanteils an Polen abzutreten. Die deutschen Kommunisten hatten bereits im Februar 1946 gebeten, die Demontagen einzustellen, um den Wiederaufbau zu erleichtern. Das erfolgte nicht. Erst mit Wirkung vom 1. Januar 1954 wurde die DDR von der Sowjetunion und von Polen von weiteren Reparationszahlungen befreit. Derweil die Sowjetunion bis dahin stets entnommen hatte, hatten die USA seit 1948 mit dem Marshall-Plan Geld und Kapital nach Westdeutschland transferiert. Während also in der Propaganda die DDR den Systemwettbewerb mit der BRD führen sollte, hatten die USA ihren deutschen Staat gut darauf konditioniert, und die Sowjetunion die wirtschaftlichen Grundlagen ihres deutschen Staates bis 1953 geschwächt. Nach einer Schätzung aus dem Jahre 1989 leisteten die sowjetisch besetzte Zone und die DDR Reparationen in Höhe von 99,1 Milliarden DM (in Preisen von 1953), die BRD in Höhe von 2,1 Milliarden DM. Die Marshall-Plan-Zahlungen betrugen 1948 bis 1953 über 1,4 Milliarden US-Dollar; die Zahlungen für die zu diesem Zweck geschaffene „Kreditanstalt für Wiederaufbau“ (KfW), die als Bank der Bundesrepublik Deutschland noch heute besteht, sicherten dieser ein Startkapital in Höhe von 3,7 Milliarden DM.
Im Jahre 1961 wurde mit dem Bau der Berliner Mauer sichtbar, dass der Sozialismus in der DDR bei offenen Grenzen nicht funktionieren konnte, weiterhin waren tausende Menschen Jahr für Jahr in die BRD geflüchtet. In diesem eingemauerten Zustand blieb die DDR bis zu ihrem Ende 1989. Die Mauer, die 1961 eine Notmaßnahme war, galt nach außen fortan als Sinnbild eines Sozialismus, der nicht funktionsfähig war.
Allerdings wird die Entscheidung dazu fälschlicherweise Walter Ulbricht zugeschrieben, inzwischen in der kabarettistischen Variante der derzeitigen Staatspropaganda gern als Zitat: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“, – ha, ha. Der Historiker Siegfried Prokop hat die damaligen Entscheidungswege anhand der verfügbaren Quellen vor einiger Zeit rekonstruiert. Der inkriminierte Satz Ulbrichts ist aus dem Zusammenhang gerissen. Er stammt aus einer Pressekonferenz vom 15. Juni 1961. In den längeren Ausführungen Ulbrichts ging es um das Verhältnis der beiden deutschen Staaten und um die Lösung der mit Westberlin verbundenen Fragen. Der anhaltende Flüchtlingsstrom aus der DDR in den Westen drohte diese zu destabilisieren, was eine unkalkulierbare Situation im Zentrum Europas zur Folge gehabt hätte. Zugleich bestand der Rechtsstandpunkt der Sowjetunion und der DDR darin, dass ganz Berlin zur sowjetischen Besatzungszone gehörte und die Anwesenheit der Westmächte in Westberlin an die Tätigkeit des Alliierten Kontrollrates und die gemeinsame Verfügung über Deutschland gebunden war. Das war mit der Einführung der D-Mark auch in Westberlin und der Gründung der BRD erledigt.
Der sowjetische Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow und US-Präsident John F. Kennedy hatten sich am 3. und 4. Juni 1961 in Wien getroffen. Die Gespräche verliefen ergebnislos. Chruschtschow hatte Kennedy jedoch am Ende ein Memorandum überreicht, in dem ein Ultimatum von sechs Monaten gestellt war. Danach drohte die Sowjetunion, mit der DDR einen separaten Friedensvertrag abzuschließen. Danach sollten alle Besatzungsrechte in Berlin – also nicht nur im sowjetischen Sektor, der Hauptstadt der DDR – erlöschen. Alle Fragen der Benutzung der Verbindungswege auf dem Lande, zu Wasser und in der Luft, die über das Territorium der DDR führen, sollten nur noch auf der Grundlage von Übereinkommen mit der DDR lösbar sein.
Kennedy, der erst seit Januar 1961 im Amt war, stand in Washington unter großem politischen Druck. Im April 1961 war das „Schweinebucht“-Abenteuer in Kuba, um Fidel Castros Revolutionsregierung zu stürzen, grandios gescheitert. Am 12. April 1961 war mit Juri Gagarin der erste Mensch ins All geflogen, was die USA als strategische Niederlage im Konkurrenzkampf mit der UdSSR ansahen. Deshalb wurde Kennedy Schwäche vorgeworfen. Hier also musste er sich als harter Bursche erweisen. Nach dem ergebnislosen Treffen in Wien hatten die USA daher der Sowjetunion angedroht, im Falle einer Luftsperre zum Zwecke der Erzwingung der Kontrolle der Zugangswege nach Westberlin den Abwurf einer Atombombe auf einen sowjetischen Truppenübungsplatz in der DDR vorzusehen. Ende Juli 1961 hatte sich Chruschtschow mit Kennedys Sonderbotschafter John J. McCloy auf der Krim getroffen. Über dieses Treffen gibt es bis heute keine Mitteilungen. Aus US-amerikanischer Sicht gab es jedoch nur noch drei Essentials: die Anwesenheit der Westmächte in Westberlin, das ungestörte Zugangsrecht und die eigenständigen Rechte der Westberliner.
Nachdem so die Luftkontrolle zur Grenzschließung ausfiel, blieb nur noch die Landkontrolle, also der Mauerbau, um den Flüchtlingsstrom zu beenden. Als Ulbricht am 15. Juni 1961 erklärte, er habe nicht die Absicht, eine Mauer zu bauen, hatte er die Luftkontrolle im Sinn, er wollte keine Mauer bauen. Auf der Beratung der Staats- und Regierungschefs des Warschauer Vertrages vom 3. bis 5. August 1961 in Moskau überraschte Chruschtschow auch Ulbricht im Plenum des Treffens mit der Mitteilung, Ulbricht habe darum gebeten, um Westberlin eine Mauer zu errichten. Wieder zu Hause, erzählte Ulbricht Gerald Götting, damals Vorsitzender der DDR-CDU und stellvertretender Vorsitzender des Staatsrates, er sei „wie vom Donner gerührt gewesen. Einen solchen Vorschlag hatte er nie gemacht. Er habe allerdings schlecht in dieser Runde aufstehen und Chruschtschow widersprechen oder gar dementieren können.“ Am Ende war der 13. August 1961 ein historischer Kompromiss zwischen den USA und der Sowjetunion. Beide wollten nicht wegen Berlin, wegen der Deutschen in einen großen Konflikt geraten.