von Günter Hayn
Linke erklären die AfD gern zur Nazi-Partei. Abgesehen davon, dass dieselben Polit-Argumentierer vor wenigen Jahren noch konsequent gegen jeden NS-Vergleich zu Felde zogen – von wegen der „Singularität des Dritten Reiches“ und dergleichen –, ist diese Behauptung Unsinn. Ja, die AfD hat einen stark rechtslastigen „Flügel“ mit nicht zu ignorierenden auch personellen Schnittmengen zum Rechtsextremismus. Ja, die AfD bedient mit wachsender Intensität eine in Deutschland West wie Ost nie völlig verschwundene völkische und rassistische Grundsuppe. Seit vielen Jahren weisen Sozialforscher darauf hin, dass der Anteil der Deutschen, die antisemitische Vorurteile zumindest in Ansätzen hegen, bei gut einem Viertel liege. Dennoch ist die AfD nicht die Nachfolgerin der NSDAP. Auch wenn das manchen lieber wäre, dann wäre das Draufhauen leichter.
Aber man sollte die Partei nicht verharmlosen: weder von ihrer Programmatik noch von ihrem Personal und erst recht nicht von ihrem tatsächlichen Einfluss her. Bei den jeweils letzten Landtagswahlen kam sie in folgenden Bundesländern über die 10-Prozent-Marke (Angaben in Prozent, in Klammern der Platz im Parteienranking): Baden-Württemberg 15,1 (3), Bayern 10,4 (4), Berlin 14,5 (5), Brandenburg 23,5 (2), Hessen 13,1 (4), Mecklenburg-Vorpommern 20,8 (2), Rheinland-Pfalz 12,6 (3), Sachsen 27,5 (2), Sachsen-Anhalt 24,2 (2). In Thüringen wird sie wahrscheinlich am 27. Oktober mindestens 20 Prozent erreichen und zweit- oder drittstärkste Kraft im Landtag werden.
Was sagt das aus? Erstens ist die AfD inzwischen bundesweit zu einer nicht mehr zu ignorierenden Kraft geworden – im Osten auf erschreckende Weise stärker als im Westen. Aber das darf zweitens nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie keine reine Ost-Partei ist. Auch wenn dies das vorgegebene Interpretationsmuster in diversen Redaktionsnetzwerken zu sein scheint: Die Ostdeutschen seien eh demokratieresistent und ihre Prägungen aus zwei Diktaturen in Folge so stark, dass da offenbar Hopfen und Malz verloren ist.
Neuerdings wird gelegentlich ein zweites Erklärungsmuster beschworen, mit welchem dem armen Kurt Tucholsky postum das Schwert der Satire aus der Hand geschlagen wird: die Römer … Erinnern wir uns seiner „Ratschläge für einen schlechten Redner“ (1930): „Fang immer bei den alten Römern an und gib stets, wovon du auch sprichst, die geschichtlichen Hintergründe der Sache.“ In dieser Zeitschrift wurde jüngst vom „kelto-germanisch-römischen Westen“ im Gegensatz zum „germanisch-slawischen Osten“ schwadroniert. Der Autor bezog sich auf den vortrefflichen Geschichtsanalysierer Stefan Wolle, dem angesichts der jüngsten Wahlergebnisse die „Elbe-Saale-Grenze“ der Ottonen einfiel. Deshalb sei der Osten halt ein wenig anders. Uff! Jetzt schmeiße ich meinen „Putzger“ (das ist der in Ost wie West gängige Geschichtsatlas) in die Tonne. Große Teile Sachsen-Anhalts und Thüringens liegen auf seinen Karten nämlich westlich der „Elbe-Saale-Grenze“ …
Und Niedersachsen und Schleswig-Holstein sind in ihrer Geschichte auch nicht unbedingt nachhaltig keltisch und nur sehr wenig von römischer Urbanisierung geprägt worden. Hingegen kommen sie ähnlich protestantisch daher wie Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern. Diese historischen Verrenkungen erinnern argumentativ an Friedrich Ludwig Jahns „Deutsches Volkstum“ (1810) – ähnliche Schriften aus dem 20. Jahrhundert verkneife ich mir. Sie erklären nichts, aber auch gar nichts. Sie verweisen allenfalls auf die Hilflosigkeit und die Gelahrtheit der sich an ihnen Abarbeitenden, mit den zugegeben komplizierten deutschen und europäischen Realien im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts umgehen zu können.
Bemerkenswerter – weil von den Folgen her gefährlicher – sind andere Reaktionen. Noch am Wahlabend des 1. September kam nach dem ersten Wundenlecken der Verliererparteien – das waren hauptsächlich SPD, CDU und DIE LINKE – erst leiser und am Folgetag nachdrücklicher Siegesfanfaren: Der 1. September 2019 sei ein Sieg der Demokratie geworden! Gut 75 Prozent aller Wählerinnen und Wähler hätten sich nämlich für diese und gegen die AfD entschieden. Mit Verlaub: Dümmer gehts nimmer. Quasi postum wird hier eine Art Volksfront konstruiert, die es vor den Wahlen mitnichten gab. Auch nach den Wahlen gibt es sie nicht: Das Spiel, wer mit wem absolut nicht könne oder wolle, wird bei den aktuellen Versuchen einer Regierungsbildung in Dresden und Potsdam nach den alten Regeln gespielt.
Diese politische Milchmädchenrechnerei lenkt natürlich wunderbar von anderen Zahlen ab, nämlich den eigenen Verlusten (Brandenburg/Sachsen in Prozentpunkten): SPD -5,7/-4,7; CDU -7,4/-7,3; DIE LINKE -7,9/-8,5. In Sachsen nähert sich die SPD deutlich der 5-Prozent-Hürde (7,7 Prozent), bei der jüngsten INSA-Umfrage in Thüringen rutscht sie mit neun Prozent erstmals unter die 10-Prozent-Marke. Dort landete sie am 14. Oktober 2018 auch in Bayern. In Sachsen-Anhalt hatte die Partei 2016 mit Mühe und Not noch 10,6 Prozent erreicht. Bundesweit dümpelt die SPD um den 15-Prozent-Wert herum und liefert sich ein verzweifeltes Ringen mit der AfD um den dritten Platz der Wählergunst in Deutschland. Das sozialdemokratische Jahrhundert scheint dem Ende entgegenzugehen. Diese Zahlen hinderten die vermeintlichen „Sieger“ nicht, von einem klaren Regierungsauftrag zu schwätzen, der ihnen erteilt worden wäre. Wenn sie denn wenigstens einräumen würden, dass sie (noch einmal?) mit einem blauen Auge davongekommen sind! Das Gegenteil ist der Fall: Man wurstelt mit dem alten Personal und den alten Sprüchen weiter. Es läuft sowohl in Dresden als auch in Potsdam auf Dreierkoalitionen hinaus. Deren Koalitionsverträge werden allesamt den Charme eines „Resterampen-Kataloges“ haben: jedem mindestens ein Lieblingsprojekt ohne dabei den anderen zu sehr weh zu tun … Der Berliner rot-grün-rote Senat taugt wenig als Gegenbeweis. Dessen Überlebensversicherung ist eine seit Jahren am Boden hin siechende Hauptstadt-CDU.
Ich bin gespannt, wie es die neue Potsdamer Regierung mit der Lausitz hält. Rot-Rot hatte sich immerhin durchringen können, wenigstens ein Ministerium nach Cottbus verlegen zu wollen. Es ging um das für die Region hoch bedeutsame Kultur- und Wissenschaftsministerium. Die Idee eines eigenen „Lausitzministeriums“ hingegen kam vom CDU-Chef Ingo Senftleben. Den schickte seine Partei jetzt in die Wüste. Dafür beschloss der brandenburgische LINKE-Vorstand, in die Koalitionsverhandlungen gehen zu wollen. Schon vergessen? 2004 erzielte die Partei 28,0 Prozent, 2009 27,2 Prozent, 2014 erfolgte der erste Absturz auf 18,6 Prozent, 2019 die erwähnten 10,7 Prozent. Deutlicher lässt sich ein Niedergang nicht aufzeigen. Die Konsequenzen? Die Wahlverlierer bilden den Fraktionsvorstand, und tief im Herzen fühlt man einen Regierungsauftrag. Das ist Wirklichkeitsverweigerung par excellence.
Auf Bundesebene bewegt sich DIE LINKE derzeit zwischen sieben und acht Prozent – und pflegt auch hier den Traum vom Kabinettstisch. Natürlich spielte das sächsisch-brandenburgische Debakel eine Rolle in den Debatten ihrer Chef-Etagen. Es kann aber Entwarnung gegeben werden. Von da kommt nichts Neues. Die einen sagen, Wagenknecht sei schuld. Die anderen schieben es auf die „Bartschisten“. Die Parteivorsitzenden üben sich wie gehabt in Hilflosigkeit und sitzen aus.
Glaubt man den Göttern der Meinungsmacher, kann es so weiter gehen wie immer. Am 6. September gab der Geschäftsführer des Forsa-Institutes, Manfred Güllner, in der Berliner Zeitung eine Stellungnahme ab, die kaum noch zu toppen ist. Er stellte fest, dass die AfD auch in Brandenburg keine „Volkspartei“ sei, da von „allen Wahlberechtigten nur eine Minderheit von 14 Prozent die AfD gewählt habe“. 39 Prozent hätten gar nicht gewählt, und 47 Prozent eine andere Partei. Lassen wir beiseite, dass auch Güllner nicht so genau weiß, wie die ominösen 39 Prozent „ticken“ – er sollte eigentlich wissen, dass die für die AfD abgegebenen 23,5 Prozent der Stimmen im Landtag und notfalls bei einer Regierungsbildung zählen und nicht die heruntergerechneten 14! Ich ziehe nun doch die NS-Vergleichskarte: Bei den Reichstagswahlen am 6. November 1932 stimmten 33,1 Prozent der Wähler für die NSDAP, 54 Prozent für die anderen Parteien. Die Wahlbeteiligung lag damals bei 80,6 Prozent. Es stand also nur gut ein Viertel aller Deutschen hinter den Nazis. Und jetzt holen wir einmal ganz tief Luft …
Ach so, die Forschungsgruppe Wahlen hatte ermittelt, dass 70 Prozent der AfD-Wähler in Sachsen sich mit den Zielen dieser Partei identifizieren. Extrem hohe Zustimmungswerte verzeichnet sie bei Wählern im berufstätigen Alter – und 40 Prozent aller Arbeiter wählten sie. Hier müssen bei den anderen Parteien alle Alarmglocken schrillen. Nicht nur in Sachsen.
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